Die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan zu erkämpfen ist eine gesamtgesellschaftliche Mission, die nicht länger aufgeschoben werden kann. Dafür sprach sich Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), in einer Sondersendung auf Stêrk TV aus. Ok rief die kurdische Öffentlichkeit und ihre Institutionen zu Aktionen auf und formulierte Handlungsperspektiven, gegen die Abschottung des kurdischen Vordenkers Stellung zu beziehen.
Seit über zwei Jahren gibt es kein Lebenszeichen von Abdullah Öcalan und seinen drei Mitgefangenen auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmara-Meer. Der letzte Kontakt zu ihnen fand in Form von kurzen Telefonaten mit Angehörigen im März 2021 statt. Für Öcalan war das aus unbekannten Gründen nach wenigen Minuten unterbrochene Gespräch das zweite Telefonat seit seiner Inhaftierung im Februar 1999. Das letzte Anwaltsgespräch im Inselgefängnis wurde im August 2019 genehmigt, der letzte Familienbesuch bei Öcalan im März 2020. Seitdem wurden jegliche Besuchsanträge an die türkische Justiz entweder abgelehnt oder gar nicht erst beantwortet. Dazu erklärte Ok:
„Grundsätzlich müssen wir die Situation von Rêber Apo richtig einschätzen. Der Umgang des türkischen Staates mit ihm ist ein Spiegelbild des Verhältnisses zum gesamten kurdischen Volk. Rêber Apos Isolierung und Unterdrückung bedeutet, dass es eine Isolierung und Unterdrückung in Kurdistan, gegenüber dem kurdischen Volk und auch gegenüber den Völkern der Türkei gibt. Die gegen ihn praktizierte Politik ist die Fortsetzung der genozidären Strategie. Wichtig ist, die Isolation nicht von einem oberflächlichen Blickwinkel aus zu betrachten. Indem verhindert wird, dass die Stimme von Rêber Apo das kurdische Volk und die Gesellschaft der Türkei erreicht, will der Staat mit unserer Psyche spielen. In Reaktion darauf und das Komplott gegen Rêber Apo haben bis heute hunderte unserer Menschen das Mittel der Selbstverbrennung genutzt und sind gefallen. So sieht die Beziehung von Rêber Apo zur Gesellschaft aus.
Der Journalist Merdan Yanardağ hat kürzlich eine Äußerung zu Rêber Apo getätigt. Um diese auszusprechen, muss man weder ein Revolutionär sein, noch muss man Rêber Apo mögen. Es reicht aus, die Wahrheit auszusprechen. ,Auf Imrali herrscht Isolation' – das waren die Worte von Yanardağ. Das ist die Realität. Weil Yanardağ sie zum Ausdruck brachte, wurde er ins Gefängnis geworfen. Sie wollen nicht, dass irgendjemand über Rêber Apo oder Imrali spricht. Bahçeli [Devlet; Vorsitzender der rechtsextremen MHP, Anm. d. Red.] hatte die Richtung bereits vorgegeben, als er sagte: „Wer behauptet, auf Imrali gäbe es Isolation, der macht sich strafbar.“ Das ist die Mentalität, mit der wir es zu tun haben – und gegen die wir auf höchster Ebene ankämpfen müssen. Kurdinnen und Kurden sollten sich überall gegen die Isolation positionieren, ihre Stimme erheben und reagieren.
Vor einigen Tagen wurde in Europa ein 17-jähriger Jugendlicher ermordet; die Menschen erhoben sich, sie erschütterten Frankreich. Die Proteste fanden nicht nur in einer Stadt, sondern in ganz Frankreich und darüber hinaus in Belgien sowie anderen Ländern statt. Denn die europäische Gesellschaft hat jahrhundertelang für die Demokratie, die es heute in Europa gibt, gekämpft und den Preis dafür bezahlt. Sobald die Menschen spüren, dass ihre erkämpfte Demokratie in Gefahr ist, zeigen sie starke Reflexe und gehen zum richtigen Zeitpunkt auf die Straße. So sollte es auch sein.
