In Nordkurdistan herrscht gegenwärtig so gut wie kein demokratisch legitimierten Bürgermeister oder Bürgermeisterin. Die 2014 gewählten Ko-Bürgermeister*innen wurden von der Zentralregierung in Ankara per Dekret abgesetzt und durch sogenannte Treuhänder ersetzt. Seither herrschen die Zwangsverwalter in den kurdischen Provinzen. Und diese agieren nicht nur wie Kolonialbeamte, sondern betreiben AKP-Wahlkampf, plündern die Kommunalverwaltungen, treiben die Assimilationspolitik voran und stecken bis zum Hals in Korruption. Nach der Ernennung der Zwangsverwalter wurden zunächst einmal die Immobilien der Kommunalverwaltungen auf Auktionen weit unter Wert an Klienten der AKP verkauft. Innerhalb von zwei Jahren waren die Kommunalverwaltungen überschuldet. Die Zwangsverwalter versuchten möglichst viel eigenen Profit aus dem kommunalen Besitz herauszuschlagen. Die Berichte des Rechnungshofs belegen dies in aller Deutlichkeit.
Doch wie kam es eigentlich zu den Zwangsverwaltungen?
Der Ausgangspunkt war der ausgerufene Ausnahmezustand nach dem ominösen Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016. Auf dieser Grundlage konnte der türkische Staatspräsident Erdoğan weitgehend alleine über das Land herrschen. Mit dem von ihm erlassenen Notstandsdekret 674 war er schließlich auch befähigt, Treuhänder für die Kommunalverwaltungen zu ernennen. Von diesem Recht machte er bis auf wenige Ausnahmefälle vor allem in Nordkurdistan Gebrauch.
Die Gouverneure wurden zur Beschlagnahme aller beweglichen Güter einer Kommunalverwaltung und zur Entlassung ihrer Angestellten ermächtigt. Auf dieses Dekret gestützt wurden die gewählten Verwaltungen der HDP-Mitgliedspartei DBP ab dem 11. September 2016 abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Drei Kommunalverwaltungen von Großstädten, zehn von Provinzhauptstädten, 63 von Kreisstädten und 22 von Gemeinden, d.h. insgesamt 95 Stadtverwaltungen, in denen die Demokratische Partei der Regionen (DBP) die Ko-Bürgermeister*innen stellte, wurden abgesetzt und durch Staatsbeamte ersetzt. Parallel dazu wurden in Kurdistan fast 15.000 kurdische Beamte und Arbeiter*innen, die im öffentlichen Dienst oder bei der Kommune angestellt waren, und fast dreihundert Dorfschützer entlassen. Die Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die HDP-Abgeordneten Selma Irmak, Idris Baluken, Gülser Yıldırım, Sabahat Tuncel, Ferhat Encü, Abdullah Zeydan, Çağlar Demirel, Sırrı Süreyya Önder, 93 Ko-Bürgermeister*innen, hunderte Stadtrats- oder Provinzratsmitglieder und tausende Menschen aus dem Provinz- und Kreisvorstand der Partei und ihre Mitarbeiter*innen wurden inhaftiert. Die Zwangsverwalter vergeudeten keine Zeit und begannen sofort, eine systematische Assimilationspolitik ins Werk zu setzen.
Staatsbeamte wurden ernannt
Die Ernennung der Zwangsverwalter war Teil einer ideologischen Offensive im Rahmen der Bemühungen, die kurdische lokale Selbstverwaltung zum Instrument des Staates zu machen. Während also in den Städten der Türkei, in denen es vereinzelt auch zu Absetzungen von Bürgermeister*innen kam, diese durch gewählte Stadtratsmitglieder ersetzt wurden, sind in Nordkurdistan an Stelle der abgesetzten Ko-Bürgermeister*innen Gouverneure und Landräte, also die lokalen Vertreter des türkischen Staates ernannt worden. Die AKP versuchte dieses Vorgehen durch Behauptungen wie, dass die DBP-Kommunalverwaltungen keine Dienstleistungen anböten und das Geld zur Guerilla schickten, zu legitimieren.
