Iran: Größte Widerstandsallianz seit 1979

Sowohl der Volksaufstand als auch die Repression im Iran gehen weiter. Der iranische Aktivist Araz Baghban unterstreicht, damit sich der Aufstand zu einer Revolution entwickelt, müsse ein quantitativer und qualitativer Sprung stattfinden.

Der Aufstand im Iran und Ostkurdistan dauert seit der Ermordung von Jina Amini durch die Sittenpolizei des Mullah-Regimes ungebrochen an. Täglich finden in vielen Städten Massenproteste, aber auch viele Spontanaktionen statt. Das Regime eröffnet immer wieder das Feuer auf die Aktivist:innen und hat bereits hunderte Menschen getötet. 227 Abgeordnete des iranischen Parlaments forderten die Todesstrafe gegen alle festgenommenen Demonstrant:innen. Erste Todesurteile sind ergangen. Im ANF-Interview äußert sich der in der Türkei lebende iranische Aktivist Araz Baghban zu den Entwicklungen.

Entgegen früheren Widerstandserfahrungen haben die Proteste und Widerstandsaktionen im Iran und Ostkurdistan diesmal einen sehr langen Atem. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?

Die Proteste im Iran, die Ende 2017 gegen die Lebenshaltungskosten begannen, entwickelten sich damals ebenfalls zu einem Aufstand. Die Straßenproteste wurden im Januar 2018 fortgesetzt. Im November 2019, nach einer 200-prozentigen Erhöhung der Benzinpreise, gingen die Menschen erneut auf die Straße, um ihren Unmut kundzutun. Diese Erhöhung bedeutete nicht nur eine Verdreifachung des Benzinpreises, sondern der Anstieg schlug sich auch sofort auf die Preise anderer grundlegender Konsumgüter nieder. Daher richteten sich beide Proteste gegen die Lebenshaltungskosten. Obwohl die Proteste während dieser beiden Aufstände in großen Städten stattfanden, waren es die kleinen, armen Städte, die die Träger der Bewegung waren. Die Slogans beschränkten sich jedoch nicht auf wirtschaftliche Forderungen.

Diese Aufstände konnten in den Großstädten jedoch keine Massenbasis finden, aber sie hatten ein wichtiges Ergebnis. Die armen werktätigen Schichten, die von der Mittelschicht und den oberen Schichten als Basis der Islamischen Republik angesehen werden (was meiner Meinung nach nicht richtig ist), protestierten heftig gegen das System. Der Slogan „Das Spiel der Reformisten ist vorbei“, der im November 2019 auf den Straßen widerhallte, war ein Ausdruck dieses harten Protests, oder besser gesagt, des Bruchs mit dem System. Das repressive Regime hatte in den Augen der Massen keine Legitimität mehr. Meiner Meinung nach ermöglichte dieser Bruch, dass der Aufstand, der mit der Ermordung von Jina Amini begann, sich so weit und stark ausbreiten konnte.

Obwohl sich die Gründe für den aktuellen Aufstand im Iran stark von denen der beiden vorangegangenen Aufstände unterscheiden, scheint die Straße der einzige Ausweg für die Menschen zu sein, da es keine Brücke der Kommunikation zwischen dem Volk und dem Staat mehr gibt. Einerseits die Tatsache, dass ein fundamentalistischer Islamist wie Ebrahim Raisi der Öffentlichkeit als Präsidentschaftskandidat präsentiert und in einer Wahl mit sehr geringer Beteiligung als erfolgreicher Kandidat an die Spitze der Regierung gewählt wurde; andererseits die immer rücksichtsloseren Übergriffe der Sittenpolizei auf Frauen in einer Zeit, in der die Menschen im ganzen Land um ihr Auskommen kämpfen, spielten dabei eine wichtige Rolle. Der Tod einer jungen Frau nach Folter durch die Sittenpolizei, weil sie keinen „richtigen“ Hidschab trug, hat erneut gezeigt, wie weit sich der Staat von den Menschen entfernt hat. Wenn wir also die 43 Jahre der dunklen Geschichte der Islamischen Republik betrachten, können wir feststellen, dass alle Frauen, Werktätigen, ethnischen und religiösen Gruppen, die im Iran leben und nicht organisch mit dem System verbunden sind, sich das gemeinsame Ziel gesetzt haben, dieses System zu verändern. Dies ist die größte Allianz gegen das System seit der Revolution von 1979.

In den türkischen Medien ist die Rede davon, dass 15.000 Aktivist:innen zum Tode verurteilt worden seien. Was steht dahinter?

