KNK: Ein Krieg um Sein oder Nichtsein

Im Abschlussprotokoll einer Versammlung vom Nationalkongress Kurdistan (KNK) ist von einem „Krieg um Sein oder Nichtsein“ die Rede. Das Jahr 2022 biete Gefahren und Chancen.

Am 11. Dezember veranstaltete der Nationalkongress Kurdistans (KNK) ein Treffen, auf dem die Entwicklungen des Jahres 2021 und die Perspektiven für 2022 diskutiert wurden. In einer Abschlusserklärung, die sich mit den Entwicklungen in den verschiedenen Teilen Kurdistans beschäftigt, dokumentiert der KNK die Ergebnisse der Sitzung.

Krieg um Sein oder Nichtsein in Nordkurdistan“

„Der Freiheitskrieg hat seit 2015 eine immer heftigere Dimension angenommen. Vom Juli 2015 an bis heute wird in Nordkurdistan/Bakur ein Krieg um Sein oder Nichtsein geführt. Dieser Krieg spiegelt sich immer wieder auch in Südkurdistan und Rojava wider. Im Frühjahr 2015 hatte die türkische Regierung die Verhandlungen beendet, den Krieg wieder aufgenommen und nach dem 24. Juli mit Massakern begonnen. Der Beginn der Angriffe an dem Jahrestag der Unterzeichnung des Lausanner Abkommens zeigt uns, dass dieses Datum nicht zufällig gewählt wurde. An einem Tag wie diesem anzugreifen, bedeutet, dass Kurdistan negiert wird und vernichtet werden soll.

Die Angriffe auf kurdische Städte, kurdische Institutionen und Organisationen (kurdische Stadtverwaltungen, Parteien, Verbände und Errungenschaften) sowie die Verhaftung und Verurteilung von Zehntausenden Politiker:innen spiegeln diese Eskalation wider. Heute herrscht in der Türkei die Mentalität der Komitees für Einheit und Fortschritt. Mit dieser Denkweise wurden die Armenier:innen, Griech:innen und Assyrer:innen massakriert. Heute soll das kurdische Volk vernichtet werden. Deshalb handelt es sich um einen Krieg um Sein oder Nichtsein.

Das kurdische Volk tritt für seinen Willen ein“

In diesem Krieg haben wir, als Volk und Freiheitsbewegung, einen hohen Preis gezahlt. Trotz hoher Opfer und Hindernisse überlebt die Freiheitsbewegung Kurdistans in allen Bereichen und erhöht das Niveau ihres Kampfes. Die Guerilla leistet mit großem Mut Widerstand. Trotz Verhaftungen, Folterungen und Repressionen verteidigt das kurdische Volk seinen Willen. Ja, wir haben in diesem Krieg sehr gelitten, aber unser Feind ist geschwächt. Das türkische Regime steckt in vielen Bereichen tief in der Krise. Die Wirtschaftskrise ist außer Kontrolle geraten. Diese Krisen werden durch den Krieg in Kurdistan und den Widerstand der kurdischen Kräfte verursacht. Unser Widerstand gibt allen Oppositionskräften Kraft und Mut. Erdoğans Regime steht am Rande des Zusammenbruchs.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der die türkische Armee im Krieg chemische Waffen einsetzt. Chemische Waffen werden täglich vor allem in den Regionen Metîna, Zap und Avaşîn benutzt. Bisher sind mehr als 40 Guerillakämpfer:innen durch diese Waffen umgekommen und noch viele mehr wurden verwundet. Kurd:innen und ihre Freund:innen drücken auf der ganzen Welt ihre Wut darüber aus. Trotz aller Appelle und Proteste unseres Volkes schweigen die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), die Vereinten Nationen und die Staatengemeinschaft. Kurd:innen sind in allen vier Teilen Kurdistans zum Opfer chemischer Waffen geworden. Die Wunde von Helebce ist noch nicht geheilt. Unsere Hauptaufgabe in dieser Hinsicht ist es, permanent gegen den Einsatz chemischer Waffen zu protestieren.

