Von der Liebe und dem Wirbelwind
„Der Dezember ist ein Monat der Verluste. Es ist auch ein Monat der Kälte, der Dunkelheit, ein Monat des Innehaltens“, schreibt Monika Ertl, eine Weggefährtin von Evîn Goyî und Bager Nûjiyan.
„Der Dezember ist ein Monat der Verluste. Es ist auch ein Monat der Kälte, der Dunkelheit, ein Monat des Innehaltens“, schreibt Monika Ertl, eine Weggefährtin von Evîn Goyî und Bager Nûjiyan.
Es war im Dezember, als zwei wunderschöne Seelen von uns gerissen wurden, beide Militante desselben Kampfes, beide Lebenskünstler:innen – künstlerisch in ihrem Umgang mit dem Leben selbst und allen, die ihnen darin begegneten. Beide erprobte Seiltänzer:innen eines Lebens gewidmet der Wahrheitssuche und erfüllt von Freiheitsliebe. Beide einte ihre Hingabe, eine vollkommene Hingabe für das eigene Ziel.
Im Kurdischen wird gesagt, es sind Menschen, die wie ein Schüssel im Schloss mit ihrem Ziel vereint sind. Sie werden in ihrem gesamten Denken, Tun, Sprechen, Reflektieren, Handeln zur Revolution selbst. Sie sind voll endloser Kraft und Antrieb, sich immer weiter zu bilden, zu schulen, zu lernen, zu fragen, zu forschen, zu diskutieren, zu erschaffen, zu verändern, zu formen, zu entfalten, zu geben, zu nehmen, zu streben, zu hinterlassen. Keine Frage, die ihnen gestellt wird, ist unsinnig. Kein Mensch, der ihnen begegnet bedeutungslos. Keine Situation unwichtig, kein Geschehen sinnlos. Es sind diese Menschen, die tiefgründig sehen, die voll und ganz leben; dich betrachten als das, was du bist. Die dir begegnen als das, was sie sind. Es sind diese Menschen, die keine Täuschung kennen, die voller Liebe zum Menschen und zum gemeinsamen Leben sind.
Es liegen Generationen zwischen ihnen, Evîn – die Liebe – begab sich 1988 in den lebenslangen Kampf in den Reihen der Guerillakräfte, Bager – der Wirbelwind – kam in dem selben Jahr zur Welt. Und doch fanden sie sich auf dem selben Pfad wieder. Beide begannen die Werte der Menschlichkeit zu verkörpern, für die der Kampf, die Militanten und die Bewegung der PKK stehen. Evîn, eine Tochter Botans, dem uralten und lebendigen Herz Mesopotamiens, und Bager, ein Sohn der DDR, aufgewachsen in Ostdeutschland – wer ihre Persönlichkeiten, ihr Leben und Wirken kennenlernt, lernt den Charakter der kommenden Revolution kennen. Die kommende Revolution, mit deren Wiegenliedern die Kinder Kurdistans schon lange aufwachsen, und deren Rhythmen heute bis in die Wälder der verlorenen Kinder des Westens erklingen.
Es sind die Charaktere solcher Menschen, die wir uns immer an unsere Seite wünschen. Diese Gefährt:innen, die wir immer nach Rat fragen. Diese Freund:innen, die Unerahntes bereits erforscht und tiefgründige Gedanken und Pläne bereits geschmiedet haben. Es sind jene, die eine unerschütterliche Ruhe in sich tragen, eine Gewissheit und Klarheit. Es sind Wesen der Treue, der Geduld und der Wärme. Es sind solche, die ihr Herz, ihre Seele und ihre Wünsche offen vor sich tragen und mit uns teilen. Es sind dieselben, die nicht ohne Schutz sind, die ihren Feind bis ins kleinste Detail studiert haben und jeder Situation gewappnet sind. Sie sind keinesfalls naiv. Sie sind jederzeit bereit, mit allen Mitteln ihre Wahrheit, ihr lebendiges Herz und das geschaffene Leben zu verteidigen. Ihre Gewissheit ruht in ihren erworbenen Fähigkeiten und ihrem unermüdlichen Fleiß. Sie sind eines Glaubens eigen, der uns, ihre Gefährt:innen, wachsen lässt. Wer ehrlich und guter Absichten ist, kann mit solchen Freund:innen an der Seite grenzenlos wachsen. Dabei müssen wir vielleicht annehmen, dass sie einer Größe eigen sind, die wir selbst nie erreichen werden. Woher sie ihre Kraft nehmen, bleibt uns manchmal unergründlich.
