Bevölkerung von Ertemêtan zählt Tage des Zwangsverwalters

Seit zweieinhalb Jahren wird die nordkurdische Stadt Ertemêtan von einem Zwangsverwalter regiert. Der an Stelle der oppositionellen DBP eingesetzte Treuhänder hat die Stadtverwaltung demontiert. Die Bevölkerung zählt seine Tage.

Bei den Kommunalwahlen 2014 erhielten die von der Bevölkerung gewählten Kandidat*innen der prokurdischen Partei BDP (Partei des Friedens und der Demokratie, Vorgängerin der heutigen DBP), Sevil Rojbîn Çetin und Abdurrahman Sayan, mehr als 50 Prozent der Stimmen, während die AKP in der von vielen Beamt*innen bewohnten Kleinstadt Ertemêtan (Edremit) in der Provinz Wan mit 41 Prozent zurückblieb. Das Innenministerium ernannte 2015 allerdings einen Zwangsverwalter und ließ die Ko-Bürgermeisterin Rojbîn Çetin festnehmen und anschließend inhaftieren. Der Treuhänder Atıf Çiçekli ließ auf armenischen Gräbern Toiletten errichten und verbot kurdische Musik in den Geschäften, verkaufte Besitz der Stadtverwaltung zu Schleuderpreisen an AKP-Klienten und zerstört das Naturschutzgebiet am Ufer des Wan-Sees für eine kommerzielle Nutzung. Die Bevölkerung von Ertemêtan zählt die Tage bis zum 31. März, den Kommunalwahlen.

Wir sprachen mit den beiden HDP-Kandidat*innen für das Ko-Bürgermeisteramt Gülcan Kaçmaz und Medeni Özer über die Wahlen, die Zwangsverwaltung und die Projekte der HDP.

Das bekannteste Thema Ertemêtan betreffend sind die Toiletten, die der Zwangsverwalter auf einem armenischen Friedhof errichten lassen hat. Was wird damit nach dem 31. März geschehen?

Gülcan Kaçmaz: Sie werden auf jeden Fall entfernt. Es werden neue Regelungen eingeführt, welche die Sensibilitäten der unterschiedlichen Glaubensrichtungen in der Bevölkerung beachten. Das Kulturministerium hatte bereits die Entfernung der Toiletten angeordnet, aber die Stadtverwaltung hat sie dennoch nicht abgerissen. In der Türkei leben nicht nur Kurd*innen und Türk*innen. Hier haben auch Armenier*innen gelebt. Wir werden aus dem politischen Selbstverständnis der HDP heraus eine Form der Stadtverwaltung und der Dienstleistungen schaffen, welche alle Menschen, alle Völker und Identitäten einschließt. Diese Toiletten sind ein Angriff auf eine Religion, sie sind Ausdruck eines rassistischen Selbstverständnisses. Das ist für uns inakzeptabel und wir werden das Notwendige in dieser Hinsicht auf jeden Fall tun.

Sie sind jetzt seit zwei Monaten im Wahlkampf. Wie reagiert die Bevölkerung auf Sie und was fordert Sie von Ihnen?

Gülcan Kaçmaz: Seit zwei Monaten sind wir Tag und Nacht von Straße zu Straße, Dorf zu Dorf, Viertel zu Viertel unterwegs. Im Moment fordert die Bevölkerung von uns, dem Zwangsverwalter die notwendige Antwort zu geben. Das Verwaltungskonzept der HDP ist klar. Wir verwalten uns selbst und wir werden unsere Stadt selbst verwalten. Unsere Bevölkerung will sich selbst verwalten. Einige Dinge ab 2014 müssen bewertet werden. Die Stadtverwaltung von Ertemêtan hat nur sehr geringe Einkünfte. Unsere Anträge auf ein höheres Budget als Stadtverwaltung wurden in der Vergangenheit immer abgelehnt.

Wir haben zu unserer Zeit Dienstleistungsprojekte aufgebaut, aber der Treuhänder hat sie entweder gestoppt oder ganz beendet. Der Zwangsverwalter vermischt die Rollen, er behauptet, er habe alles gemacht. Das Uferprojekt ist nicht seines, es wurde zu unserer Zeit begonnen. Die jetzige Stadtverwaltung hat es lediglich fortgesetzt. Nur stand bei uns der Naturschutz im Mittelpunkt. Es ging darum, ein ökologisches Gebiet zu schaffen, in dem sich die Menschen erholen können. Aber im Moment ist es das genaue Gegenteil davon.

Erfahren Sie im Wahlkampf staatliche Repression?

Medeni Özer: Als wir im Viertel Şabaniye unser Wahlkampfbüro eröffneten, griff die Polizei mitten auf offener Straße unsere Mütter an. In Muskî (Bahçesaray) und Ebex (Çaldıran) zogen die Landräte von Haus zu Haus und bedrohten die Bevölkerung. Sie sagten, wenn ihr eure Stimme der HDP gebt, dann wisst ihr was passiert. Der Chef der zivilen Verwaltung benimmt sich, als wäre er selbst in der AKP-Leitung. Diese Haltung wird ihnen aber nichts nützen. Repression und Gewalt gegen die Bevölkerung stellen keine Lösung dar. Die Regierung muss von dieser Politik Abstand nehmen. Durch Einschüchterung der Kurden wird sie nichts erreichen.

