Güneş: „Der Krieg ist in der Gesellschaft ein entscheidendes Thema“

Nach den Wahlen ist die YSP in einen Erneuerungsprozess eingetreten. Die Abgeordnete Beritan Güneş berichtet von ihren Diskussionen mit der Bevölkerung. Insbesondere der Krieg, die Wirtschaftskrise und die Lage der Gefangenen seien zentrale Themen.

Nach den Wahlen ist die demokratische Opposition in der Türkei in einen Erneuerungsprozess eingetreten. Auf Volksversammlungen werden Kritiken aufgenommen, Probleme thematisiert und Vorschläge gemacht. Eine der Abgeordneten der Grünen Linkspartei (YSP), die im nordkurdischen Mêrdîn von Tür zu Tür zieht und den Menschen zuhört, ist Beritan Güneş. Im ANF-Gespräch berichtet sie über ihre Erkenntnisse, die bei den Gesprächen mit der Basis gewonnen wurden. Insbesondere die Folgen des andauernden Krieges, die Lage von inhaftierten Kranken, verhinderte Entlassungen politischer Gefangener auch nach Ende der Haftzeit und die Wirtschaftskrise seien Themen, die immer wieder angesprochen wurden.

„Die Menschen fragen nach unserer Roadmap gegen die Isolationspolitik“

Die täglichen Verteuerungen und die Wirtschaftskrise prägen den Alltag der Menschen. „Darüber hinaus sind der Krieg und seine gravierenden Folgen zentrale Themen der Gesellschaft“, sagt Güneş. „Die Menschen sprechen darüber, diskutieren und suchen nach Lösungen. Sie fragen uns auch, welche Roadmap wir für den Kampf gegen die Isolationspolitik haben. Die Beschäftigung mit diesen Fragen und das Zuhören, wenn die Menschen ihre Forderungen und Probleme schildern, tut mir als Abgeordneter aus Mêrdîn gut. Bei diesen Begegnungen und Gesprächen erfahre ich, wofür ich mich als Abgeordnete einsetzen kann. Wenn wir mit unserem Volk zusammenkommen, werden die Themen klar, an denen wir arbeiten müssen. Jede einzelne Person ist eine Ansprechpartnerin. Die Tatsache, dass ich mich dafür einsetze, wird von der Gesellschaft erwidert. Das gibt mir Energie, lässt mich wachsen und stärkt mich.“


Bei den Gesprächen werde immer wieder auch deutlich, wie ernst die Rechtsverletzungen sind, die die Menschen durch den türkischen Staat erleben. Güneş führt aus: „Die Menschen sprechen von einer äußerst diskriminierenden Gesellschaftsordnung und wollen unsere Unterstützung, damit ihre Stimmen lauter wahrgenommen werden. Natürlich kann unsere Anwesenheit im Parlament am Ende nichts ändern, denn wenn es darauf ankommt, ist die Mehrheit immer noch in den Händen der Regierung. Doch der parlamentarische Prozess ist wichtiger als das Ergebnis. Selbst wenn nur die Stimme der Menschen aus Mêrdîn und des kurdischen Volkes dort hörbar wird, handelt es sich um einen wertvollen Bereich unseres Kampfes. So ist beispielsweise die Frage der Verhinderung der Entlassung von Gefangenen nach ihrer Strafhaft zu einem Hauptthema für die Angehörigen geworden. Insbesondere die Situation derjenigen, die seit 30 Jahren inhaftiert sind, steht auf dieser Tagesordnung im Mittelpunkt. Ich glaube, der Staat hat nicht damit gerechnet, dass diese Menschen nach 30 Jahren wieder auftauchen würden. Denn die kurdische Frage wurde in diesen dreißig Jahren nicht gelöst, und es geht immer so weiter. Ich weiß nicht, wie wirksam es ist, dies im Parlament zu thematisieren, aber wir sehen, dass es für die Menschen eine große Bedeutung hat.“

Dreißig Jahre ungebrochen durch die Haft

Güneş erklärt, dass sie mit politischen Gefangenen, die nach 30 Jahren entlassen wurden, in einen Austausch getreten sei. In den letzten Monaten sind viele Gefangene freigelassen worden, die Anfang der 1990er Jahre vor den inzwischen abgeschafften Staatssicherheitsgerichten wegen Separatismus zu lebenslanger Strafe verurteilt wurden. Beritan Güneş unterstreicht, dass diese Gefangenen ein besonders wichtiger Teil der kurdischen Geschichte seien: „Wir können sagen, dass man so etwas wie die Geschichten dieser Menschen, die 30 Jahre in Haft waren, selten auf der Welt finden kann. Der Staat hat dreißig Jahre lang versucht, sie zu brechen, aber bei denen, die entlassen wurden, ist genau der gegenteilige Effekt zu beobachten. Wir sehen, dass sie sozial weit entwickelt, psychisch gesund und in der Lage sind, mit der Tagesordnung Schritt zu halten. Sie sind zu Symbolen des Widerstands geworden, die ihre Jahre im Gefängnis dazu genutzt haben, sich zu stärken. Daher denke ich, dass diese Situation einen besonderen Platz in der kurdischen Geschichte einnehmen und in die Literatur eingehen wird. Einer der Entlassenen erzählte uns, dass weder er noch wir in den vergangenen 30 Jahren an Energie eingebüßt hätten. Das ist an sich eine wichtige Lektion für diejenigen, welche die kurdische Frage seit 30 Jahren nicht lösen. Diese Realität stärkt unsere Überzeugung, dass in unserem Kampf um Identität und Sprache kommen möge, was wolle, wir die Akzeptanz dessen aber durchsetzen werden.“

„Der Jugend wird die Identität genommen“

Unter Hinweis auf die Folgen der Spezialkriegspolitik des türkischen Staates sagt Güneş: „Es wird versucht, die kurdische Jugend von ihrer Identität zu entfremden. Die Verleugnung der eigenen Identität wird als eine Möglichkeit zum Klassenaufstieg oder zur Erhöhung des sozialen Status dargestellt. In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass einige kurdische Jugendliche davon träumen, Polizisten zu werden. Natürlich muss darüber nachgedacht und diskutiert werden, wie sich so ein Traum entwickeln und auf die Tagesordnung der jungen Menschen kommen kann. Diese Politik der Entfernung von der eigenen Identität führt zu einer Abkopplung von der eigenen Kultur, Geschichte, Sprache und Stadt. Stattdessen werden den jungen Menschen nur die Populärkultur und die Werkzeuge des Kapitalismus vermittelt. Auf diese Weise können junge Menschen verloren gehen. Auch Armut, Arbeitslosigkeit und das Bildungssystem können Ursachen dafür sein. Wir wollen diesen Erneuerungsprozess gemeinsam mit der Jugend und den Frauen durchführen. Wir kommen mit der Jugend und den Frauen zu Kritik und Selbstkritik zusammen. Aber das muss viel stärker werden. Dieses Programm ist Teil der Planungen der Partei. Wenn es richtig behandelt wird und konsequent umgesetzt wird, bin ich davon überzeugt, dass aus diesem Prozess Lösungswege hervorgehen werden.“