2021 hat die Türkei mindestens 367 Mal Chemiewaffen gegen die kurdische Freiheitsbewegung und die Bevölkerung in Südkurdistan eingesetzt. Die Großoffensive der türkischen Armee und ihre Kriegsverbrechen wurden weltweit von Kurd:innen und ihren Freund:innen durch Aktionen, Petitionen, Recherchen, Protest und Widerstand in die Öffentlichkeit getragen. Insbesondere der Einsatz von geächteten Kampfmitteln wurde in europäischen Staaten unüberhörbar thematisiert.
In der zweiten Jahreshälfte versammelten sich immer wieder Menschen zum Protest vor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), den Vereinten Nationen und der NATO. Durch öffentlichkeitswirksame Aktionen wie etwa das Tragen von weißen Schutzanzügen und Gasmasken versuchten sie sich Gehör zu schaffen. In Anlehnung an „Chemie-Ali“, den Verantwortlichen des Giftgasangriffs auf die südkurdische Stadt Helebce, wurde der türkische Staatschef als „Chemie-Erdoğan“ tituliert.
Die OPCW ist wiederholt dazu aufgefordert worden, eine Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze des türkischen Staates einzuleiten und Fachleute nach Kurdistan zu entsenden. Parallel zur stetig stärker werdenden Eskalation der Angriffe mit chemischen Kampfstoffen nahmen im November auch die Proteste vor dem OPCW-Hauptquartier in Den Haag zu. Die erste Großdemonstration vor der Organisation fand am 3. November statt.
Am 4. Dezember ging die Polizei dort gewalttätig gegen eine Aktion des zivilen Ungehorsams vor. Etwa 50 Aktivist:innen war es kurzzeitig gelungen, ins Gebäude der OPCW einzudringen. Die Sicherheitskräfte reagierten mit einem Gewaltexzess und prügelten vier Beteiligte ins Krankenhaus, weitere 44 wurden festgenommen. Nach fünf Tagen im Gewahrsam wurden 40 von ihnen aus den Niederlanden abgeschoben, während vier Aktivisten in Untersuchungshaft genommen wurden. Sie sollen bis zu ihrem Verfahren im Februar in Haft bleiben.
„Das Schweigen der Welt hat den Einsatz von Chemiewaffen gefördert“
Das türkische Militär hat den Einsatz chemischer Waffen, deren Benutzung im Normalfall nach internationalem Recht schwere Sanktionen nach sich ziehen würde, im Laufe des Jahres immer weiter ausgeweitet. Demgegenüber führte die kurdische Seite neben Protesten auch intensive diplomatische Aktivitäten durch, um die internationale Gemeinschaft zum Handeln zu bewegen.
Ende September versandte das KCK-Komitee für auswärtige Beziehungen Briefe an die Vertretungen mehrerer Staaten in Hewlêr, darunter an die der USA, Deutschland, Frankreich, Kanada, Großbritannien, Niederlande und Russland, darüber hinaus an die EU-Vertretung, den UN-Generalsekretär António Guterres, die Arabische Liga und politische Parteien in der Region. Die Adressat:innen der Briefe über die vom türkischen Staat begangenen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen wurden aufgefordert, ihr Schweigen zu brechen, um die Führung in Ankara daran zu hindern, weiter verbotene Waffen einzusetzen und die Invasion in Südkurdistan fortzuführen.
Die KCK wandte sich in diesem Rahmen explizit an die UN und erinnerte daran, dass der Einsatz von chemischen Waffen gegen die Standards, Normen und Verträge der OPCW verstößt. In dem Schreiben wurde die Doppelmoral der internationalen Institutionen kritisiert. Die KCK stellte fest, dass das Schweigen internationaler Organisationen, insbesondere der Vereinten Nationen, die Türkei zum Einsatz von Chemiewaffen gegen die HPG und die Zivilbevölkerung in Südkurdistan ermutigt habe und erklärte: „Chemische Waffen wurden während der Besatzungsangriffe in den letzten fünf Monaten systematisch gegen die Kriegstunnel der Guerilla und in Dutzenden von Dörfern in der Nähe der Widerstandsregionen eingesetzt. Leider müssen wir zu dem Schluss kommen, dass das Schweigen der Staaten und der UN auf ihre Komplizenschaft mit der Türkei zurückzuführen ist. Aus diesem Grund wurden viele Verbrechen, die von der Türkei bisher begangen wurden, ignoriert und es wurden keine Maßnahmen dagegen ergriffen. Obwohl die AKP/MHP-Regierung zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen wie Chemiewaffenangriffe begangen hat, gilt sie weiterhin als legitime Ansprechpartnerin eines normalen, demokratischen Landes.“
Unterdessen äußerte der HPG-Kommandant Dr. Bager Baran am 1. November gegenüber ANF, dass der türkische Staat verschiedene Arten chemischer Waffen gegen die Guerilla einsetze, diese aber nicht über die notwendige Ausrüstung zur Identifizierung der Kampfstoffe verfüge. Baran beschrieb die Spuren von chemischen Waffen an den Körpern von Gefallenen und erklärte: „Diese Chemiewaffen stellen nicht nur für die Guerilla, sondern für alle Lebewesen ein großes Risiko dar. Die verwendeten Gase verursachen Sauerstoffmangel und führen zu Erstickungen bei Lebewesen.“ Die zuständigen Institutionen forderte der Guerillakommandant zu unabhängigen Untersuchungen auf.