Der Staat hat seine Lüge selbst zugegeben
All dies ist schwarz auf weiß in staatlichen Dokumenten zu finden. Der Rechnungshof dokumentierte genau wofür in den Kommunalverwaltungen das Geld von 1999 bis zur Ernennung der Zwangsverwalter ausgegeben worden ist. Die Inspektoren des Rechnungshofs waren permanent in den kurdischen Verwaltungen präsent, so dass ihnen eigene Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt wurden. Während es also in anderen Kommunen nur zu stichprobenartigen Kontrollen durch den Rechnungshof kommt, waren die Inspektoren in den DBP-Verwaltungen Dauergäste. Sie suchten mit allen Mitteln nach einem legitimen Grund, die gewählten Ko-Bürgermeister*innen absetzen zu können. Die Ergebnisse all dieser Untersuchungen lassen sich in den Berichten des Rechnungshofs nachlesen. Darin ist nicht eine Lira dokumentiert, die unklar, jenseits des Auftrags der Stadtverwaltungen ausgegeben worden ist. Darüber hinaus haben die DBP-Verwaltungen gar das Angebot an Dienstleistungen massiv erweitert und die vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stehenden Kommunen saniert, die Schulden bezahlt und auch noch die Kassen mit zusätzlichen Mitteln gefüllt.
Die ohne legitime Grundlage eingesetzten Zwangsverwalter hingegen haben die Immobilien der Kommunen zu Niedrigstpreisen an das Klientel der AKP verschleudert und die Kommunalverwaltungen innerhalb von nur zwei Jahren einem Sumpf aus Schulden getrieben. Die Treuhänder stehen nicht im Wettbewerb um die besten Dienstleistungen, sondern um ihren eigenen Vorteil, auch das machen die Berichte des Rechnungshofes deutlich.
Assimilation und Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses
Die Treuhänder setzten nach ihrer Ernennung sofort eine verschärfte Assimilationspolitik durch und bemühten sich um die Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses der Region. Sie zeigten sich offen als Besatzungsmacht, als sie mit großem Polizeiaufgebot in die Kommunalverwaltungen einmarschierten und als erstes die mehrsprachigen Tafeln herunterrissen. Sie haben die Rathäuser in Polizeistützpunkte verwandelt und viele für kurdische Geschichte bedeutsame historische Werte und Orte des kulturellen Gedächtnisses angegriffen. Das „Regime der Treuhänder“ stellt eine Fortsetzung der Vernichtungs-, Verleugnungs- und Assimilationspolitik der Vergangenheit dar. Die Zwangsverwalter erhielten Befugnisse, welche die von Verantwortlichen von Kommunalverwaltungen bei Weitem überstiegen und setzten ihre Ziele systematisch und geplant um. Sie sind die eigentlichen Vollstrecker des Kolonialregimes.
Rathäuser wurden zu Orten von Gewalt und Repression
Die Politik der Treuhänder verwandelte die Rathäuser nicht nur zu Symbolen des Raubs des politischen Willens der Bevölkerung, sondern auch zu Zentren von Gewalt und Repression. Die Rathäuser isolierten sich von der als Bedrohung empfundenen Bevölkerung, Dienstleistungen der Verwaltungen wurden hinter Sandsäcken, Mauern und Stacheldraht verschlossen. Seit zwei Jahren müssen die Bürger*innen, selbst um die einfachste Information aus dem Rathaus zu erhalten, Kontrollen, Durchsuchungen und Schikane über sich ergehen lassen. Auf den Höfen der Stadtverwaltungen stehen nun Panzer und Wasserwerfer, vor den Türen der Rathäuser stehen Spezialeinheiten mit Sturmgewehren.
Nicht nur die Lebenden sind Opfer dieses Zwangsverwalterregimes
Das System der Zwangsverwaltungen hat demokratische Institutionen wie den Stadtrat und seine Mitglieder vollkommen kaltgestellt. Die gewählten Vertreter*innen im Kommunalrat können keine Sitzungen abhalten. Rätestrukturen wie die Stadtteilräte wurden politisch komplett ausgeschaltet und alle Entscheidungen, welche die Kommune betreffen, werden von einer engen Clique um den Zwangsverwalter gefällt.
