Nach der von paramilitärischen Spezialeinheiten der türkischen Polizei durchgeführten „Operation“ in der nordkurdischen Stadt Nisêbîn (tr. Nusaybin) sind nach Angaben von Rechtsanwält:innen alle neun Festgenommenen wieder auf freiem Fuß. Auch Bedia Adıgüzel und Remziye Bayhan sind aus der Polizeihaft entlassen worden. Gegen die beiden Lokalpolitikerinnen von der Partei der demokratischen Regionen (DBP) sowie Bayhans Ehemann Mehmet Bayhan verhängte die Strafabteilung des Amtsgerichts in der Provinzhauptstadt Mêrdîn (Mardin) jedoch polizeiliche Meldeauflagen. Gegen Mehmet Bayhan ordnete das Gericht zudem ein Ausreiseverbot an.
Was ist passiert? In der Nacht zum Mittwoch wurde auf der Sakarya Caddesi im Zentrum von Nisêbîn die Wohnung der ehemaligen DPB-Bezirksvorsitzenden Bedia Adıgüzel von paramilitärischen „Polizeispezialeinheiten für Terrorismusbekämpfung“ (PÖH) gestürmt. Nachdem sich die Beamten Zugang in die Wohnung verschafft hatten, soll es zu einer tödlichen Explosion gekommen sein. Eine namentlich Unbekannte, die den Verbänden freier Frauen (YJA Star) – der autonomen Frauenguerilla der PKK – zugerechnet wird, soll sich mit einer Handgranate selbst in die Luft gesprengt haben – offenbar, um einer Gefangennahme zu entgehen. Nach vorliegenden Informationen sei die Frau, die sich in der Wohnung alleine in einem Raum aufgehalten habe, zuvor aufgefordert worden, sich zu ergeben.
Nach dem Vorfall hatte die sogenannte Antiterrorpolizei zahlreiche Razzien in Nisêbîn durchgeführt und insgesamt neun Personen unter „Terror“-Verdacht festgenommen. Unter ihnen befand sich auch eine fünfköpfige Familie, die bereits in der Nacht zum Donnerstag wieder auf freien Fuß gesetzt worden war. Die Identität der gefallenen Guerillakämpferin ist derweil noch immer unklar. Die PKK hat sich bislang nicht zu den Geschehnissen in Nisêbîn geäußert.
Die ANF und den Rechtsanwält:innen der Festgenommenen vorliegenden Informationen zum Ablauf der Geschehnisse in der Wohnung von Bedia Adıgüzel sind im krassen Widerspruch mit den Angaben des türkischen Innenministeriums. Die Behörde hatte von einem Routineeinsatz zwecks Identitätsprüfung einer „Person mit verdächtigem Verhalten“ gesprochen, in dessen Verlauf die mutmaßliche Guerillakämpferin „neutralisiert“ worden sei, nachdem sie das Feuer auf Polizisten eröffnete. Eine Überprüfung von sichergestellten Dokumenten der Frau hätte ergeben, dass sie eine „aufsehenerregende Aktion“ in Nisêbîn geplant habe und öffentliche Einrichtungen für einen etwaigen Anschlag ausgespäht hätte.
Nicht nur die Festgenommenen wiesen diese Angaben zurück. Auch Anwohnende gaben an, dass es keine Schussgeräusche gegeben habe. Lediglich das Geräusch einer Detonation sei vernommen worden, nachdem PÖH-Leute in die Wohnung eingedrungen waren. In Nisêbîn wird vermutet, dass das Vorgehen der Polizei geplant war und auf eine „extralegale Hinrichtung“ hinauslaufen sollte. Seit dem Wochenende patrouillierten deutlich mehr Polizisten und Militärs auf der Sakarya Caddesi und angrenzenden Vierteln als sonst.
Titelbild: Eingangsbereich zum Justizpalast von Mardin