Juristischer Rachefeldzug wegen Gedenken an Seyit Riza

Geht es nach der Staatsanwaltschaft in Dersim, gehören Gedenken für Seyit Riza verboten. Kaum ist der 84. Jahrestag der Hinrichtung des Vordenkers des Dersim-Widerstands vorbei, hagelt es Ermittlungsverfahren wegen „Lob für Straftaten und Täter“.

Die Oberstaatsanwaltschaft in der nordkurdischen Provinz Dersim hat einen juristischen Rachefeldzug gegen eine Reihe von Vertreterinnen und Vertretern politischer Parteien und zivilgesellschaftlicher Organisation eingeleitet. Der Vorwurf: „Lob für Straftaten und Täter“. Das vermeintliche Verbrechen: Verteilen von Flugblättern zum Gedenkprogramm anlässlich des 84. Jahrestags der Hinrichtung der Eliten des Widerstands gegen die Türkisierung von Dersim.

Betroffen von der juristischen Schikane sind unter anderem die Ko-Vorsitzenden des Provinzverbands der HDP, Ibrahim Kasun und Nurşat Yeşil, die Ko-Vorsitzende des Bezirksverbands in Zentral-Dersim, Özlem Toprak, die Lokalpolitikerin Yasemin Söylemez aus dem Provinzvorstand der Partei, Hıdır Yılmaz vom Verband der demokratischen Aleviten-Vereine (DAD), sowie Selman Yeşilgöz, Vorsitzender des Zentrums für Dersim-Studien (DAM). Ihnen und weiteren Personen aus der Provinz wird nun nach Paragraf 215 des türkischen Strafgesetzbuches der Prozess gemacht. Der Artikel, in dem es heißt „Wer eine Straftat oder einen Täter in aller Öffentlichkeit lobt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft“, soll das Rechtsgut des öffentlichen Friedens schützen und ein psychisches Klima, in dem Verbrechen gedeihen können, verhindern. Nach deutscher Rechtsprechung entspricht der Artikel § 140 StGB (Belohnung und Billigung von Straftaten).

Hinrichtung der Eliten von Dersim

Am 15. November 1937 wurden Seyit Riza, der geistliche und tribale Vordenker des letzten großen Aufstands der Kurdinnen und Kurden nach Gründung der türkischen Republik, sein Sohn Resik Ûşen und seine fünf Weggefährten Wusênê Seydi, Aliye Mirzê Sili, Hesen Ağa, Fındık Ağa und Hesenê Ivraimê hingerichtet. Die Todesurteile waren zuvor in einem Schauprozess in Xarpêt (tr. Elazığ) beschlossen worden, zur Durchführung hatte Ankara den späteren Außenminister der Türkei, İhsan Sabri Çağlayangil, als Sonderbeauftragten in die Provinz entsandt. Das fliegende Gericht tagte in einem Kinosaal, das Publikum musste wie bei einer Filmvorführung eine Eintrittskarte kaufen. Um die Hinrichtungen vollstrecken zu können, war das Alter des minderjährigen Resik Ûşen heraufgesetzt worden. Der 75-jährige Seyit Riza wurde vom Gericht fünf Jahre jünger gemacht.

Mindestens 70.000 Tote

Nach der Vollstreckung der Todesurteile ruhten die Auseinandersetzungen in Dersim bedingt durch einen sehr strengen Winter. Im Frühling 1938 nahm die türkische Armee ihre Operation „Züchtigung und Deportation“ mit großer Härte wieder auf. Mindestens 70.000 Menschen – die meisten Quellen sprechen von weitaus mehr Opfern – der damals knapp 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner Dersims wurden im Verlauf des Genozids ermordet, tausende weitere vertrieben oder deportiert. Für die Menschen in Dersim erhält dieser Völkermord eine ähnlich große Bedeutung wie jener von 1915 für die armenische Gesellschaft. Keine Familie und kein Dorf blieben von den Verbrechen durch das türkische Militär verschont. Und kein anderes Thema hält die Menschen als Schicksalsgemeinschaft so fest zusammen.