Rojhilat: Unverminderte Repression“

In Ostkurdistan/Rojhilat setzt der iranische Staat seine Politik der Assimilation, des Hungers, der Folter und der Inhaftierungen unvermindert fort. Die Menschen sollen zum Schweigen gebracht werden. Das iranische Regime versucht durch die Förderung des Drogenkonsums in Kurdistan, die Gesellschaft zu schwächen. Gegenüber kurdischen Kolbern [Lastenträgern] findet eine Politik der extralegalen Hinrichtungen statt. Der Iran will das kurdische Volk um jeden Preis seiner Identität und seiner Rechte berauben. Als hegemoniale Kraft in der Region interveniert der Iran in anderen Teilen Kurdistans, indem er Allianzen mit anderen Besatzungsmächten gegen das kurdische Volk eingeht.

Wie der türkische Staat verstärkt auch das iranische Militär seine Angriffe auf Südkurdistan. Mit dem Beginn der Präsidentschaft von Ebrahim Raisi haben die Drohungen und Angriffe zugenommen. Jetzt gibt es Berichte, dass der Iran durch einige Vertreter in Südkurdistan Parteien und Organisationen in Rojhilat unter Druck setzt, ihre Waffen niederzulegen sowie keine militärischen Handlungen gegen den Iran durchzuführen. Dies ist eine gefährliche Situation, die nicht hingenommen werden sollte. Keine kurdische Kraft sollte den Forderungen des Iran folgen. Der Aufbau von bewaffneten Kräften ist wie bei jeder Nation ein legitimes Recht für das kurdische Volk. Die Anwesenheit von eigenen bewaffneten Kräften in allen vier Teilen Kurdistans ist nicht nur ein legitimes Recht, sondern auch eine große Notwendigkeit. Unsere Feinde benutzen alle Arten von Waffen gegen uns. Die Kräfte Kurdistans müssen sich bewaffnen und ihr Volk verteidigen.

Die Menschen in Ostkurdistan zu organisieren, ist eine absolute Notwendigkeit gegenüber der Politik des iranischen Staates. Die Kräfte von Rojhilat sollten auch aus den Erfahrungen anderer Teile Kurdistans lernen und eine Einheit bilden. Als KNK werden wir unsere Anstrengungen in dieser Hinsicht verstärken. Wir werden auch eine Reihe von Seminaren und Diskussionsveranstaltungen in verschiedenen Regionen abhalten, um die Politik des iranischen Regimes zu demaskieren und den inneren Dialog zu fördern.

Başûr: Autonomie weiterhin bedroht“

Obwohl Südkurdistan/Başûr verfassungsmäßig über einen föderalen Status verfügt, ist dieser Status weiterhin bedroht. Eines der Ziele der Feinde unseres Volkes ist es, den föderalen Status Südkurdistans zu zerstören. Die Angriffe des türkischen Staates und des Iran nach dem Referendum zielen auf darauf ab. Es müssen entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Leider hat die Regierung Südkurdistans in dieser Hinsicht keine gemeinsame Strategie und handelt nicht dieser Realität angemessen.

Die jüngsten Angriffe der Miliz „Islamischer Staat“ (IS) sind Teil dieser Politik gegen den Status Kurdistans. Gleichzeitig besteht eines der Ziele dieser Angriffe darin, den Kurd:innen die umstrittenen Gebiete vorzuenthalten (Artikel 140). Hunderte Dörfer wurden evakuiert und Zehntausende Kurd:innen durch die Angriffe vertrieben. Es handelt sich dabei nicht nur um den IS. Arabische Nationalisten und Besatzungstruppen stecken hinter den Angriffen des IS. Der IS wird von diesen Kräften unterstützt und benutzt.

