Am Sonntag finden in Nordkurdistan und der Türkei Kommunalwahlen statt. Der Wahlkampf des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gleicht in seiner Rhetorik einem Überlebenskrieg. Je näher der 31. März rückt, desto aggressiver wird der Despot vom Bosporus. Seine Wahlveranstaltungen kommen einer Mobilmachung von Streitkräften gleich. Neben Forderungen nach Einführung der Todesstrafe nutzt der AKP-Chef sogar die Terroranschläge auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch in seinen Wahlkampfreden zu Angriffen gegen den „islamfeindlichen Westen“. Auch verpixelte Ausschnitte aus den Aufnahmen des Attentäters von der Tat hatte Erdoğan gezeigt, während es in aller Welt Versuche gab, das Gewaltvideo aus dem Internet zu entfernen.
Der kurdischen Opposition droht er währenddessen immer wieder an, erneut staatliche Zwangsverwalter einzusetzen, sollten gewählte Bürgermeister*innen die Ressourcen ihrer Städte nutzen, um den „Terrorismus“ zu unterstützen. Seit September 2016 wurden bereits drei Kommunalverwaltungen von Großstädten, zehn von Provinzhauptstädten, 63 von Kreisstädten und 22 von Gemeinden, d.h. insgesamt 95 Stadtverwaltungen, in denen die HDP-Mitgliedspartei Demokratische Partei der Regionen (DBP) die Ko-Bürgermeister*innen stellte, abgesetzt und durch Staatsbeamte ersetzt.
‚In den kurdischen Regionen die Zwangsverwalter und im Westen die AKP stürzen‘
Die Doppelstrategie der HDP - ‚In den kurdischen Regionen die Zwangsverwalter und im Westen die AKP stürzen‘, raubt Erdoğan offenbar seine letzten Nerven. Es müssen aber auch Bilder wie die aus Sûr, dem historischen Altstadtviertel der nordkurdischen Provinzhauptstadt Amed (Diyarbakir) sein, die Erdoğan aus der Fassung bringen.
In Sûr traf sich gestern Sezai Temelli, Ko-Vorsitzender der HDP, im Rahmen seiner Wahltour mit Bewohner*innen des historischen Altstadtviertels, das während der türkischen Militärbelagerung 2015-2016 fast vollkommen zerstört wurde. Mit kräftigem Applaus empfingen die Menschen den Politiker und luden ihn in eines der Kaffeehäuser zum Tee ein. Frauen, Männer, Alte und Kinder gesellten sich ebenfalls in das Café, um über ihre Anliegen zu sprechen. Die Älteren forderten ein Trauerhaus, die Kinder ein Schwimmbad für Sûr. Außerdem müsse viel mehr in Bildung investiert werden, so viele Eltern. Andere beklagten sich darüber, dass es in dem Viertel nicht genügend Spielplätze für die Kinder gebe. Das größte Problem stelle jedoch die hohe Arbeitslosigkeit dar. Aber auch, dass das historische Gefüge der Altstadt stark gefährdet sei.
„Ihr werdet einen Haufen Trümmer übernehmen”
„Sûr ist sich einig; am Sonntag werden die Zwangsverwalter zurück nach Ankara geschickt”, sind sich die Bewohner*innen sicher. Ein Kaffeehaus-Mitarbeiter fasste allerdings in Worte, was viele der Anwesenden nicht ansprechen wollten: „Ihr als HDP und DBP werdet einen Haufen Trümmer übernehmen. Die Bezirke und die Stadtverwaltung sind hochverschuldet. Es wird ein einziges Durcheinander sein”.
Nach dem Treffen zog Sezai Temelli in Begleitung von HDP-Abgeordneten und Bürgermeister-Kandidat*innen weiter auf die Einkaufsstraße Meikahmet und besuchte die Gewerbetreibenden des Viertels. Bei Gesprächen mit den Händlern bat Temelli um deren Teilnahme an der finalen Wahlkampfveranstaltung, die heute auf dem zentralen Istasyon-Platz stattfinden wird.