Die Wahlen am 14. Mai sind eine tiefgreifende politische Erschütterung im System des türkischen Staates. Zum ersten Mal muss der Regimechef in eine Stichwahl gehen. Dennoch ist es den demokratischen Kräften und der Opposition nicht gelungen, Erdoğan im ersten Wahlgang zu besiegen. Vor dem Hintergrund des Wahlergebnisses setzt sich die KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) kritisch mit dem Wahlkampf auseinander. Sie betont, dass das offiziell gezeigte Ergebnis nicht der Realität entspreche und das Erdoğan-Regime zu massivem Betrug und Manipulation gegriffen habe. Dennoch kritisiert die KCK auch Unzulänglichkeiten auf Seiten der demokratischen Opposition. Die KCK erklärt: „Am 14. Mai 2023 fanden in Nordkurdistan und der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Aufgrund der Gefahr, die der AKP/MHP-Faschismus für das kurdische Volk sowie für die Gesellschaft und die Völker der Türkei insgesamt darstellt, wurden die Wahlen am 14. Mai als sehr wichtig betrachtet und sind seit Monaten das wichtigste Thema in der Türkei und Nordkurdistan. Als kurdische Freiheitsbewegung haben auch wir den aktuellen Prozess mit Hinblick auf die Tatsache, dass die Gesellschaft in der Türkei, die demokratischen Kräfte, die Arbeiter:innen, die Frauen, die Jugend, ja alle demokratischen Teile der Gesellschaft ihren Willen gegen den Faschismus deutlich gemacht haben, positiv bewertet und betrachten ihn dementsprechend.
„Kurdistan wurde zum Zentrum des demokratischen Kampfes“
Die AKP/MHP-Regierung hat all ihre staatlichen Mittel und jede erdenkliche Methode von Zwang, Unterdrückung und Gewalt eingesetzt, um zu verhindern, dass der Willen der demokratischen Teile der Gesellschaft, insbesondere des kurdischen Volkes, sich an den Urnen zeigt. Aber das patriotische Volk Kurdistans hat die Unterdrückung und Gewalt überwunden und einen großen Erfolg erzielt, indem es bei den Wahlen erneut seinen eisernen Willen gezeigt hat. Wir können ohne zu zögern sagen, dass unser Volk bei den Wahlen am 14. Mai eine deutliche Haltung gegen den AKP/MHP-Faschismus an den Tag gelegt und dem mörderischen Kolonialregime eine historische Lektion erteilt hat. Wir möchten in diesem Sinne dem patriotischen Volk Kurdistans von ganzem Herzen zu diesem bedeutenden und historischen Erfolg gratulieren. Unser Volk hat sich in keiner Weise dem Faschismus gebeugt und Kurdistan zum Zentrum des legitimen Kampfes für die Demokratie gemacht. Diese Haltung unseres Volkes ist ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg zum Ende des Faschismus. Es ist absolut deutlich, dass die Bedeutung Kurdistans für die Demokratisierung der Türkei und die Befreiung der Gesellschaft aus den Klauen des Faschismus in der bevorstehenden Zeit von allen besser verstanden werden wird und dass Kurdistan in diesem Sinne eine historische Rolle spielen wird.
„Die Frauen führten den Wahlkampf an“
Die aktive Beteiligung von Frauen, ihre Führungsrolle im Wahlkampf und ihre starke Vertretung bei den gewählten Kandidat:innen sind sehr bedeutende und wunderbare Entwicklungen. Wir sehen dies als sehr positives Ergebnis unserer Überzeugung vom Willen der Frau und ihrer gleichberechtigten Vertretung. Daher möchten wir allen Frauen zu den erzielten Wahlergebnissen gratulieren und unsere Glückwünsche übermitteln.
„Die Wahlen fanden unter extremer Repression statt“
Die Wahlen vom 14. Mai fanden unter einem von antidemokratischen Repressalien dominierten Klima statt. Das AKP/MHP-Regime, in dessen Händen sich die ganze Macht des Staates befindet, versuchte durch Intensivierung der Repression überall in der Türkei, jeglichen Ausdruck des demokratischen Willens der Gesellschaft zu verhindern. Aber die Unterdrückung in Kurdistan und gegen das kurdische Volk war noch massiver. Das Hauptziel des türkischen Staates ist die Vernichtung des kurdischen Volkes. Daher setzte der Staat seinen ganzen Apparat in Bewegung, führte die Unterdrückung pausenlos fort und steigerte diese sogar noch im Wahlprozess.
