Nachdem bei einem Luftangriff auf die Region Dêrelûk in Südkurdistan vier Zivilist*innen getötet wurden, stürmte die Bevölkerung der Region Şîladizê am Samstag eine türkische Militärbasis. Die Protestierenden forderten den Abzug der türkischen Armee aus Südkurdistan und setzten Militärfahrzeuge und die Militärbasis Sire in Brand. Zwei türkische Soldaten wurden von der Bevölkerung gefangen genommen und schließlich den Peschmerga übergeben.
Türkische Kampfflugzeuge kreisten, um die Bevölkerung einzuschüchtern, im Tiefflug über Şîladizê, Dêrelûk und Zap und warfen Bomben ab. Türkische Soldaten eröffneten das Feuer auf Menschen, die gegen die Angriffe protestierten, und töteten zwei Personen, den 13-jährigen Hussain Rekani und einen Familienvater. Ein älterer Mann erlitt unter den Bombardierungen und den Tiefflügen einen Herzinfarkt und verstarb. Nach diesen Ereignissen traf sich der türkische Außenminister Çavuşoğlu mit dem südkurdischen PDK-Ministerpräsidenten Neçirvan Barzanî. Barzanî kündigte eine Untersuchung der Ereignisse in Duhok an. Er meinte damit aber nicht die Ermordung von Zivilist*innen, sondern sagte: „Es gibt das Recht zu protestieren, ohne den Frieden zu stören. Wir akzeptieren jedoch nicht, dass Proteste entgleisen und Gewalt angewendet wird. Es werden notwendige Maßnahmen ergriffen, um den Vorfall zu untersuchen und sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen“. Er stellte sich gestern anschließend nochmal explizit auf die Seite des türkischen Staates, indem er erklärte: „Es ist die Anwesenheit der PKK, die für den Tod von Zivilisten verantwortlich ist.” Warum dann zivile Ziele bombardiert wurden, ließ er im Dunkeln. Angesichts der Haltung des irakischen Außenministeriums, das gestern den türkischen Botschafter wegen der Luftangriffe einbestellte, erscheint Barzanîs Haltung nur logisch im Lichte der Geschichte der engen Kollaboration der PDK mit dem AKP-Regime in Ankara.
Doch zunächst ein Blick in die Geschichte türkischer Militärpräsenz in Südkurdistan: Ab 1991 wurden die ersten türkischen Geheimdiensteinheiten in der Region offiziell stationiert, ab 1997 wurden dann Dutzende Militärbasen errichtet. Der türkische Staat griff seitdem immer wieder die südkurdische Zivilbevölkerung an. Aufgrund der seit 25 Jahren andauernden Angriffe des türkischen Staates haben bis heute Hunderte Zivilist*innen ihr Leben verloren, viele mehr noch wurden verletzt. Die Wut der Bevölkerung über die in Kollaboration mit der Barzanî-Partei PDK errichteten türkischen Militärbasen wächst jeden Tag mehr. Als ANF wollen wir uns mit diesem Artikel auf die Ziele der Militär- und Geheimdiensteinrichtungen des türkischen Staates in Südkurdistan fokussieren.
Zuerst kamen die Geheimdiensteinrichtungen
Der türkische Staat hat nach seiner „grenzüberschreitenden Operation“ gegen die südkurdische Medya-Verteidigungsgebiete im Jahr 1991 seine Geheimdienstcamps auf der Linie Hewlêr-Duhok und Zaxo mit der Zeit in Militärbasen umgewandelt und dort Tausende Soldaten und Panzerfahrzeuge stationiert. Mit der Kollaboration der PDK versuchte der türkische Staat durch Camps, die entlang der Grenze eingerichtet worden waren, die Medya-Verteidigungsgebiete abzuriegeln und die Region unter seine Kontrolle zu bekommen.
Die türkischen Militärstützpunkte in der Region
Der türkische Staat errichtete in den Gebieten, welche unter der Kontrolle der PDK stehen, in Behdînan, an der Grenze bei Duhok und Zaxo wie auch bei Hewlêr Geheimdienstcamps, die mit der „grenzüberschreitenden“ Operation „Vorschlaghammer“ im Jahr 1997 zu Militärbasen umgestaltet wurden.
