„Wenn eine Sprache stirbt, stirbt auch eine Kultur“

Der autoritären Assimilationspolitik des türkischen Staates ist es gelungen, in einigen kurdischen Siedlungsgebieten die kurdische Sprache zurückzudrängen. Schon seit Republiksgründung verfolgt die Türkei konsequent das Ziel, alles Kurdische auszurotten.

Seit Republiksgründung verfolgt die Türkei eine konsequente Politik der Ausrottung der kurdischen Sprache. Nach der Verfassung von 1924 sollte aus dem Vielvölkerstaat Türkei ein homogener türkischer Nationalstaat erzwungen werden. Ziel der systematischen Assimilationspolitik, die de facto mit einer physischen Vernichtung gleichzusetzen ist und durch eine verstärkte Politik der militärischen Unterdrückung auch heute vorangetrieben wird, war es, dass sich Staatsangehörige, die einer anderen Nationalität oder Ethnie angehörten, dem Türkentum sowohl kulturell als auch sprachlich unterordnen sollten. Außer dem Türkentum sollte keine einzige ethnische Gemeinschaft Rechte beanspruchen, vor allem nicht die Kurdinnen und Kurden. Das war das politische Prinzip, nach dem die Republik im Sinne der kemalistischen Idee des Nationalismus in der kurdischen Frage vorging. Die Existenz einer kurdischen Sprache und Kultur wurde verleumdet.  

Im Zuge zahlreicher Umsiedlungsmaßnahmen mit Deportationen von Kurd*innen und Neuansiedlungen von Türk*innen verloren viele Kurden ihre Heimat. Der Gebrauch ihrer Muttersprache wurde ihnen verboten. Eigen-, Dorf- und Städtenamen der kurdischen Bevölkerung wurden im Rahmen der Türkifizierung umbenannt. Die türkische Regierung verbot Buchstaben, die im Türkischen nicht vorkommen, wie beispielsweise das q, x oder w. Muttersprachlicher Kurdischunterricht an Schulen ist laut der türkischen Verfassung ohnehin verboten.

Autoritäre Assimilationspolitik beeinträchtigt Sprachkompetenz

Doch die kemalistische Staatsideologie gilt auch nach den politischen Veränderungen der letzten Jahre noch fort. Das Sprachverbot wurde zwar 1992 offiziell aufgehoben, hat aber nicht zu bedeuten, dass Kurdisch-sprechende Menschen sich nicht mehr strafbar machen. In der Öffentlichkeit und im institutionellen Gebrauch - insbesondere in der Schule - bleibt die kurdische Sprache weiterhin sanktioniert. So gibt es für die etwa 25 Millionen Kurd*innen in der Türkei zum Beispiel noch immer keine einzige staatliche kurdische Schule. Bis ins Jahr 2002 waren kurdisch-sprachige Fernseh- und Rundfunksendungen nicht gestattet. Durch diese sprachliche Assimilation verloren viele Kurd*innen ihre Muttersprache und somit einen wesentlichen Teil ihrer Identität. Dem türkischen Staat gelang es, innerhalb weniger Jahrzehnte die kurdische Sprache zurückzudrängen. Vor allem in den westlichen Siedlungsgebieten der Kurd*innen wie in Gurgum (türkisch: Maraş) und Dersim ist es der autoritären Assimilationspolitik der Türkei gelungen, die Sprachkompetenz bei großen Teilen der kurdischen Bevölkerung massiv zu beeinträchtigen.

„Unsere Sprache ist unsere Existenz“

Wann ist eine Sprache vom Aussterben bedroht? Laut UNESCO sind die Sprecherzahl sowie die Art und Qualität der Dokumentation ausschlaggebend. Ein weiteres Kriterium: Die Sprecher müssen ihre eigene Sprache wertschätzen. Relevant ist außerdem, in welchen Lebensbereichen die Sprache benutzt wird: Familie, Freizeit, Internet, Schule, Arbeit, Medien. Ein ganz klares Zeichen für eine Gefährdung ist, wenn die Eltern ihre Sprache nicht mehr mit den Kindern sprechen. Nach Schätzung der UNESCO werden weltweit rund 6000 Sprachen gesprochen. 2500 davon sieht die Organisation in ihrem Bestehen bedroht. Der interaktive UNESCO-Weltatlas der bedrohten Sprachen listet diese Sprachen nach Region und Bedrohungsgrad auf.

In Dersim und den Provinzen Ezirgan (Erzincan), Çewlîg (Bingöl) und Mûş (Muş) wird neben Kurmancî, dem am weitesten verbreiteten Dialekt des Kurdischen, auch die Varietät des Kirmanckî gesprochen, die auch Zazakî, Dimilkî oder Kirdkî genannt wird. Diese Varietät, die von einigen Linguist*innen nicht als kurdischer Dialekt, sondern als eigene Sprache betrachtet wird, deren Sprecher*innen sich aber zu großen Teilen als Kurd*innen identifizieren, war besonders starkem Assimilationsdruck ausgesetzt und wird heute nur noch von etwa zwei Millionen Menschen gesprochen. Nach Einschätzung der UNESCO gehört Kirmanckî damit zur Gruppe der massiv vom Aussterben bedrohten Sprachen.