Die Liebe und der Wirbelwind, Evîn und Bager, beide sind Kinder dieser uralten Revolution, des Aufstandes der Menschlichkeit. Kinder einer Geschichte, die immerzu nach neuen Schöpfern sucht. An jedem Ort der Erde hat dieser Kampf ein eigenes Gesicht. Es gilt, sich zu erkennen und über alle Grenzen hinweg Gefährt:innen zu werden. Den gemeinsamen Kampf und seine Schwierigkeiten anerkennen, wo auch immer wir uns befinden. Uns zuhören und verstehen lernen. Die menschenverachtenden Geschichten und Beschreibungen der Staaten abzulegen und in unserem gerechten Kampf zusammenzufinden. Das ist der internationalistische Geist, den die Liebe und der Wirbelwind in sich tragen.
Evîn war Kommandantin der ersten internationalistischen Kämpfer:innen, die in den 1990er Jahren in die Berge Kurdistans kamen. Sie lernte von ihnen und lehrte sie, und begann mit einer Sprache zu reden, die keine Worte benötigte. Wem auch immer sie mit reinem Herzen begegnete, sie führte stundenlange tiefe Gespräche, allein mit der Sprache der Herzen.
Bager war einer der ungezählten Internationalist:innen, die in den letzten Jahrzehnten die Berge Kurdistans die Heimat ihrer Herzen nannten und sich an dieser Front des antifaschistischen Kampfes gegen Kolonialismus und Barbarei beteiligten. Auch er verstand die Sprache dieser Revolution außerordentlich gut. Nicht nur die Sprache der Musik, der Ethik und der Freundschaft, sondern er verstand besser als viele die ureigene Chemie dieser Revolution.
Was ist die Chemie dieser Revolution? Woher stammt die „magische Formel Jin Jiyan Azadî“, die heute durch die Welt geistert? Was wird in Deutschland nur geflüstert?
Unser Freund Bager hinterließ uns ein Schriftstück, verfasst in den Monaten vor seiner Ermordung. Wovon er in „Internationalismus und die Frage der revolutionären Führung“ spricht, ist eben genau das, weshalb tausende Kilometer entfernt ein bezahlter Beamter vor seinem Bildschirm sitzt, die Drohne steuert und auf Guerillakämpfer zielt. Die Waffen der NATO in den Bergen Kurdistans zielen auf ein Denken, einen Geist, eine starke Befreiungsideologie. Dieser Funke der Revolution im Nahen und Mittleren Osten wurde vor 50 Jahren entfacht durch einen Sohn dieser Erde, Abdullah Öcalan, der in seiner Heimat liebevoll und anerkennend Rêber Apo genannt wird. Die letzten 25 Jahre verbrachte dieser Revolutionär hinter Gefängnismauern, wo er sich seitdem in einem unerschütterlichen Widerstand gegen Folter und Isolation befindet. Eben dort, in diesem Knast, wurde die Formel „Jin Jiyan Azadî“ das erste Mal auf Papier gebracht, mit ihr ein Gesellschaftssystem und eine Ethik. Das macht Rêber Apo zu einem der radikalsten antikapitalistischen Kämpfer unserer Zeit und ist der Grund für eine grenzenlose Repression, deren Augenzeug:innen wir sind, gegen diese Bewegung, die unermüdlich und stolz seinen Namen trägt.
Der Wirbelwind war zweifellos einer seiner fleißigsten Schüler. Die Liebe war eine seiner mutigsten Kämpferinnen. Ihr Denken und ihre Tat sind der Stoff, aus dem diese Revolution geschaffen ist. Es sind Weggefährt:innen wie sie, die die andere Welt bereits erschaffen haben. Sie zeigen uns, wie Träume Wirklichkeit werden, wie alte Dogmen aufgebrochen werden und dass wir selbst und unsere Beziehungen miteinander Geschehen der Revolution sind.
Wir erschaffen dadurch, dass wir werden. Evîn und Bager, ihr seid die Liebe und der Wirbelwind unserer Revolution. Euer Geist ist unsere Gewissheit, dass wir in unserem Kampf erfolgreich sein werden. Tod dem Faschismus! Es lebe die Zärtlichkeit der Völker! Bijî Rêber Apo!