Harbo: Das Ziel ist ein politischer Status für Şengal

Die Anerkennung des IS-Genozids durch die UN oder Regierungen darf nicht länger ein protokollarischer Akt bleiben. Es ist wichtig, dass daraus praktische Schritte folgen, sagt Faris Harbo vom autonomen Volksrat Şengal. Ein Anfang wäre ein Status.

Der Kurdistan-Report hat für seine aktuelle Ausgabe mit dem ezidischen Politiker Faris Harbo über die politische Situation in Şengal gesprochen. Harbo ist Mitglied des Volksrates von Şengal und Sprecher des Diplomatie-Komitees. Seit dem durch die Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) verübten Genozid an den Ezidinnen und Eziden im August 2014 kämpft die Bevölkerung für einen Autonomiestatus, mit dem sie sich selbst verwalten und verteidigen kann – wie es die irakische Verfassung garantiert. Der eingeforderte Status wird der Region verwährt, denn Şengal ist ein Spielball von machtpolitischen Interessen und Profitgier.

Wie ist die aktuelle Lage im Şengal angesichts der verschiedenen Interessen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Hewlêr (Erbil)?

Wenn wir uns die Lage in Şengal ansehen ist es wichtig, dass wir dies nicht losgelöst von der Situation im Irak tun. Denn der Irak hat sich zum Zentrum all der Probleme entwickelt, die heute den Mittleren Osten prägen. Alle Akteure versuchen hier ihre Projekte und Pläne umzusetzen, insbesondere die USA, der Iran und die Türkei. Sie tun dies aufgrund der geostrategischen Bedeutung des Irak, der natürlich zugleich mit den anderen Ländern des Mittleren Ostens aufs Engste verbunden ist. Die Region Şengal befindet sich im Westen des Irak, entlang eines Teils der irakisch-syrischen Grenze. Auch die türkische Grenze ist nicht sonderlich weit entfernt. Dementsprechend haben Entwicklungen in der Region, insbesondere in diesen drei Ländern, auch direkten Einfluss auf Şengal. Der Irak leidet heute unter schweren wirtschaftlichen Problemen. Es gibt große Probleme im Bereich der Stromversorgung. Auch politische Probleme und fehlende Sicherheit prägen das Land. Es gibt wirklich eine Großzahl von Problemen im Land. Doch in Şengal sind diese Probleme nicht so akut, wie in anderen Teilen des Landes. Auf Grundlage der eigenen Möglichkeiten ist es der Bevölkerung Şengals heute möglich, das eigene Leben zu gestalten und sich mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen. Deshalb würde ich die derzeitige Situation in Şengal als gut bezeichnen. Die Region ist nicht so stark von Widersprüchen zerrüttet wie andere Teile des Landes. Auch ist Şengal geostrategisch sehr wichtig. Beide Regierungen, sowohl die irakische Zentralregierung als auch die südkurdische Regionalregierung, versuchen daher, hier ihre Interessen durchzusetzen. Sie tun das, anstatt die Interessen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zu berücksichtigen, etwa durch Infrastruktur und Sicherheit. Zugleich haben Bagdad und Hewlêr selbst widersprüchliche Interessen in Şengal. Da beide Seiten versuchen, in der Region ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen, leidet am Ende die Bevölkerung Şengals. Meines Erachtens nach ist die Politik der südkurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung nicht im Interesse der Bevölkerung Südkurdistans, des Iraks und Şengals.

Kongress des Rates der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung von Şengal (MXDŞ) im Juli 2014. Links im Bild Faris Harbo

Was fordert die ezidische Gemeinschaft und ezidische Selbstverwaltung für einen politischen Status in Şengal?

Nach dem Genozid vom 3. August 2014 wurde von der Bevölkerung Şengals ein System der Selbstverwaltung aufgebaut. Am 23. und 24. Juli diesen Jahres hat die Selbstverwaltung ihren 4. Kongress abgehalten. 250 Delegierte nahmen daran teil und wählten unter anderem die 111 Mitglieder des Volksrates. Zugleich wurden die Koordinationen des Volksrates und der Selbstverwaltung gewählt. Auch Vertreter:innen anderer Volks- und Glaubensgemeinschaften wurden auf dem Kongress als Mitglieder des Volksrates gewählt. Dazu gehören sunnitische und schiitische Araber:innen, Christ:innen und sunnitische und schiitische Kurd:innen. Das Ziel der Selbstverwaltung und des Volksrates ist es, einen politischen und administrativen Status für die Region Şengal und deren Bevölkerung zu erreichen. Zugleich sollen auch Stabilität im Bereich der Wirtschaft und Sicherheit gewährleistet werden. Es geht also um eine Autonomie für Şengal. Wir möchten dieses Ziel im Dialog mit der irakischen Zentralregierung erreichen, denn die irakische Verfassung bietet die Grundlage für die Umsetzung unserer Forderung. Unsere Forderungen entsprechen also der irakischen Verfassung. Sie stehen nicht im Widerspruch dazu. Doch der Irak selbst leidet sehr unter den politischen Konflikten und der Instabilität im Land. Deshalb ist der Einfluss der Zentralregierung begrenzt. Es ist daher unsere Ansicht, dass ein autonomer Status der verschiedenen Regionen im Irak inklusive lokaler Selbstverwaltung und Selbstverteidigung den Irak insgesamt stärken würde.