Menschen aus Südkurdistan sterben an der polnischen Grenze oder in der Ägäis“

Der Süden Kurdistans hat viele Probleme. Unglücklicherweise verschlechtert sich die Situation für Freiheit und Demokratie von Tag zu Tag. Demgegenüber wächst die Korruption. Das führt zu Hunger und Unruhen. Unser Volk im Süden ist sich der Zukunft nicht sicher. Dies führt zur Emigration. Jeden Monat sterben Dutzende kurdischer Migrant:innen, meist junge Menschen, an der belarussisch-polnischen Grenze oder ertrinken in der Ägäis und im Ärmelkanal. Die Besatzer, insbesondere der türkische Staat, wollen, dass die Kurd:innen Kurdistan verlassen. Die Schleuser und Menschenhändler arbeiten mit der Unterstützung dieser Staaten. Leider hat die südkurdische Regierung noch keine konkreten Maßnahmen in dieser Frage ergriffen. Das ist schmerzlich und muss auf der Tagesordnung von uns allen stehen.

Vor zwei Monaten fanden im Irak Wahlen statt. Die meisten Menschen, sowohl in Südkurdistan als auch im gesamten Irak, gingen gar nicht zur Wahl. Die Menschen im Süden und das irakische Volk sind mit den aktuell Herrschenden nicht glücklich. Diejenigen, die behaupten, sie hätten die Wahl gewonnen, lügen. Die Wahl hat keine Lösung gebracht, und bisher ist das Parlament nicht zusammengetreten. Aber trotz allem wurde eine Wahl abgehalten und einige Leute wurden als Abgeordnete eingesetzt. Wir rufen alle kurdischen Parlamentarier:innen auf, sich an einer nationalen Linie zu orientieren, sich an die Seite des Volkes zu stellen und für die Interessen Kurdistans einzutreten. Sie müssen gegen die Besatzung Stellung beziehen und ihre Stimmen erheben.

Die Drohungen und Angriffe gegen Şengal gehen weiter. Am 7. Dezember griff der türkische Staat Xanêsor mit Drohnen an und tötete Merwan Bedel, den Ko-Vorsitzenden des Exekutivausschusses im Selbstverwaltungsrats von Şengal. Dann, am 11. Dezember, griffen Flugzeuge das Gebäude des Volksrats von Şengal an. Das ist ein Zeichen tiefer Feindseligkeit gegenüber dem kurdischen Volk und auch des Hasses auf die Ezid:innen. Diese Angriffe sind kein Novum, sie sind eine Fortsetzung der Angriffe des IS. Der türkische Staat will das vollenden, was der IS unvollendet gelassen hat. Gleichzeitig kollaboriert die irakische Regierung und schweigt. Sie schafft damit eine Grundlage für die Angriffe der Türkei. Als KNK werden wir Şengal und den Menschen in Şengal zur Seite stehen. In diesem Zusammenhang verurteilen wir den türkischen Staat und seine Verbündeten erneut aufs Schärfste. Wir sprechen der Familie von Merwan Bedel, den Ezid:innen und allen Menschen in Kurdistan unser Beileid aus.

Rojava: Erkämpften Status verteidigen“

Trotz aller Drohungen und Angriffe in Westkurdistan/Rojava ist es gelungen, eine Selbstverwaltung aufzubauen und einen De-facto-Status zu etablieren. Für die Menschen in Rojava sowie für alle Menschen in Kurdistan und ihre Freund:innen ist dieser Status sehr wertvoll. Er muss geschützt werden, und der Ist-Status sollte in einen Rechtsstatus umgewandelt werden. Dafür einzutreten ist die Verpflichtung aller kurdischen Kräfte.

Auch die Drohungen und Angriffe auf Rojava dauern an. Der türkische Staat hat Teile von Rojava besetzt und versucht, in weitere Gebiete einzumarschieren. Die Drohungen durch das syrische Regime dauern ebenso an. Das syrische Regime beharrt auf dem Status vor 2011. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien leistet weiterhin gegen diese Bedrohungen und Angriffe Widerstand. Dies ist ein erfolgreicher und äußerst bedeutsamer Widerstand. Im Bereich der Diplomatie wird die Selbstverwaltung zunehmend als Ansprechpartnerin akzeptiert. Als KNK werden wir daran arbeiten, die Errungenschaften von Rojava zu schützen und einen legalen Status zu erkämpfen.