Diskriminierung des Kurdischen hat neuen Höhepunkt erreicht

Die im nordkurdischen Amed (Diyarbakir) ansässige Vereinigung für die Erforschung der Sprachen und Kulturen in Mesopotamien (MED-DER) setzt sich für die Pflege und Wiederaneignung der kurdischen Sprache, Literatur und Kultur ein. Wir haben mit dem Linguisten Xidir Karataş über die aktuelle Situation der kurdischen Sprache gesprochen. Er sagt, dass die Diskriminierung des Kurdischen noch lange kein Ende hat, sondern mit dem türkischen Nationalismus, der von der faschistischen und ultranationalistischen AKP/MHP-Regierung unter Staatspräsident Erdoğan mit neuer Intensität weitergeführt wird, einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

„Als mit Notstandsdekreten sämtliche kurdische Stadtverwaltungen vom Erdoğan-Regime abgesetzt und an ihrer Stelle Zwangsverwalter installiert wurden, machten sich diese sofort an die Demontage von allem, was mit der kurdischen Sprache und Kultur zu tun hatte. Bildungseinrichtungen wurden geschlossen und kurdische Hinweisschilder entfernt. Unter dem Namen der vermeintlichen Energiepolitik wurde Kurdistan regelrecht geplündert. Die antike Kulturstätte Heskîf (Hasankeyf) mit ihrer 12.000-jährigen Geschichte verschwindet unter Wasser. Und auch in Cizîr (Cizre) und Sûr sind etliche historische Werke während der Militärbelagerung 2015-2016 zerstört worden. Die Zerstörungspolitik, mit der wir es in Kurdistan zu tun haben, bezieht sich auf die Vernichtung seiner Sprachen. Denn wenn eine Sprache stirbt, stirbt auch eine Kultur“, mahnt Karataş.

Kirmanckî muss gerettet werden

Neben Sprachkursen, die MED-DER unter anderem anbietet, seien dem Verein intensive Pflege und Dokumentation des Wortschatzes in (frauen-)wissenschaftlicher und kulturell-organisierter Form die wichtigsten Anliegen. Aber um ihre Muttersprache vor dem Vergessen zu retten, müsste sich die Gesellschaft gegen die Assimilationspolitik der Türkei erheben. „Wir haben Schwierigkeiten, Sprache zu unterrichten. Der Grund hängt sowohl mit dem Mangel an Möglichkeiten als auch mit der restriktiven Sprachenpolitik nach dem Motto ‚eine Sprache, eine Religion, eine Nation‘ zusammen. In Kurdistan wird seit Jahren ein Kampf um Sprache ausgetragen. Die Regierung will jedoch die Entwicklung der kurdischen Sprache mit Repression und Verboten ein Ende setzen.“ Das Kurdische stehe unter einem enormen Assimilationsdruck. Vor allem Kirmanckî drohe zu verschwinden.

„Der Staat nutzt alle Mittel, um Kurdisch aus dem Leben zu verdrängen. Jede Gesellschaft hat aber das Recht auf Bildung in seiner Muttersprache und ihre Entwicklung. Als MED-DER setzen wir uns dafür ein, die kurdische Sprache zu schützen. Unser Ziel ist es, dass Kurdisch in allen Bereichen des Lebens genutzt wird. Dafür arbeiten wir Tag und Nacht“, sagt Xidir Karataş.

Innerkurdische Einheit eine Notwendigkeit für Spracherhalt

MED-DER bietet neben Sprachkursen in Kurmancî und Kirmanckî demnächst auch Soranî-Unterricht an. Der Dialekt Soranî, auch Zentral- oder Südkurdisch genannt, wird vor allem von Kurd*innen aus Başûr (Südkurdistan/Nordirak) und Rojhilat (Ostkurdistan/Iran) gesprochen. „Sprache drückt die Nationszugehörigkeit und Identität der Menschen aus. Deshalb muss ein starker Kampf um ihren Erhalt geführt werden. Wir wollen, dass sich die kurdischen Dialekte entwickeln. Die neue Generation muss ein Bewusstsein für die Bedeutung des Kulturgutes Sprache entwickeln. Nur mit dem Gebrauch der Muttersprache kann die Assimilation des Kurdischen vereitelt werden. Alle Kurdinnen und Kurden sind der Pflicht, ihre sprachliche und kulturelle Tradition gegenüber der Vernichtung zu verteidigen.“

Karataş unterstreicht, dass die Anerkennung der kurdischen Identität an die Anerkennung der kurdischen Sprache geknüpft ist. Die Verleumdung stehe außerdem einer flexiblen Lösung der kurdischen Frage im Weg. „Die Existenz der kurdischen Sprache wird nach wie vor geleugnet, obwohl sie in der Türkei eigentlich Amtssprache sein müsste. Gegen diese Übergriffe muss das kurdische Volk endlich eine Einheit bilden. Die Kurdinnen und Kurden befinden sich aktuell in einer wichtigen und kritischen Phase. Eine innerkurdische Einheit ist dringend notwendig für den Spracherhalt. Es geht schließlich um unsere Sprache und unser Dasein.“

Alle Sprachen Kurdistans schützen

Aber nicht nur die kurdische Sprache sei gefährdet durch die Assimilationspolitik des türkischen Staates. Die Türkei habe auch den Armenier*innen, Suryoye und Araber*innen ihre Identität abgesprochen, sie diffamiert und unterdrückt. „Als MED-DER setzten wir uns natürlich auch für den Erhalt der Sprachen unserer Nachbarn ein. Denn es ist genauso wichtig, neben der Kurdischen auch ihre Sprachen und Identität zu verteidigen.“