Vom 6. bis 8. Juli hat im nordsyrischen Amûdê das dreitägige internationale Forum des Zentrums für strategische Studien Rojava (NRLS) zu den Hintergründen des sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) stattgefunden. Am Rande der Konferenz haben wir mit Dr. Kamiran Berwarî, Lehrbeauftragter der Universität Duhok und Mitglied des Kurdistan Nationalkongress (KNK), über die türkische Invasion in Rojava und Südkurdistan gesprochen. Berwarî sagt, dass der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) noch immer nicht besiegt ist und die Türkei bereits seinen Platz eingenommen hat.
„Wir alle wissen doch, dass der IS unter der Schirmherrschaft des türkischen Staates konzipiert wurde und sich weiterentwickelt hat. Ein ganz offensichtliches Beispiel dafür ist die Besatzung von Efrîn. Auch die Angriffe auf Südkurdistan sind als Invasionsversuche zu werten. Im Klartext bedeutet das: Wo immer sich Kurden aufhalten, werden sie ins Visier des türkischen Staates geraten“, erklärt Berwarî.
Die Gefahr, die heute für das kurdische Volk vom türkischen Staat ausgehe, sei noch größer als das Sicherheitsrisiko, das 2014 der sogenannte IS darstellte, ergänzt Berwarî . Er begründet diese Aussage mit der in Südkurdistan existenten Kollaboration: „Die aktuellen Entwicklungen stellen für Südkurdistan potenziell sogar eine größere Bedrohung dar, als sie vor fünf Jahren gegen die Region und den Irak vom IS ausging. Denn heute unterstützt eine Macht wie die Autonomieregion die Besatzungsambitionen des türkischen Staates. Die invasiven Angriffe auf Südkurdistan sind eine Gefahr für alle Kurden. Der Süden soll wie in Efrîn ‚entkurdisiert‘ werden, um so die Kolonialisierung zu vereinfachen.“
Südkurdistan: Dritter Golfkrieg?
Die südkurdische Regierungspartei PDK (Demokratische Partei Kurdistans) werde allerdings am meisten unter der türkischen Invasion leiden, meint Berwarî. „Ganz gleich, ob sie als Teil der Besatzung im Dienste Ankaras steht, wird das größere Übel auf den Schultern der PDK lasten. Gerade deshalb ist eine gemeinsame Haltung gegen die Invasion erforderlich.“ Im Verlauf unseres Gesprächs kommen wir auch auf die Treffen zwischen dem irakischen Staatspräsidenten Barham Salih sowie dem KRG-Präsidenten Neçirvan Barzani mit türkischen Regierungsvertretern am Rande der Besatzungsangriffe zu sprechen. Was er außerdem von der schweigenden Haltung des Iran halte, frage ich. Berwarî erklärt: „Dass Kurden Teil dieser Besatzung sind, kann nicht akzeptiert werden. Was die Türkei und den Iran angeht, könnte sich der Versuch einer Invasion in Südkurdistan als dritter Golfkrieg erweisen. Ähnlich wie die Annexion Kuwaits durch Saddam Hussein und dem daraufhin ausgebrochenen Krieg kann sich Südkurdistan zu einer Region entwickeln, die sich fast nur durch schwere Kampfhandlungen auszeichnet.“
‚Widerstand wird nicht für Interessen einer Handvoll Familien geführt‘
Niemand habe das Recht, die im Widerstand für Freiheit erkämpften Errungenschaften der Bevölkerung Südkurdistans für seine eigenen Interessen zu veräußern, betont Berwarî. Er warnt außerdem die Peschmerga, sich nicht täuschen zu lassen: „Auch wir waren seinerzeit Peschmerga und kämpften lange Jahre für die Befreiung Südkurdistans. Doch wir haben diesen Kampf nicht für die Interessen einer Handvoll Familien geführt. Ich glaube nicht, dass das kurdische Volk das, was derzeit vorgeht, akzeptieren wird.“
Peschmerga sollte dem Volk beistehen
Berwarî macht zudem darauf aufmerksam, dass PDK-nahe Medien immer wieder titeln, dass die Peschmerga in die Besatzungsoperation der türkischen Armee eingebunden wird. Wir hatten bereits berichtet, dass die vom Barzanî-Clan beherrschte südkurdische PDK, welche die Region offiziell kontrolliert, zu den Angriffen schweigt und sogar unterstützende Erklärungen abgibt. Die PDK stellt der türkischen Armee außerdem Infrastruktur zur Verfügung und übergibt ihr Stellungen. Berwarî meint, dass es schon fast zur Tradition der PDK gehöre, schwerwiegende Fehler gegenüber den kurdischen Parteien und Kräften zu machen: „Die Fehler, die die PDK bisher nicht nur im Süden, sondern auch in anderen Teilen Kurdistans begangen hat, reihen sich wie Perlen an eine Kette. Ihr Armutszeugnis setzt sie heute in Nordkurdistan und Rojava fort. Dies stellt eine große Gefahr dar, noch fataler ist es allerdings, die Peschmerga als ein Glied in die Kette dieser Fehler miteinzubeziehen. Deshalb appelliere ich an die Peschmerga, ihre Stellungen an der Seite des Volkes einzunehmen. Die Peschmerga sollte der Guerilla beistehen, sie sollte Kurdistan beistehen. Ganz gleich, um wen es sich bei den Besatzern handelt, die Peschmerga sollte gemeinsam mit ihrem Volk in Stellung gehen.“
‚Zuerst werden PDK und YNK fallen‘
Sollte infolge einer Besatzung die Autonomie Südkurdistans schwächeln, wären die größten Leidtragenden dennoch die PDK und die YNK (Patriotische Union Kurdistans), glaubt Berwarî. „Sie werden als erstes fallen. Und es wird sich als äußerst schwierig für sie gestalten, wieder aufzustehen. Wenn wir uns die Behdînan-Region ansehen, auf die es der türkische Staat abgesehen hat, erkennen wir doch ganz klar, dass es im Grunde darum geht, alle Regionen zu besetzen, die als Wiege des kurdischen Befreiungskampfs gelten. Sollten wir diese Gebiete verlieren, bedeutet das für die Bevölkerung Südkurdistans nur eins: Massenverhaftungen, Folter und Massaker. So wie es in Nordkurdistan und Efrîn auf der Tagesordnung steht.“