Aktuell gibt es in Bamernê, Şîladizê, Batîfa, Kanîmasî, Kiribî, Sinekê, Siri, Kubkê, Kumri, Koxê Spî, Serê Zêr, Geliyê Zaxo und Amêdî türkische Militärbasen. Außerdem gibt es in Hewlêr, Duhok, Zaxo und Amêdî Büros des türkischen Geheimdienstes MIT. Nach 2014 wurden auch in Başika, Soran und Kalaçolan große Militärbasen errichtet. Bei Hewlêr wurde der ehemalige Flughafen im Gebiet Harir in eine solche Basis umgewandelt. In der Region Zûmar wurde ein Camp errichtet, um verschiedene Gruppen zu trainieren.
Geheimdienstliche Tätigkeiten
Der türkische Staat legt in Südkurdistan einen Schwerpunkt auf Geheimdienstarbeit. Der MIT arbeitet dabei sehr eng mit dem Geheimdienst der PDK, Parastin, zusammen. Einige der mit Hilfe der Türkei eingerichteten PDK-nahen Medieneinrichtungen versuchen die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen und sammeln Informationen. In diesen Medienorganen sind MIT-Agenten direkt angestellt.
Die Geheimdienstzentren des türkischen Staates liegen vor allem in den von der PDK am stärksten kontrollierten Gebieten in Hewlêr, Duhok und Zaxo. Aber auch die Gebiete der YNK wurden nicht vernachlässigt. In den von der YNK kontrollierten Städten Silêmanî, Halabdscha und in Germiyan gibt es verschiedene Institutionen des MIT, von Agenten bis hin zu „Privatfirmen“, hinter denen sich der türkische Geheimdienst befindet.
In Kerkûk und anderen Orten, in denen Turkmen*innen leben, wird die vom MIT geschaffene Irakische Turkmenenfront (ITC) und ihr Anführer Erşad Salihi als Mittel des türkischen Geheimdienstes benutzt. Eine andere Waffe des türkischen Staates in Südkurdistan stellt die wachsende Zahl türkischer Unternehmen dar. Den Bausektor eingeschlossen sind über 1350 türkische Firmen in Südkurdistan aktiv. Manche dieser Firmen sind einfach nur Deckunternehmen für den türkischen Geheimdienst und arbeiten direkt für den MIT.
Die strategische Positionierung der Camps
Die Militärlager beginnen in Südkurdistan am Grenzfluss Habur und ziehen sich entlang der Grenze bis in die Soran-Region. Von Soran geht es dann nach Norden an der türkisch-iranisch-irakischen Grenze mit dem Sîdêka-Camp weiter. Dieses Camp zielt darauf ab, die Gebiete Xinerê, Xakurkê und Kelaşîn anzugreifen. Am südlichen Ende des von der PDK kontrollierten Soran-Gebiets ist ebenfalls im Umfeld der Städte Diyana und Çoman türkisches Militär stationiert. Diese Kräfte zielen auf eine Invasion in den Qendîl-Bergen ab. In der von der YNK kontrollierten Region Raperin im Süden von Qendîl ist kein türkischer Agent mehr geblieben, nachdem die USA türkische Soldaten mit Säcken über den Kopf haben festnehmen lassen.
Die Militärbasen und ihre Ziele
Nach dem Habur-Grenzübergang erreicht man im Osten türkische Camps in Batîfa, Bamernê, Amêdî, Dêrelûk und Şîladizê. Genau heißt das:
* Das Ziel der Camps in Batîfa, Bamernê und Amêdî ist, die Regionen direkt im Norden, Heftanîn und Metîna unter Kontrolle zu bekommen und diese für einen möglichen Angriff auf die Region zu benutzen. Mit Hilfe des Camps in Kanîmasî, direkt bei Bamernê, soll die Heftanîn-Region bedroht werden.
* Die Camps in Amêdî, Dêrelûk und Şîladizê liegen direkt im Osten von Heftanîn und Metîna und sollen das Zap- und Zagros-Gebiet kontrollieren.