Da man nicht weiß, wie die Staatsorgane im Iran funktionieren, können wir manchmal sehen, dass eine symbolische Geste oder Erklärung im Iran große Auswirkungen in der Türkei hat. So sagte beispielsweise vor zwei Wochen ein Kommandeur der Revolutionsgarden: „Der Aufstand ist vorbei, gehen sie ab morgen nicht mehr auf die Straße“, was in den türkischen Medien großes Aufsehen erregte. Die Kommentare reichten von „Diese Erklärung ist ein Wendepunkt für den Aufstand im Iran“ bis zu „Die Revolutionsgarden übernehmen die Kontrolle über die Situation, um den Aufstand zu beherrschen“. Das hatte nichts mit der Realität im Iran zu tun. Ich denke, dass dieses „Todesurteil für 15.000 verhaftete Demonstranten" ebenfalls falsch interpretiert wird.

Das iranische Parlament hat vor kurzem eine Sitzung über den Aufstand abgehalten. In dieser Sitzung forderten 227 Abgeordnete die Justiz auf, die Demonstrant:innen als „Kombattanten“ (wegen „Schaffung eines Klimas der Unsicherheit durch bewaffnete Angriffe auf die Bevölkerung“) anzuklagen und die Todesstrafe gegen sie zu verhängen. Dabei handelt es sich um eine Petition der Abgeordneten, die keine verbindliche Entscheidung für die Justiz darstellt. Sie sollte die Bevölkerung einschüchtern und zeigen, dass Parlament und Regierung geschlossen gegen die Rebellion vorgehen.

Ich finde es normal, dass ein Gebilde, dessen Fundament auf Massakern beruht, bereit ist, jede Art von Mord zu begehen, um sich selbst zu schützen. Das Bild, das wir in letzter Zeit gesehen haben, zeigt jedoch, dass der iranische Staat dies unter den bestehenden Bedingungen nicht wagen wird. Zurzeit führt jeder Tod im Iran zu einer neuen Serie von Aktionen und dazu, dass sich noch mehr Gruppen an der Rebellion beteiligen. Da der Staat dies weiß, übt er Druck auf die Familien der von den Sicherheitskräften auf der Straße getöteten jungen Menschen aus und bringt sie dazu, zu behaupten, dass ihr Tod natürlichen Ursprungs war. Er bringt sie so ins Fernsehen. In einem solchen Umfeld hat der Staat nicht die Macht, die Hinrichtung von 15.000 Menschen zu rechtfertigen.

Acht der Tausenden, die während des Aufstandes im Iran verhaftet wurden, werden im Moment als „Gottesfeinde“ angeklagt. Die Petition dieser 227 Abgeordneten mobilisierte natürlich die im Iran ansässigen Menschenrechtsorganisationen, die begannen, die Welt über die lebensbedrohliche Situation dieser Gefangenen zu informieren. Es besteht jedoch nicht ernsthaft die Sorge, dass ein solcher Mord an Tausenden von Menschen in Gefängnissen begangen werden wird.

Es ist mittlerweile häufig zu beobachten, dass viele Frauen im Iran keine Kopftücher mehr tragen. Ist das nur im Rahmen der Proteste so oder gibt es auch eine Veränderung im zivilen Leben?

Ich verfolge die Situation im Iran aus der Ferne. Mein Privileg ist, dass ich lange im Iran gelebt habe, die Islamische Republik genau kenne und Farsi spreche. Da die Quellen, denen ich folge, aus erster Hand stammen, kann ich mehr oder weniger wahrnehmen, wie sich das gesellschaftliche Leben entwickelt.

Ja, der Aufstand beschränkt sich nicht auf Straßenproteste. In den virtuellen Medien sehen wir, dass Frauen ohne Kopftuch auf die Straße gehen, ohne Angst zu haben. Ich denke, die Rebellion hat einen großen Anteil daran. Die Frauen stehen an der Spitze der Proteste und kämpfen gegen die bestehenden Strukturen. Wir erleben Proteste, an denen sich viele Frauen beteiligen, sowohl auf der Straße als auch in Schulen (Gymnasien und Universitäten). Dieser Kampfgeist spiegelt sich natürlich auch im alltäglichen Leben der Frauen wider. Vor allem in einigen Stadtteilen Teherans können sich Frauen freier bewegen.

Hat das eine Auswirkung?

Die iranische Gesellschaft ist im Allgemeinen eine konservative Gesellschaft, ganz gleich, was passiert. Die Mullahs sind ein wichtiger Teil insbesondere der schiitischen Gemeinschaft. Mit dem Aufkommen des politischen Islams nach der Revolution genossen die Mullahs trotz aller Praktiken, Morde und Unterdrückung durch den Staat in den Augen des Volkes immer noch ein gewisses Ansehen. Mit dem jüngsten Aufstand wird jedoch deutlich, dass auch dieses Segment stark an Wert verloren hat. Die Mullahs sind in den Augen des iranischen Volkes keine religiösen Figuren mehr, sondern eine Verlängerung der Islamischen Republik und ihre Manifestation im täglichen Leben. Das zeigt sich vor allem in der Reaktion der jüngeren Generation, welche die Mullahs nur als Ausdruck der Repression betrachten und ihnen bei Aktionen die Turbane vom Kopf stoßen.

