Die Eskalationspolitik der Türkei bestimmt derzeit die Berichterstattung in den Medien. Aus aktuellem Anlass hat Murat Karayilan vom Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Radiosender Dengê Welat die aktuellen Konflikte eingeschätzt. Karayilan erklärte mit Blick auf die Strategie des türkischen Staates in Kurdistan, Syrien, Libyen, im Irak und im Mittelmeer, dass das AKP/MHP-Regime eine kontrollierte Eskalationspolitik betreibe. Für seinen Machterhalt brauche Erdoğan handhabbare Krisen. Innenpolitisch setze er dabei auf seine Großmachtfantasie einer Türkei mit der Rolle als Führungsmacht in der Region, um die Bevölkerung über Defizite und Zwangslagen hinwegzutrösten. Am einfachsten gelinge dies durch die Polarisierung der Gesellschaft. „Das Regime appelliert an nationalistische Gefühle, um einen Großteil der Bevölkerung gegen einen äußeren Feind zusammenzuschweißen und so in einen Tiefschlaf zu versetzen“, sagte Karayilan. Außenpolitisch werde durch das ständige Gerede über die „Verteidigung der türkischen Souveränität“ und eine verschärfte Kampfrhetorik auf ein inzwischen klassisches Instrument zurückgegriffen, das im Zweifelsfall keinen Entscheidungsspielraum lässt. „Aber in Libyen steckt das türkische Regime in einer Sackgasse, in Syrien ist die Situation ähnlich ausweglos für Erdoğan. Auch im Gasstreit mit Athen ist keine Entspannung in Sicht, denn Griechenland hat den Beistand der EU. Erdoğan bekommt keine Bewegung in seine festgefahrene Position. Mit anderen Worten: Diese Bemühungen des türkischen Staates werden das AKP/MHP-Regime nicht vor dem Zusammenbruch retten können“, so Karayilan.
Wahrnehmungsperspektive auf Bedrohung durch Türkei lenken
Zur Kooperation zwischen der PDK und dem AKP/MHP-Regime bei der türkischen Invasion in Südkurdistan formulierte Karayilan deutliche Kritik in Richtung Barzanî-Clan. In Bezug auf einen jüngst an die kurdische Regionalregierung gerichteten Appell der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Hewlêr solle sich nicht zur „Mittäterin der türkischen Völkermordpolitik“ machen und sich in keiner Weise an den Angriffen beteiligen, erklärte Karayilan, dass die PKK voll und ganz hinter diesen Aussagen stehe. „Der Aufruf enthält wichtige Punkte und sollte sowohl als Warnung als auch als ein Aufruf zur Lösung verstanden werden. Der Text zeichnet ein Bild des gegenwärtigen Zustands und formuliert die Mittel und Wege, die Situation zu überwinden. Bisher hat die PDK-Administration keine Reaktion gezeigt. Zwar haben einige ihrer Komponenten Stellungnahmen abgegeben, die an Racheakte erinnern, aber das sind nicht die Antworten, die wir erwarten. Perspektiven für eine nachhaltige Lösung von Problemen auf diese Weise zu entwickeln, ist ohnehin nicht möglich. Es braucht aber eine Lösung, da wir ein sehr ernstzunehmendes Problem haben. In Kurdistan spielen sich tiefgreifende Prozesse ab, es geht nicht um gewöhnliche Fragen. Sollten wir unsere Wahrnehmungsperspektive nicht darauf lenken, dass die Vertiefung der innerkurdischen Konflikte und die Spannungen zwischen Hewlêr und der irakischen Zentralregierung in Bagdad möglicherweise mit diesen Prozessen in Verbindung stehen?“
PDK bereitet Boden für innerkurdischen Krieg
Karayilan sagte, der Mittlere Osten befinde sich in einer „historischen Phase“ der Neuordnung. Die Kurden stünden mit dem Anspruch, sich an diesem Prozess zu beteiligen, ebenfalls auf der Bühne. „Dass sich die PDK zu einer Zeit wie dieser am Plan der Türkei, die PKK zu zerschlagen, beteiligt, ist fatal. Wir können diese Situation mit der des Nasreddin Hodscha vergleichen, der eines Tages auf einen Baum stieg und plötzlich begann, den Ast, auf den er sich gesetzt hatte, abzuhacken und herunterfiel. Diese falsche Politik der PDK wird gefährliche Dinge hervorbringen. Etwas, das weder wir noch die Bevölkerung wollen, geschweige denn über die Lippen bringen. So eine Politik bereitet den Boden für einen innerkurdischen Krieg vor. Sie kann dazu führen, dass das kurdische Volk wie bereits im 20. Jahrhundert wieder sowohl strategisch als auch politisch verlieren wird. Um das zu vermeiden, müssen alle Seiten verantwortungsbewusst handeln. Wir reden nicht von einem Konflikt zwischen zwei Parteien. Das Problem betrifft ganz Kurdistan und die Zukunft des kurdischen Volkes.“
Westen rüstet türkisches Militär hoch
Karayilan sprach auch die Rolle Deutschlands und anderer westlicher Staaten bei den Kriegen der Türkei in Kurdistan an. Vor allem die Bundesregierung hat durch die Lieferung von Gefechtsköpfen dem Regime in Ankara massiv dabei geholfen, selbst moderne bewaffnete Drohnen zu produzieren, die bei Massakern gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden.