* 2008 versuchte das türkische Militär mit seiner gescheiterten Zap-Operation die Region Çemçê zu besetzen, um einen dauerhaften Korridor zwischen die Gebiete Zap und Zagros zu treiben. Die Armee musste sich nach dem Verlust von über hundert Soldaten erfolglos zurückziehen.
* Es wird versucht, die Bergkette Heftanîn-Metîna-Zap-Zagros durch direkt an von Norden und Süden heran gebaute Straßen zu stürmen. Weiter wird versucht, mit der Dêrelûk-Basis, die Verbindung von Zap in die südlicher gelegene Region Garê abzuschneiden.
* Entlang der Grenze von Metîna nach Nordkurdistan liegen viele Militärbasen wie Deştan (Üzümlü), Karataş, Sor-Gipfel, Mehmetçik-Gipfel, Kanîmasî und drei dazugehörige Gipfel, Aşûtê (Çığlı), Zavite, Köprülü, Serbesta, Aroşe und Elemine (Andaç) mit mehreren dazugehörigen besetzten Gipfeln.
* Entlang der Zap-Linie liegt die 49. Grenzdivision, die Çukurça-Division, Girê, Şikêr, Sivritepe, Serê Sêvê (Işıklar), das Çayırlı-Artillerieregiment, Bilican, Xantepe, Ertruş und die Gipfel Kale, Koordine, Elîşêr und viele weitere Stützpunkte und besetzte Gipfel.
* Wenn man von Dêrelûk in Südkurdistan nach Südosten geht, kommt man zu den Stützpunkten Barzan, Mêrgesor und Soran.
* Wenn man sich von der Soran-Region nach Norden bewegt, dann erreicht man über Deşta Hêl Sideka. Die Stützpunkte dort richten sich gegen die Regionen Xinerê, Xakurkê und Kelaşîn. An der Linie Xinerê, Xakurkê und Kelaşîn treffen sich die Grenzen von Iran, Irak und Türkei.
* Wenn man sich von der Soran-Region nach Süden bewegt, befinden sich entlang der iranischen Grenze die Regionen Diyana, Çoman, Ranya, Sengeser und Qeladizê. Die Stützpunkte in Sengeser, Ranya und Qeladizê richten sich in erster Linie gegen Qendîl, wo die Guerillaführung vermutet wird.
* Im Norden der Regionen Xinerê und Xakûrkê befinden sich die Cilo-Region und die nordkurdische Provinz Colemêrg (Hakkari). In Cilo befinden sich die Militärbasen von Oramar und Şitazin; an der Grenze von Avaşîn der Stützpunkt Bêsosin, bei Herkî die Militärbasen Girê Nereze, Bezele (Aktütün) und Rûbarok, in Xakûrkê Stützpunkte wie Xapiskê, Haruna, Konserve.
„Grenzüberschreitendes“ Fiasko
Der türkische Staat führt seit 1983 „grenzüberschreitende“ Operationen gegen die PKK durch. Allen diesen Operationen wurden glänzende Titel gegeben, aber keine von ihnen hat die erhofften Ziele erreicht. Wir erinnern uns:
1983: Der türkische Putschistenführer Kenan Evren unterzeichnet mit Bagdad ein Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Grenzsicherheit. Am 25. Mai rücken 7.000 Soldaten zur Operation aus.
1984: Nach dem Beginn der bewaffneten Aktionen der PKK in Nordkurdistan findet im Oktober 1984 die zweite grenzüberschreitende Operation statt. Sie erzielte keinerlei Erfolg.
1986: Die dritte Operation beginnt am 12. August 1986. Es werden Camps von PKK und PDK angegriffen. Bei den Angriffen sterben viele Zivilist*innen und Peschmerga.
1991 soll die „grenzüberschreitende“ Operation „Besen“ beginnen, es bleibt beim Namen. Im gleichen Jahr im Oktober werden mit Unterstützung der PDK und der YNK zwei weitere Operationen durchgeführt. Nach diesen Operationen werden in Südkurdistan türkische Geheimdienstbasen eingerichtet.