Zusätzlich zu diesen Aktionen veranstalten die Schüler:innen und Studierenden während des gesamten Aufstands verschiedene Aktionen in den Gymnasien und Universitäten. Bei diesen Aktionen zeigen junge Frauen, in der Regel ohne Kopftuch, in schriftlicher oder mündlicher Form ihre Ablehnung gegenüber der Islamischen Republik. Der Aufstand spiegelt sich auch in der Musikproduktion wider. Ständig entstehen neue Lieder und Hymnen der Rebellion oder es werden alte revolutionäre Hymnen neu interpretiert. Mit anderen Worten: Es haben sich neue Aktionsformen herausgebildet. Neben diesen Aktionen, die von jungen Menschen im Allgemeinen durchgeführt werden, gibt es auch Streiks. Abgesehen von der Arbeitsniederlegung einer begrenzten Zahl von Industriearbeitern haben die Streiks in kurdischen und belutschischen Städten bisher in der Regel in Form von Schließungen von Läden stattgefunden. Vielleicht werden wir bald Zeugen einer neuen Aktionsform, wie wir sie noch nie zuvor gesehen haben. Einerseits nähren sich diese neuen Aktionsformen vom Aktivismus auf der Straße, andererseits nähren sie die Aktionen auf der Straße. So bleibt das Feuer der Rebellion erhalten.

Glauben Sie, dass das Regime einen Schritt zurückmachen wird?

Bislang hat die Islamische Republik nicht nachgegeben. Sie hat versucht, den Aufstand mit allen verfügbaren Mitteln zu unterdrücken, und tut dies auch weiterhin. Wir sind Zeugen eines brutalen Angriffs der Sicherheitskräfte auf die Straßenproteste. Der Staat behandelt die Menschen auf der Straße wie Feinde, insbesondere in der Provinz Belutschistan. Auch die Verhaftungen werden in großem Umfang fortgesetzt. Bislang wurden Hunderte von Menschen getötet, und Tausende Menschen werden unter Verletzung der Gesetze der Islamischen Republik Iran in Gefängnissen festgehalten. Menschenrechtsorganisationen berichten von mehreren Toten und zahlreichen Verhaftungen pro Tag.

Wir haben bisher noch keine Risse in der Struktur der Islamischen Republik gesehen. Sie unterdrückt die Rebellion weiterhin entschlossen, auch wenn der Widerstand länger dauert, als sie erwartet hat. In den letzten Wochen haben die Ordnungshüter in einigen Städten wieder damit begonnen, sich an der Kleidung der Frauen zu vergreifen. Sie handeln in dem Bewusstsein, dass ein Schritt zurück weitere Schritte zurück auslösen kann. Die derzeitige Situation scheint jedoch in eine Sackgasse geraten zu sein. So wie es aussieht, reicht die Macht des Volkes nicht aus, um die Struktur der Islamischen Republik zu verändern, und andererseits ist die Islamische Republik nicht in der Lage, den Volksaufstand zu unterdrücken.

Doch wie auch immer der Aufstand ausgeht, für die Islamische Republik läuten die Alarmglocken. Seit den letzten Tagen des Jahres 2017 hat die Serie von Aufständen die Legitimität der Islamischen Republik in den Augen der Bevölkerung ernsthaft in Frage gestellt und ihren Grundfesten einen schweren Schlag versetzt. Es scheint, dass es nicht möglich sein wird, diese Wunden zu heilen.

Es ist nicht leicht, den Fall der religiösen Tyrannei im Iran vorherzusehen. Das System ist immer noch sehr stark. Um diese Struktur zu verändern, brauchen die Menschen einen echten Wendepunkt im Prozess der Revolte. Damit die Revolution stattfinden kann, müssen möglicherweise verschiedene Etappen überwunden werden, wie zum Beispiel der Aufbau einer Massenbasis des Aufstands wie 1978, die Bildung lokaler Komitees oder Organisationen durch das Volk, den Beginn und die breite Fortsetzung von Generalstreiks in der Industrie. Vor allem ein allgemeiner Mangel an Organisierung verhindert, dass diese Revolte sich verstetigt. Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass alle diese Bedingungen erfüllt werden. So kann es beispielsweise ausreichen, dass Millionen von Menschen auf die Straße gehen, wie es 2011 in Ägypten geschah. Um jedoch zu einer Revolution zu werden, muss der Aufstand in dieser Phase einen quantitativen und qualitativen Sprung vollziehen.