Das AKP/MHP-Regime zielt mit seinem Liquidations- und Vernichtungskonzept, das als ‚Niederwerfungsplan‘ [2014 noch während des Friedensprozesses beschlossener Plan des türkischen Staates, der auf ein Ende des Friedensprozesses abzielte und eine vollständige Vernichtung der kurdischen Freiheitsbewegung beinhaltet und unter anderem in die Massaker in den kurdischen Städten mündete] konzipiert und ab dem 24. Juli 2015 umgesetzt wurde, darauf ab, Willen und Existenz des kurdischen Volkes vollständig auszulöschen. Im Rahmen dieses Genozid- und Liquidationskonzepts ist die kurdische Freiheitsbewegung und das kurdische Volk einer in der Geschichte beispiellosen Politik der Unterdrückung und Gewalt ausgesetzt. Zehntausende von Menschen wurden festgenommen, verhaftet und gefoltert, und Dutzende patriotische Menschen wurden ermordet. Es wurde versucht, die Gesellschaft durch Unterdrückung, Gewalt und Hunger einzuschüchtern und zu disziplinieren. Es gibt keine patriotischen Menschen mehr in Kurdistan, gegen die nicht ermittelt und die nicht vor Gericht gestellt wurden.
Bewertung der Wahlen unter Berücksichtigung der Repression
Der Wille des Volkes wurde immer wieder geraubt, die demokratisch legitimierten Institutionen des Volkes wurden gestohlen, legitime Vertreter:innen wurden verhaftet und an ihrer Stelle wurden die Zwangsverwalter des Faschismus eingesetzt. Die Menschen in Kurdistan wurden durch Festnahmen, Verhaftungen und Unterdrückung daran gehindert, irgendwelche Positionen einzunehmen oder überhaupt zu arbeiten. Menschen, die sich für demokratische Institutionen und eine demokratische Politik einsetzten, wurden wieder und wieder festgenommen und verhaftet. Auf diese Weise wurden die Institutionen des Volkes sabotiert und der Weg für demokratische Politik versperrt. Dem kurdischen Volk, den demokratischen Sektoren der Türkei, den Arbeiter:innen und den Frauen sollten über das Schließungsverfahren gegen die HDP jede Alternative genommen werden. So sollten sie de facto von den Wahlen ausgeschlossen werden. In einem solchen Umfeld fanden die Wahlen in der Türkei statt. Eine korrekte Bewertung der Wahlen kann nicht vorgenommen werden, ohne die Unterdrückung und Politik in der Türkei im Allgemeinen und in Kurdistan im Besonderen zu berücksichtigen.
Der AKP/MHP-Faschismus setzte diese Politik der Unterdrückung und Gewalt auch während des Wahlprozesses fort und verstärkte sie, je näher die Wahlen rückten. Unmittelbar vor den Wahlen wurden umfangreiche politische Festnahmeoperationen durchgeführt, und Dutzende von Journalist:innen, Anwält:innen, Politiker:innen und aktiv am Wahlprozess Beteiligte wurden festgenommen und verhaftet. Ziel dieser Operationen war es, die Bevölkerung einzuschüchtern und demokratische Wahlaktivitäten und -vorbereitungen zu verhindern und aufzulösen. Trotz des Drucks, der Einschüchterung und der Operationen, die kurz vor den Wahlen stattfanden, hat das Volk seine demokratische Haltung nicht aufgegeben und dem Faschismus bei den Wahlen einen schweren Schlag versetzt. Das Volk hat die demokratischen Kräfte und die demokratischen Kandidatinnen und Kandidaten stark unterstützt und die ohnehin schwache Präsenz der AKP/MHP in Kurdistan weiter ausgedünnt. De facto hat es verhindert, dass der Faschismus in Kurdistan eindringt.
„Die Ergebnisse sind nicht so, wie sie dargestellt werden“
Die Ergebnisse der Wahlen entsprechen nicht den veröffentlichtlichten Zahlen. Der AKP/MHP-Faschismus hat nicht nur versucht, mit Mitteln der Unterdrückung und Gewalt zu verhindern, dass der demokratische Wille des Volkes zum Ausdruck kommt, sondern hat auch die Ergebnisse der Wahlen durch alle möglichen Tricks und Betrügereien verfälscht. Das AKP/MHP-Regime hat zu allen Arten von Betrug gegriffen, um das Ergebnis, das das kurdische Volk, die Völker und demokratischen Teile der Gesellschaft in der Türkei trotz aller Arten von Unterdrückung und Gewalt erreicht haben, auszulöschen. Es ist öffentlich bekannt geworden, dass massive Manipulationen stattgefunden haben und Stimmzettel und Listen mit Wahlergebnissen verfälscht wurden. Aber das, was aufgedeckt und öffentlich bekannt wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs. Es wurde öffentlich unwiderlegbar bekannt, dass Hunderttausende von Stimmen in Kurdistan für ungültig erklärt und viele weitere durch Manipulation den Listen anderen Parteien zugeordnet wurden, insbesondere um die kurdenhassende faschistische MHP stark aussehen zu lassen. Daher entsprechen die tatsächlichen Wahlergebnisse nicht den veröffentlichten Ergebnissen. Die offiziellen Ergebnisse bedeuten nichts anderes, als dass sie beweisen, in welchem Ausmaß die AKP/MHP-Regierung den Willen des Volkes usurpiert hat.