Es gibt gewisse Dinge, bei denen eine perfekte Organisierung nicht unbedingt erforderlich ist. Schließlich sind sie respektlos im Umgang mit unserer Würde – etwa dann, wenn jemand in Istanbul ein kurdisches Lied singt, dafür von der Polizei misshandelt wird und im Knast landet. Wenn Panzer des türkischen Staates in Kurdistan anrollen und unsere Kinder töten. Wenn sie vergewaltigen oder die Grabstätten der Gefallenen zerstören. Zu all dem kann man nicht schweigen. Im Fernsehen wird über diese Ereignisse gesprochen, aber es ist notwendig, eine Haltung einzunehmen, einen Standpunkt einzunehmen, nicht zu diskutieren. Das kurdische Volk sollte einen Reflex aktivieren, so wie es Europa tut. Die Guerilla wehrt sich bereits gegen brutale Angriffe und wird auch weiterhin Widerstand leisten. Unser Volk sollte jedoch wissen, dass wir uns nicht in einer gewöhnlichen Phase befinden. Man darf nicht in Bequemlichkeit verfallen. Wir befinden uns in einem historischen und wichtigen Prozess. Die PKK und die Guerilla erfüllen ihre Rolle mit opferbereitem Geist. Es ist wichtig, dass auch die Gesellschaft sich gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr setzt. Wenn Unannehmbares über Rêber Apo gesagt wird, müssen Juristinnen und Juristen, Intellektuelle und die Gesellschaft einen angemessenen Reflex zeigen. Einen Bahçeli, der die vorhin genannten Äußerungen tätigt, müssten sich insbesondere Anwältinnen und Anwälte vorknöpfen. Denn wenn es keine Reaktion gibt, werden diese Personen keinen Schritt zurückweichen.
Die gegenwärtige Situation von Rêber Apo sollte bei jedem Besorgnis hervorrufen. Ihm wird weder gestattet, seinen Rechtsbeistand zu konsultieren, noch darf er Besuch von seiner Familie oder Briefe erhalten. Wir wissen jedoch, dass Rêber Apo in der Vergangenheit unsignierte, anonyme Briefe vom Besatzerstaat und der Imrali-Leitung übergeben worden sind. In diesen Briefen wurde ihm angedroht, ihn zu vergiften. Auch hat man ihm geschrieben, dass er mit jedem Tag ein bisschen mehr sterben würde, ohne es aber zu merken. Wir sehen, dass ein Mensch mit einer historischen Verantwortung wie Rêber Apo täglich solchen Torturen ausgesetzt ist. Privatbriefe, die sein Grundrecht sind, werden verboten, aber Drohschreiben sind erlaubt. Was hat das zu bedeuten? Man spielt mit seiner Psyche, man spielt mit seiner geistigen Gesundheit, man spielt mit seiner körperlichen Gesundheit, damit Rêber Apo aus der Realität ausbricht und seine Rolle nicht erfüllt. Es ist ein barbarischer Staat. Selbst Massaker verblassen angesichts dieser Vorgehensweise. Kein Staat tut so etwas, nur Schurkenstaaten tun so etwas. Dieses Thema muss auf der Tagesordnung Kurdistans und der Türkei stehen. Wenn es heißt „es gibt keine Isolation“, sollten alle eine Reaktion zeigen. Das ist wichtig.
Hätten wir den Kampf in jeder Hinsicht verstärkt, hätte der Staat resigniert und sich Rêber Apo zu Füßen gelegt. Dies ist auch eine Selbstkritik für uns. Wir stehen in seiner Schuld. Aber wir sind beharrlich und haben Durchsetzungsvermögen, der Widerstand geht weiter. Unser Volk muss sich immer wieder vor Augen führen, dass die derzeitige Phase keine gewöhnliche ist. Jede Handlung muss im Geiste dieser Zeit durchgeführt werden. Sobald der türkische Staat eine Schwäche sieht, wird er die Angriffe gegen uns eskalieren. In den kommenden Tagen müssen wir wichtige Schritte unternehmen, die dem Druck auf Rêber Apo und die anderen Freunde auf Imrali etwas entgegensetzen. Das kann und darf nicht so weitergehen. Es muss dagegen angegangen werden, es muss Haltung gezeigt werden. Alle, die für Demokratie und Freiheit eintreten, vor allem in den vier Teilen Kurdistans, sollten ihre Situation abwägen, überlegen, was sie tun können, sich organisieren und sich auf würdevolle Weise an dieser Mission beteiligen.“