1992: Als der türkische Präsident Turgut Özal nach schweren Verlusten des Militärs Öcalan signalisierte, er solle „die Intensität des Krieges reduzieren“, verfolgte das Militär andere Ziele. Im Mai begann die achte „grenzüberschreitende“ Operation, diesmal mit dem Namen „Infiltration“. Die Operation war erfolglos. Eine weitere Operation folgte, als das türkische Militär am 12. Oktober mit 15.000 Soldaten, mit Panzern, Artillerie und Mörsern, wie auch Hubschraubern und Kampfflugzeugen angreift. Sie konnten gegenüber der Guerilla gerade mal 20 Tage standhalten.
1993–1994: Die Operationen am 10. Juni 1993 und am 28. Januar 1994 erlitten ein ähnliches Schicksal. Am 6. Februar 1994 wurde dann versucht, die Regionen Mezrê und Kariyêderî einzunehmen, aber auch dieser Versuch endete in einer Niederlage. Ein weiter Versuch mit gleichem Ausgang folgte.
1995: Das türkische Militär begann im Jahr 1995 nach großen Vorbereitungen einen gewagten Angriff. Es handelte sich um die größte grenzüberschreitende Operation seit der Invasion auf Zypern. Die am 20. März beginnende Operation erhielt den klangvollen Namen „Stahl“. Die Operation wurde von 13 Generälen kommandiert und umfasste 35.000 Soldaten, die gegen Heftanîn ziehen sollten. Diese von der PDK unterstützte Operation konnte nur 45 Tage andauern.
1996: Es folgen zwei weitere Operationen. Am 6. März gegen Sineht, Heftanîn und Kelareş. Die Operation mit dem Namen „Geschlagene Ohrfeige“ nahm vor allem Zivilist*innen ins Visier. Auch im Dezember begann das türkische Militär gemeinsam mit der PDK erneut eine Operation in Südkurdistan.
1997: Das türkische Militär hatte über die vergangenen Jahre militärisch, technisch und personell aufgerüstet. Die erste Operation im Jahr begann am 14. Mai unter dem Namen „Vorschlaghammer“ mit 50.000 Soldaten. Nachdem zwei Militärhubschrauber abgeschossen wurden und der Kommandostab von der Guerilla getötet worden war, endete die Operation. Der türkische Staat konnte mit der Operation „Vorschlaghammer“ nicht die erwünschten Resultate erzielen, also rückte er im September mit 100 Panzern und 10.000 Soldaten erneut in Südkurdistan ein. Die von der PDK unterstützte Operation mit dem Namen „Hammer“ teilte das Schicksal von „Vorschlaghammer“. Im Rahmen dieser Operation wurden allerdings insbesondere die in Zaxo errichteten Geheimdienstbasen mit türkischen Panzern, Artillerie und schweren Waffen ausgestattet und in militärische Hauptquartiere umgewandelt. Insbesondere in Batîfa, Kanîmasî, Bamernê und Şîladizê wurden sehr viele Soldaten stationiert.
1998: In diesem Jahr kündete die türkische Armee ein weiteres Mal die Vernichtung der PKK an. Diesmal rückten 40.000 Soldaten in der Operation „Willen“ aus, aber das, was sie wollten, bekamen sie nicht.
1999: In diesem Jahr fand die 24. „grenzüberschreitende“ Operation statt. Diesmal hatte diese den interessanten Namen „Sandwich“. Die Operation war wieder ein Fiasko.
2000: Am 4. Mai 2000 griff das türkische Militär gemeinsam mit der PDK Heftanîn an und musste sich nach vier Tagen zurückziehen.
2007: Am 25. März begann die 26. grenzüberschreitende Operation. Sie scheitert ebenso wie der darauffolgende Versuch im Dezember.
2008: Generalstabschef Büykanıt startet am 21. Februar 2008 mit großer Propaganda die Operation „Sonne“ und zielt auf die Zap-Region. Dort trifft er auf erbitterten Widerstand. Über einhundert Soldaten sterben und ein Hubschrauber wird abgeschossen. Die türkische Armee flieht am 29. Februar Hals über Kopf aus der Region.