Seit dem IS-Genozid leben viele geflohene Ezidinnen und Eziden in Flüchtlingslagern. Wie ist die aktuelle humanitäre Situation in diesen Flüchtlingslagern und welche Perspektiven bestehen für eine Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimatorte?

Nach dem IS-Angriff auf Şengal und dem damit einhergehenden Genozid wurde unsere ezidische Bevölkerung in alle Teile der Welt vertrieben. Sie floh nach Rojava und Südkurdistan, aber auch in Regionen außerhalb Kurdistans. Nach der schrittweisen Befreiung der Stadt Şengal und der anderen Teile der Region in den Jahren 2015, 2016 und 2017 begann auch unsere Bevölkerung wieder zurückzukehren. Aus dem Geflüchtetencamp Newroz in Rojava bei der Stadt Dêrik sind beispielsweise alle ezidischen Familien wieder nach Şengal zurückgekehrt. Auch die Ezid:innen, die sich in Südkurdistan niederließen, kehren langsam nach Şengal zurück. Doch stellt es sich für sie als sehr schwierig dar, in ihre Heimat zurückzukehren. Der Großteil der in Südkurdistan lebenden Ezid:innen möchte unbedingt nach Şengal zurückkehren, doch die PDK übt massiven Druck auf sie aus und erlaubt ihnen die Rückkehr nicht. Die PDK benutzt die ezidischen Geflüchteten als politisches Druckmittel gegenüber dem Irak und bezieht zugleich große finanzielle und materielle Unterstützung von der UNO und zahlreichen Staaten, die für die Versorgung der Geflüchteten gedacht ist. Die PDK hat die ezidischen Geflüchteten für sich zu einem politischen Faustpfand gemacht, deshalb ist sie nicht an ihrer Rückkehr nach Şengal interessiert. Die allgemeine Situation in Şengal ist heute gut und sicher. Fast 180.000 Menschen leben in der Region. Ohne die Hindernisse, die den ezidischen Geflüchteten von Seiten der südkurdischen Bürokratie und Sicherheitskräfte in den Weg gelegt werden, würden noch deutlich mehr Menschen in den Şengal zurückkehren. Wir rufen daher alle verantwortlichen Institutionen, sowohl die irakischen Zentralregierung als auch die UN, dazu auf, Hilfe zur Verfügung zu stellen und Wege zu öffnen, damit die Geflüchteten nach Şengal zurückkehren können. Denn die Ezid:innen, die heute noch in den Geflüchtetencamps in Südkurdistan leben, leiden unter psychologischen Problemen und werden stark unter Druck gesetzt.

Nach den Niederlanden hat auch das belgische Parlament das IS-Massaker an den Ezidinnen und Eziden in Şengal 2014 als Völkermord anerkannt und verurteilt. Wie bewerten Sie diese Entscheidung und was sind die Forderungen der ezidischen Selbstverwaltung an die internationalen Institutionen, die Staatengemeinschaft und die Zivilgesellschaft?

Wir bewerten diese Entscheidungen als positiv. Auch die UN und das irakische Parlament hatten zuvor die Ereignisse vom 3. August 2014 als Genozid anerkannt. Doch reicht es unserer Ansicht nach nicht, wenn diese Entscheidungen nur ein protokollarischer Akt oder eine offizielle Erklärung bleiben. Es ist wichtig, dass daraus auch praktische Schritte in Şengal selbst folgen. So müssen die Personen, die für den Genozid verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Zentral ist zudem, dass neben der Anerkennung des Genozids auch die Selbstverwaltung Şengals offiziell anerkannt wird, also der politische, wirtschaftliche, kulturelle und sicherheitspolitische Status. Nur so wird sich verhindern lassen, dass in Zukunft ein weiterer Genozid beziehungsweise weitere Massaker stattfinden. Wir können also sagen, dass die Entscheidungen der Niederlande, Belgiens, der UN und des Iraks positiv sind, jedoch in dieser Form nicht ausreichen. Es ist daher notwendig, dass auch der zweite Schritt, also die Anerkennung der Selbstverwaltung Şengals, gemacht wird. Wir rufen daher die internationale Gemeinschaft und die irakische Zentralregierung dazu auf, die Forderungen der Ezid:innen, der Bevölkerung Şengals und der Selbstverwaltung Şengals zu unterstützen, damit sie ihre Existenz, Kultur, Werte und ihren Glauben bewahren und ihre Selbstverteidigung gewährleisten können. Ziel ist es natürlich, dies im Rahmen der irakischen Verfassung zu erreichen. Wir rufen alle dazu auf, uns bei der Umsetzung dieses Zieles zu unterstützen.