Seitdem die Treuhänder in Nordkurdistan die Macht haben, sind keine öffentlichen Bestattungszeremonien mehr gestattet. Selbst Friedhöfe werden verwüstet. Die Begräbnisse von Gefallenen der kurdischen Freiheitsbewegung werden in Nacht- und Nebelaktionen durchgeführt und es dürfen nur die engsten Angehörigen an ihnen teilnehmen. Zeremonien und Trauerfeiern werden systematisch behindert. In der Gerichtsmedizin bleiben die Leichname oft lange Zeit liegen. Willkürlich werden die Familienangehörigen zu DNA-Tests zitiert. Diese Tests dauern oft Monate und in der Zwischenzeit werden die Gefallenen in Gräbern für Unbekannte verscharrt. Es sind also nicht nur die Lebenden der Gewalt ausgesetzt, auch die kurdischen Toten werden angegriffen.
Der üble Umgang mit kurdischen Leichen stellt einen deutlichen Ausdruck des Angriffs auf ihr gesellschaftliches Gedächtnis dar. Dass auch heute noch die Orte, an denen historische kurdische Widerstandsführer wie Şêx Seîd, Seyîd Riza und Saidê Kurdî begraben wurden, unbekannt sind, zeigt die Tradition dieser Politik. Im Kontext dieser Politik stehen auch die immer wieder auftretenden Verstümmelungen von Leichnamen gefallener Guerillakämpfer*innen. Jedes Grab, jeder Friedhof stellt einen Baustein im Gedächtnis der Gesellschaft dar. Die Zerstörung von Friedhöfen und das Ausgraben der Toten ist ein Bruch in eben diesem Gedächtnis.
Wir können hier durchaus von einer Nekropolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurd*innen sprechen, die durch die Zwangsverwalter vollzogen wird. Zu dieser Praxis gehört auch, dass den Angehörigen von Gefallenen die Nutzung städtischer Leichenwagen verweigert wird und die Imame der staatlichen Religionsbehörde Diyanet sich weigern, die Leichname rituell zu waschen. Diese mittlerweile alltäglich gewordene Diskriminierung im Umgang mit den Toten wird fadenscheinig mit „der Sicherheit des Staates“ gerechtfertigt.
Die Zwangsverwalter starteten zudem vielerorts sogenannte Friedhofsoperationen. Unter einem Großaufgebot der Polizei wurden die Friedhöfe betreten, Gräber von gefallenen Guerillakämpfer*innen verwüstet, Grabsteine zerstört und kurdische Ausdrücke auf Grabsteinen mit türkischen überschrieben. Hier wird deutlich, dass der Umgang mit den Toten in direkter Verbindung mit der Assimilationspolitik steht. Zur gleichen Zeit wurden manche Friedhöfe mit Hilfe kommunaler Baufahrzeuge dem Erdboden gleich gemacht. Der Xerzan-Friedhof beim Dorf Olek in der nordkurdischen Provinz Bedlîs (Bitlis) wurde zum Ziel eines solchen Angriffs. Der Friedhof, auf dem sich 267 Tote befanden, wurde niedergewalzt und Überreste der Toten ausgegraben.
Der HDP-Abgeordnete Nimetullah Taş kommentierte dieses Vorgehen des Staates mit den Worten: „Wie wir alle wissen, gebietet es uns unser Brauch, dass wenn ein Mensch stirbt, sein Leichnam unabhängig von seiner Religion, seiner Nationalität oder seinem Geschlecht, egal ob Freund oder Feind und egal auf welche Weise er auch immer sein Leben verloren haben mag, mit besonderem Respekt behandelt sowie schnell würdig bestattet werden muss. Das ist ein natürliches Recht, sowohl den Verwandten als auch dem Toten gegenüber. Heute erwarten die Familien der Verstorbenen keine Hilfe mehr vom Staat. Sie wurden dazu gebracht, nichts mehr zu erwarten. Sie fordern ihr Recht auch nicht mehr ein. Ihre Forderung ist nur, dass der Staat ihnen keine Hindernisse bei der Überführung, der Bestattung und der Vollziehung der religiösen Riten auf dem Weg legt. Die Aufgabe des Staates sollte es sein, seinen Bürgern dabei zu helfen, vorhandene Traumata zu überwinden und die Traumata immer wieder in neuen Schmerz zu verwandeln. Der Umgang des türkischen Staates mit den verstorbenen Kurden richtet sich nicht nur gegen die Toten, sie schlägt auch bei den Angehörigen der Verstorbenen und in der ganzen Gesellschaft tiefe Wunden.“