Die Suryoye, die assyrische und chaldäische Bevölkerung, gehören zu den ältesten Völkern der Region und haben ein Recht auf dieses Land. Diese Menschen haben einen schweren Genozid erlitten. Selbst jetzt gibt es Vernichtungsangriffe auf sie. Die Besatzungstruppen, insbesondere die radikal-islamistischen Kräfte, greifen sie an. In den letzten Monaten wurden assyrische Dörfer in der Region Til Temir in Westkurdistan vom türkischen Staat und seinen Verbündeten ins Visier genommen. Das ist die Politik der türkischen Besatzer. Sie wollen, dass diese Gebiete verlassen werden. Von Tag zu Tag nimmt die Suryoye-Bevölkerung in dieser Region ab. Das ist eine blutende Wunde. Unser Schicksal ist miteinander verbunden. Der KNK steht in der Verantwortung zur Verteidigung der assyrisch-chaldäischen Bevölkerung.

PKK von der Terrorliste streichen“

Ein weiterer Punkt betrifft das Verbot der Freiheitsbewegung und die Terrorliste. Wie alle kurdischen Institutionen und Organisationen leidet auch der KNK unter der Verbotspolitik und der Listung der Freiheitsbewegung Kurdistans. Derzeit wurde mithilfe von Freund:innen des kurdischen Volkes eine Initiative namens „Justice for Kurds“ ins Leben gerufen, die gegen das Verbot und die Terrorliste arbeitet und Kampagnen durchführt. Die Initiative fordert, die PKK von der Terrorliste zu streichen und das Verbot aufzuheben. Ein entsprechender Aufruf wurde von tausend weltberühmten Persönlichkeiten unterzeichnet und veröffentlicht. Der KNK unterstützt diese Arbeit.

Isolation auf Imrali“

Ein weiterer Punkt der Debatte war Abdullah Öcalans Status als politischer Gefangener. Herr Öcalan befindet sich seit 23 Jahren in Isolation. Weltweit wird sich für das Ende der Isolation und der Befreiung Öcalans eingesetzt. Der KNK versteht sich als Partner in diesen Arbeiten und nimmt daran teil. Der KNK verfolgt die Situation der kurdischen politischen Gefangenen genau und setzt sich für ihre Freiheit ein. Wir befinden uns am Ende des Jahres 2021 und beginnen ein neues Jahr. Insgesamt war das vergangene Jahr ein hartes Jahr. Wir haben in diesem Jahr viele Verluste zu verzeichnen und große Opfer erbracht. Aber wir haben den Feind mit unserem Widerstand besiegt. Wir können es als ein erfolgreiches Jahr in Bezug auf Kampf und Durchhaltevermögen beschreiben. Wir bewegen uns auf das neue Jahr zu. Es gibt Gefahren, aber auch die Chancen auf Erfolg wachsen. Wir wollen 2022 zu einem Jahr voller Erfolge machen. Diese Chance ist größer denn je. Wir werden in dieser Richtung Stellung beziehen und entsprechend arbeiten.

Vorbereitungen des KNK auf Wahlen

Es ist bekannt, dass der KNK alle zwei Jahre Wahlen durchführt. Laut KNK-Satzung sollten die Wahlen in diesem Jahr zum 21. Mal stattfinden. Die Generalversammlung hätte zusammentreten müssen, leider war das aufgrund der Pandemie nicht rechtzeitig möglich. Wir haben mit dem Vorwahlprozess begonnen und versuchen, die Generalversammlung im Mai 2022 einzuberufen. Wenn die Pandemiemaßnahmen im Mai aufgehoben werden, wird der KNK zur Generalversammlung zusammentreten. Dafür werden Vorbereitungen getroffen. Darüber hinaus wurde ein Ausschuss eingerichtet, der die Satzung und die Strategiedokumente bis zur Generalversammlung überprüft, Änderungen vorschlägt und der Generalversammlung vorlegt. Während des Wahlprozesses werden Kontakte zu allen kurdischen Parteien, Institutionen und Organisationen geknüpft und nach Möglichkeit Interviews mit Einzelpersonen geführt.

Abschließend wurde sich mit Planung des anstehenden Prozesses beschäftigt und eine Detailplanung erstellt. Insbesondere ist eine diplomatische Kampagne geplant, die von den USA bis Russland und von Europa bis zum Nahen Osten reicht.“