„Der Widerstand unserer Bewegung richtet sich nicht lediglich gegen den türkischen Staat. Von Beginn an ist die Türkei in ihrem Krieg gegen uns von der NATO unterstützt worden. Diese Hilfe hält heute noch an, wenn auch eher über diverse sogenannte Stay-behind-Organisationen. Ich will damit sagen, dass der türkische Staat stets auf die Unterstützung von außen zählen kann. Aktuell tauchen in den Medien Dokumente über die Beteiligung Deutschlands und Kanadas sowie einiger Firmen in Großbritannien und in den USA an der Produktion der türkischen Drohnentechnologie auf. Diese Sache wurde auch auf Bundestagsebene thematisiert. Es kann nicht länger geleugnet werden: Die genannten Staaten und ihre Firmen haben der Türkei die nötige Technik für bewaffnete Drohnen geliefert. Auf sich allein gestellt wäre der türkische Staat noch nicht mal in der Lage, einen Generator zu bauen. Wie sollte er es dann fertigbringen, hochtechnologische lasergesteuerte Raketen- und Drohnensysteme inklusive Messung der Geschwindigkeit und Bewegung des Zielobjekts zu produzieren, wenn dieses Land noch nicht mal über ein mittelmäßiges heimisches Auto verfügt? Schamlos wird von Drohnen aus „heimischer Produktion“ geprahlt. Das ist nicht richtig. Ohne Einzelteile aus dem Ausland für die bewaffneten Drohnen des türkischen Militärs, die gegen uns eingesetzt werden, wäre die Türkei aufgeschmissen.“
Deutschland soll Kurdenfeindlichkeit ablegen
Ob mittels Leopard-2-Panzern oder Technik für Kampfdrohnen, Deutschland und Kanada sind mitverantwortlich für türkische Massaker in Kurdistan, führte Karayilan weiter aus. Der Bundesregierung warf das PKK-Exekutivratsmitglied „Kurdenfeindlichkeit“ vor. „Deutschland sollte ein für alle Mal seine feindliche Gesinnung dem kurdischen Volk gegenüber ablegen. Beim Giftgasangriff auf Helebce [Halabja] sind tausende Kurden massakriert worden. Später wurde bekannt, dass Saddam Hussein die für das Massaker benötigte Technik aus Deutschland geliefert bekam. Der Saddam von heute ist Erdoğan – dem die Bundesregierung wieder ihre Dienste erweist. Welches Recht bildet sich Deutschland ein zu haben, auf diese Weise Schützenhilfe für faschistische Massaker an der kurdischen Bevölkerung zu leisten? Es ist großes Unrecht, das Deutschland den Kurden antut. Es ist eine Grausamkeit. Der Westen erlaubt Regimen von Diktatoren wie Saddam Hussein und Erdogan, unser Volk für Geld oder imperialistische Interessen abzuschlachten. Gerade unter diesem Aspekt gewinnt der Widerstand unseres Volkes und unserer Bewegung eine größere Bedeutung. Gegen das kurdische Volk wird eine internationale Hegemonialpolitik verfolgt. Und dagegen setzen wir uns zur Wehr.“