Die HDP ist eine Partei, die unter der Führung von Frauen groß wurde. Wie wird Ihre Frauenpolitik nach dem 31. März sein?

Gülcan Kaçmaz: Ich möchte zunächst einmal ein paar Arbeiten aus der vergangenen Periode auflisten. Nach 2014 wurde eine stellvertretende Ko-Vorsitzende in der Stadtverwaltung von Ertemêtan beauftragt. Wir haben von 25 Frauen fünf mit einer Leitungsaufgabe im Verwaltungsbereich beauftragt. Es wurden die Direktion für Frauenpolitik, die Kommission für Gleichberechtigung, die Frauenräte, die Frauenkommission, der Frauenstrategieplan und die Datenbank für Frauen aufgebaut. Außerdem wurden ein Frauenpark errichtet, eine Gewaltschutzhotline für Frauen und drei Teppichwerkstätten eingerichtet.

Für organische Landwirtschaft wurde das Projekt Dara Jiyanê (Baum des Lebens) entwickelt. Es wurden Arbeiten zu Gesundheit der Frau durchgeführt, Kindergärten und Bibliotheken eingerichtet. Wir hatten ein Kinderdorfprojekt. Wir haben im Rahmen unseres ökologischen, demokratischen, Frauenbefreienden Paradigmas gearbeitet. Aber nachdem der Zwangsverwalter ernannt wurde, wurde der Taybet-Ana-Kindergarten geschlossen und alle unsere aufgezählten Arbeiten eingestellt. In unserem Bildungszentrum hat die Zwangsverwaltung Lokale eingerichtet. Aber wir kommen, um das, was uns gehört zurückzuholen. Zunächst werden wir die Projekte unserer vorherigen Stadtverwaltung wieder ins Leben rufen. Außerdem werden wir eine Stadtverwaltung auf der Grundlage des Paradigmas der Frauenbefreiung aufbauen, in der der Verstand von Frauen regiert.

Die Küstenregion vor Ertemêtan befindet sich vollständig unter der Kontrolle öffentlicher Einrichtungen. Der Treuhänder hatte angekündigt, einen Strand für das Volk zu eröffnen, aber der Besuch des Strands kostet Eintritt. Was planen Sie in dieser Hinsicht, wenn Sie ihr Amt antreten?

Gülcan Kaçmaz: Wir werden die Strände für die Bevölkerung kostenfrei einrichten. Es handelt sich hier um auf Profit ausgerichtete, problematische Strände. Die öffentlichen Einrichtungen haben den gesamten Uferbereich besetzt. Wir werden mit der Stadtverwaltung in Wan ein gemeinsames Projekt umsetzen. Wir werden für unsere Bevölkerung, die unter dem Zwangsverwalter leidet, eine Zeit der Gerechtigkeit einläuten. Sie haben sogar die Immobilien der Stadtverwaltung verkauft. Wir werden Gebiete in Ertemêtan für die Bevölkerung und ausländische sowie regionale Tourist*innen einrichten. Wir sind eine Stadtverwaltung des Volkes. Wir reproduzieren nicht die Politik der Regierung. Ja, auch die Ladenbetreiber*innen, die früher am Ufer Subsistenzwirtschaft betrieben haben, befinden sich in ernsten Problemen. Wir werden nach dem 31. März dafür arbeiten, damit unsere Bevölkerung wieder ihr Recht erlangt.

Wir konnten beobachten, dass Ertemêtan in den letzten Jahren von seiner Identität entfernt wurde. Es ist der einzige touristische Landkreis in Wan, aber dennoch kam kein einziger Tourist mehr hierher. Was werden Sie tun, damit Ertemêtan seine Identität zurückgewinnt?

Medeni Özer: An einen Ort, an dem kein Friede herrscht, kommt kein Tourist – die Touristen suchen den Frieden. In unsere Region kommen vor allem Tourist*innen aus dem Iran, aber sie bleiben im Hotel, kaufen nur ein und kehren wieder zurück. Die Gelder, die an den Grenzübergängen verlangt werden, haben ebenfalls den Tourismus eingeschränkt. Das Uferprojekt ist ein Projekt der Einbetonierung. Die Natur wird regelrecht ermordet und die Region in einen Betonhaufen verwandelt. Früher gab es das nicht, aber es gab Cafés. Die gibt es nun auch nicht mehr. Vergleichen Sie das alte Ertemêtan mit dem Heutigen werden Sie sehen, dass alles zubetoniert worden ist. Wenn man Zubetonieren zum Prinzip macht, dann ist man ein Feind der Natur. Wir werden den See und unsere Bevölkerung erneut zusammenbringen. Für einen guten Dienst müssen Mensch und Natur verbunden betrachtet werden. Die Jugendlichen sind arbeitslos und viele werden drogenabhängig. In der Zukunft soll es das auf keinen Fall mehr geben.