Der AKP/MHP-Faschismus führte seinen Wahlkampf auf der Grundlage von antikurdischen Ressentiments durch. Das Regime versuchte, die Massen durch Kurdenfeindlichkeit zu manipulieren und nationalistische, rassistische und chauvinistische Gefühle zu schüren. Zweifellos hat sie mit der Unterstützung intensiver Medienpropaganda und Spezialkriegsführung einen Teil der Massen in der Türkei beeinflusst und es geschafft, sie auf ihrer Seite zu halten.
Im Allgemeinen war diese Politik jedoch nicht erfolgreich, und ein großer Teil der Gesellschaft in der Türkei hat sich für eine demokratische und politische Lösung der kurdischen Frage und für ein gemeinsames Vorgehen zusammen mit der kurdischen Seite ausgesprochen. Diese Haltung stellt eine wichtige Entwicklung dar. Obwohl die nationalistischen und chauvinistischen Wahnvorstellungen in der Türkei noch nicht vollständig überwunden sind, stellen die positiven Beziehungen des kurdischen Volkes zur Gesellschaft in der Türkei eine sehr wichtige und starke Grundlage für die Demokratisierung des Landes und die Befreiung Kurdistans dar. Das kurdische Volk und die revolutionär-demokratischen Kräfte der Türkei sind mit dem Verständnis eines demokratischen Bündnisses in die Wahlen gegangen, das stellte einen Hauptfaktor für den erfolgreichen Ausgang der Wahlen dar.
„Engstirnigkeit, Konkurrenz und Oberflächlichkeit waren bedeutende Unzulänglichkeiten“
Mit einer bewussteren Herangehensweise und Arbeit wäre es zweifelsohne möglich gewesen, viel positivere Ergebnisse zu erzielen. Die Voraussetzungen und Mittel dafür waren ausreichend. Aber engstirnige und oberflächliche Ansätze verhinderten bessere Ergebnisse. Es ist wichtig, dass dies eingehend erörtert wird und die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Es war zwar eine sehr richtige und wichtige Haltung der demokratischen Kräfte, mit einem Bündnis in den Wahlprozess zu gehen, aber die Tatsache, dass dieses Bündnis eng gehalten wurde, dass es nicht auf einem Niveau gehandhabt wurde, das den Anforderungen der Phase gerecht werden konnte, dass die Haltung, sich mit kleinen Ergebnissen zu begnügen, nicht ausreichend überwunden wurde und dass im Ergebnis die demokratischen Kräfte eine konkurrierende Haltung einnahmen, obwohl sie überall und zu jeder Zeit geschlossen gegen den Faschismus hätten kämpfen müssen, muss als eine wichtige Unzulänglichkeit angesehen werden. Wir sind davon überzeugt, dass der demokratische politische Sektor und die sozialistischen und demokratischen Kräfte der Türkei den Wahlprozess unter diesem Gesichtspunkt analysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen werden.
„Der Faschismus in der Türkei wird mit Sicherheit besiegt“
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Kampf für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage, für die Demokratisierung der Türkei und für die Befreiung Kurdistans auch in Zukunft mit großer Kraft geführt werden wird. Wir glauben, dass das kurdische Volk und alle Völker der Türkei, die Frauen und die Arbeiter:innen diesen Kampf weiter verstärken und ihn mit noch stärkeren Bündnissen und Formen der Einheit zum Erfolg führen werden. Als Bewegung werden wir diesen Prozess unterstützen und unseren Kampf ununterbrochen fortsetzen. Der Faschismus wird in der Türkei definitiv gestürzt und die Türkei wird demokratisiert werden. Der Faschismus hat den Völkern und der Menschheit insgesamt keine Zukunft zu bieten. Er wird nur zur Zerstörung führen. Die Zukunft der Türkei und Kurdistans wird durch den Kampf der Völker, der demokratischen Kräfte und der Frauen bestimmt und gestaltet. Die Ergebnisse der Wahlen zeigen deutlich, dass dies der Fall sein wird. Aus dieser Überzeugung heraus möchten wir dem patriotischen Volk Kurdistans, den Frauen und den demokratischen Kräften der Türkei noch einmal zu dem Erfolg bei den Wahlen gratulieren, unsere Grüße übermitteln und ihnen weiterhin viel Erfolg wünschen.“