Protest gegen Zwangsverwaltung in Sêrt

In Sêrt finden seit der Absetzung der Ko-Bürgermeisterin Sofya Alağaş Proteste gegen die türkische Regierung statt. Auf einer Demonstration forderten zahlreiche Menschen Ankara auf, die Entscheidung rückgängig zu machen.

Bürgermeisterin von Regierung abgesetzt

In der kurdischen Provinz Sêrt (tr. Siirt) finden seit der Absetzung der Ko-Bürgermeister:innen Sofya Alağaş und Mehmet Kaysi (DEM) durch das türkische Innenministerium Proteste statt. Am Samstag beteiligten sich hunderte Menschen an einer von der DEM und ihrer Schwesterpartei DBP sowie der Frauenbewegung TJA organisierten Demonstration durch die gleichnamige Provinzhauptstadt und forderten die Regierung auf, die Entscheidung zur Amtsenthebung der genderparitätischen Doppelspitze im Rathaus Sêrts rückgängig zu machen. Der Lokalpolitiker Mustafa Dayanan, der Ko-Vorsitzender des Provinzverbands der DEM-Partei ist, sagte, mit diesem Schritt missachte Ankara ein weiteres Mal „den Willen des Volkes“.

Sofya Alağaş war am Mittwoch des Amtes enthoben und durch einen Zwangsverwalter ersetzt worden. Hintergrund ist eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung der Politikerin zu mehr als sechs Jahre Haft wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der als Terrororganisation verfolgten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Entscheidung steht im Zusammenhang mit einer Anklage aus dem Jahr 2022 gegen mehrere kurdische Medienschaffende, denen aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit für die freie Presse „Terrorismus“ vorgeworfen wird. Sofya Alağaş war damals Direktorin der Frauennachrichtenagentur JinNews und saß im Zuge des Verfahrens rund ein Jahr lang in Untersuchungshaft.

Auch gestern gab es in Sêrt eine Demonstration gegen die Zwangsverwaltung. Mehrere tausend Menschen zogen durch die Innenstadt und riefen Parolen wie „Die Besatzung wird gehen, das Volk wird bleiben“, „Jin Jiyan Azadî“ und „Es lebe der Widerstand von Tişrîn“ in Anlehnung an die Proteste gegen die türkischen Angriffe in Nord- und Ostsyrien. Der Protestzug erntete viel Aufmerksamkeit von Gewerbetreibenden, die mit Siegeszeichen, Beifall und Trillern die Demonstrierenden unterstützten. Viele schlossen sich dem Marsch an, der zu einer Mahnwache führte, die seit Mittwoch vor dem Rathaus stattfindet © MA


Dayanan sprach bei der Demonstration von einem „routinierten Putschmechanismus“, der vom Regime in Ankara gegen die politische Vertretung der kurdischen Bevölkerung und anderer Minderheiten eingesetzt werde. Es handele sich dabei um ein „Alleinstellungsmerkmal des türkischen Faschismus“, das mit der Absetzung von Alağaş erneut gezeigt habe, „wie letzte Elemente von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei systematisch eliminiert werden“. „Doch eine Regierung, die den Willen des Volkes missachtet, wird früher oder später dafür schwer zu büßen haben“, betonte Dayanan.

Anstelle von Sofya Alağaş und ihrem Ko-Bürgermeister Mehmet Kaysi, der offiziell als stellvertretender Bürgermeister gilt und nicht abgesetzt wurde, sitzt seit Mittwoch der von der Regierung ernannte Gouverneur von Siirt als Zwangsverwalter im Rathaus. Letzterer ließ als erste Amtshandlung eine riesige Türkei-Fahne am Eingang des Verwaltungsgebäudes anbringen, das inzwischen aufgrund massiver Polizeipräsenz einer militarisierten Zone gleicht. Der DEM-Abgeordnete Kamuran Tanhan, der sich an der Demonstration beteiligte, bezeichnete den Vorgang als „Ausdruck der Angst“ von Herrschenden, die angetrieben würden von einer „Besatzermentalität“.

„Hunderte Soldaten und Polizisten vor dem Rathaus auffahren zu lassen und es einzukesseln ist ein Akt, der die Furcht des Faschismus vor dem Willen des Volkes mehr als deutlich macht. Wir sehen hier das Bild der Besatzung, das Bild des Raubes, das der Aneignung der Ressourcen der Kommune“, sagte Tanhan und verwies auf die Tradition Zwangsverwalter in Kurdistan, die ihre Macht auf kommunaler Ebene dazu missbrauchen würden, Vetternwirtschaft zu betreiben oder tief im Korruptionssumpf zu versinken. „Das werden wir nicht zulassen. Wir werden kämpfen und unsere Rathäuser zurückgewinnen.“

Abendlicher Lärmprotest durch Sêrt mit Sofya Alağaş © MA

Zehn Kommunen unter Zwangsverwaltung

Bei den Kommunalwahlen im März vergangenen Jahres waren Alağaş und Kaysi mit rund 50 Prozent zur Spitze für das Rathaus in Sêrt gewählt worden, trotz tausender sogenannter Geisterwähler – Soldaten, Polizisten und andere Staatsbedienstete – die nicht in Sêrt wohnen, aber extra ins Wahlregister eingetragen wurden, um für die AKP zu stimmen. Das gleiche Szenario war in nahezu allen kurdischen Provinzen und Städten beobachtet worden. Die DEM konnte dennoch 78 Bürgermeisterposten gewinnen und damit ihr Ergebnis gegenüber den vorherigen Kommunalwahlen 2019 verbessern. Seit den Wahlen im März wurden bereits acht ehemals DEM-regierte Rathäuser unter Zwangsverwaltung gestellt. Auch in zwei von der CHP geführten Kommunen wurden gewählte Bürgermeister abgesetzt und durch Regierungsbeamte ersetzt.