Kurdische und irakische Intellektuelle appellieren an die UN
In diesen Tagen veröffentlichten 109 Akademikerinnen und Akademiker, Abgeordnete und Medienschaffende aus dem Irak und Südkurdistan einen Appell an die verantwortlichen Organisationen für die Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze. Der Aufruf richtete sich an den UN-Generalsekretär António Guterres, das UN-Büro für Abrüstung und das Exekutivkomitee der OPCW und befasste sich inhaltlich mit den seit Jahren andauernden Besatzungsoffensiven der Türkei: „Unfähig, die Verteidigungslinien der Guerilla zu durchbrechen, setzt die türkische Armee willkürlich chemische Waffen ein und trifft dabei sowohl die Guerilla als auch die Zivilbevölkerung.“
Etwa eine Woche danach starteten 44 weitere Intellektuelle aus dem Irak eine ähnliche Initiative. Sie wiesen das UN-Büro für Abrüstungsangelegenheiten und das OPCW-Exekutivkomitee auf ernstzunehmende Belege massiver Chemiewaffeneinsätze in Südkurdistan hin und forderten deren umgehendes Ende. Es hieß, der türkische Staat begehe ähnliche Verbrechen wie einst Saddam Hussein.
Prominente Frauen appellieren an OPCW
In einem offenen Brief an den OPCW-Generaldirektor Fernando Arias forderten Frauenorganisationen und international bekannte Frauen aus Politik, Medien und Literatur in den letzten Oktobertagen ein entschlossenes Handeln gegen die Türkei und Untersuchungen der Chemiewaffenangriffe in Südkurdistan. Der Appell wurde auf Initiative des in Silêmanî ansässigen Frauenbüros REPAK (Navenda Pêwendiyan a Jinên Kurd) verfasst. Zu den Erstunterzeichnerinnen gehörten unter anderem Silvia Federici, Nancy Fraser und Sylvia Marcos.
François Alfonsi und Nikolaj Villumsen, Ko-Vorsitzende der Kurdischen Freundschaftsgruppe im Europa-Parlament, kurdische Institutionen in Europa, die Internationale Vereinigung der Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) und die französische Friedensbewegung (Le Mouvement de la Paix), appellierten sowohl an die UN als auch die OPCW.
Deutschland springt der Türkei bei
Bereits in den ersten Tagen der Invasion des türkischen Staates in Zap, Avaşîn und Metîna erklärte die Bundesregierung, dass man nicht über ausreichende Informationen verfüge, um festzustellen, ob die Türkei das Völkerrecht verletzt oder nicht. Damit unterstützte Deutschland Erdoğans offenkundig völkerrechtswidrige Invasion und Kriegspolitik. Folgerichtig schwieg die Bundesregierung auch zum Einsatz chemischer Waffen durch den türkischen Staat und verwies in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion sogar darauf, dass die Türkei ja Teil des Kontrollmechanismus der OPCW sei.
Im Gegensatz zu Deutschland bezog die schwedische Regierung klar Haltung. Auf eine Frage der dortigen Linkspartei nach den türkischen Invasionsangriffen und dem Einsatz chemischer Waffen erläuterte die schwedische Außenministerin Ann Linde die Position ihres Landes folgendermaßen: „Die Militäroperationen der Türkei im Nordirak beeinträchtigen die zivile Sicherheit und Stabilität in der Region. Die Regeln der Differenzierung, der Verhältnismäßigkeit und der Umsicht sind zu beachten. Der Einsatz chemischer Waffen ist völkerrechtlich verboten. Für Schweden ist dies von wesentlicher Bedeutung und etwas, das wir im internationalen Kontext, einschließlich der EU und der Vereinten Nationen, immer wieder hervorgehoben haben.“
Neben den Parlamenten von Schweden und Deutschland wurden auch in den Parlamenten Italiens und der Schweiz die Chemiewaffeneinsätze des türkischen Staates zur Sprache gebracht. Der italienische Abgeordnete Erasmo Palazotto wies in einer parlamentarischen Initiative darauf hin, dass der türkische Staat mit dem Einsatz chemischer Waffen das Völkerrecht systematisch verletze. In der Schweiz reichten die Abgeordneten Fabian Molina und Claudia Friedl von der Sozialistischen Partei einen Antrag zum Einsatz chemischer Waffen durch den türkischen Staat ein.
Die OPCW schweigt zur Türkei, geht jedoch gegen Syrien vor
Trotz der Aufrufe, Briefe und Unterschriftenaktionen der kurdischen und demokratischen Öffentlichkeit entschied die OPCW das ganze Jahre über, sich in Schweigen zu den Chemiewaffeneinsätzen der Türkei zu hüllen. Offensichtlich wurde hier mit zweierlei Maß gemessen. Die OPCW setzte am 21. April 2021 die Rechte Syriens innerhalb der Organisation durch eine Eil-Entscheidung wegen des Einsatzes chemischer Waffen aus. Der von Ländern wie Frankreich, Großbritannien und den USA unterstützte Antrag wurde auf einer Sitzung der Mitgliedstaaten der OPCW zur Abstimmung gestellt. 87 Länder stimmten für den Antrag und 15 dagegen, während sich 34 enthielten.
Syrien wurde für chemische Waffeneinsätze in den Jahren 2017 bis 2018 von der OPCW sanktioniert. Der türkische Staat, der innerhalb eines Jahres 367 Mal Chemiewaffen einsetzte, wurde bisher jedoch nicht einmal verwarnt.
Angesichts der Aufrufe von Nichtregierungsorganisationen, Parlamentsmitgliedern, Intellektuellen und Kuntschaffenden, einschließlich der kurdischen Seite, im Laufe des Jahres 2021 eine Untersuchung des Einsatzes chemischer Waffen einzuleiten, kann die OPCW nicht für sich in Anspruch nehmen, nichts zu wissen. Ihre politisch motivierte Ignoranz wird ohne Zweifel ein schwarzer Fleck in der Geschichte der OPCW sein.