Berwarî: „Dem Irak und Südkurdistan stehen große Gefahren bevor“

Dr. Kamiran Berwarî sieht im Irak den Schauplatz einer Abrechnung von regionalen und internationalen Mächten und warnt vor großen Gefahren für den Irak und Südkurdistan.

Am 10. Oktober 2021 haben aufgrund von dreimonatigen massiven Protesten vorgezogene Neuwahlen im Irak stattgefunden. Das Ergebnis der Wahl war hoch umstritten und so konnte das Parlament erst am 9. Januar 2022 zusammenkommen und den Parlamentspräsidenten und seine beiden Stellvertreter wählen. Das Amt des Parlamentspräsidenten erhielt erneut der sunnitische Politiker und Unternehmer Mohamed al-Halbousi. Sein erster Stellvertreter wurde der schiitische Politiker Hakim al-Zamli, der dem schiitischen Milizenführer und Politiker Moktada al-Sadr nahesteht. Der PDK-Politiker Şaxewan Abdullah wurde zweiter Stellvertreter.

Dr. Kamiran Berwarî, Lehrbeauftragter der Universität Dihok, analysiert im ANF-Gespräch die Entwicklungen im Irak und Südkurdistan nach den Wahlen.

Dr. Berwarî sieht in den aktuellen Entwicklungen nach den Wahlen das Resultat von 2021 in Amman, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar getroffenen Verabredungen zwischen der südkurdischen Regierung, den sunnitisch-arabischen sowie anderen Kräften. Diese Vereinbarungen hätten auch die Wahlergebnisse bestimmt und würden aufgrund der geringen Wahlbeteiligung (offiziell 42 Prozent) nicht den Willen der Bevölkerung repräsentieren. Zu den aktuellen Vereinbarungen im Kontext der Konstituierung des Parlaments sagt Berwarî: „Die Abkommen bestimmen die Geschichte von Kurdistan und dem Irak. Sie wurden geschlossen, indem einige Kräfte aus dem Irak und Südkurdistan mit al-Sadr zusammenkamen. Dieser Deal kann zu großen Problemen führen, die auch einen neuen Krieg im Irak auslösen können. Es besteht eine große Gefahr in dieser Hinsicht. Mit dieser Politik und den damit zusammenhängenden Abkommen sind die Kurden sowie die Schiiten und Sunniten mehrfach gespalten worden. Für die Kurdinnen und Kurden bedeutet das einen massiven Schaden.“

Ungewisse Regierungsbildung

Berwarî erklärt, die Unruhe zeige sich allmählich, da die Kräfte im Parlament sich nicht einig seien. Er führt aus: „Einige unterstützen das Vorhaben. Einige sind offen dagegen. Es werden mindestens 170 Abgeordnete für eine Mehrheit im Parlament benötigt. Eine Regierung, die von 170 Parlamentarierinnen und Parlamentariern unterstützt wird, könnte in der Lage sein, Entscheidungen für die Völker im Irak zu treffen, aber es bleibt unklar, ob diese Zahl zustande kommen wird.“

Regionale und internationale Mächte tragen Widersprüche aus

Für die Bildung einer neuen Regierung und die funktionierende Arbeit des Parlaments werde die Zustimmung der USA, Europas und mancher Regionalmächte benötigt, sagt Berwarî und fährt fort: „In jüngster Zeit gibt es Widersprüche zwischen den USA und Europa und insbesondere den Regionalmächten wie dem Iran und der Türkei. Diese Konflikte bestehen schon lange, aber in der letzten Zeit haben sie höchstes Niveau erreicht. Sie wurden an den Angriffen auf Stützpunkte der USA und der internationalen Koalition in Bagdad und auf einige kurdische und arabische Parteien deutlich. Diese Situation kann sich verschärfen, und das ist die Gefahr.“

Die erste Parlamentssitzung war eine absurde und teilweise lächerliche Veranstaltung“

Berwarî sagt, die erste Sitzung des Parlaments habe einen absurden und manchmal lächerlichen Eindruck gemacht: „Manche haben ihre Trachten angezogen. Gerufene Parolen gingen manchmal weit über das Parlamentarische hinaus. Manche haben Kleidung angezogen, die Leichentücher symbolisieren sollte. So wollten sie zeigen, dass sie zum Krieg und zum Tod bereit seien. Betrachtet man dieses Bild, wird es im Irak sehr schwierig sein, eine Regierung zu bilden, die das Land regieren kann.“

Oberste Riege wird wahrscheinlich weitermachen

Zu Behauptungen aus PDK-Kreisen, möglicherweise den irakischen Präsidenten stellen zu können, sagt der Wissenschaftler: „Al-Sadr unterstützt Hoşyar Zebarî, den Kandidaten der PDK, nicht. Sechsunddreißig Parlamentarier haben bereits eine Erklärung gegen die Kandidatur Zebarîs abgegeben. Das bedeutet, dass das Amt des Parlamentspräsidenten, des Ministerpräsidenten und des Präsidenten im Irak gleichbleiben kann. In dieser Situation erscheint es unlogisch und schwer, dass sich etwas auf der Ebene dieser Ämter ändern wird.“

Chaos und sogar Kämpfe stehen vor der Tür“

Dr. Berwarî betont, mit Beginn des Rückzugs der USA könnten ernsthafte Probleme vor der Tür stehen. Er führt aus: „Können diejenigen, die an die Macht gekommen sind, die Regierungsarbeit nach dem Rückzug der USA durchführen? Können sie Schritte in Richtung Frieden, Freiheit und Demokratie unternehmen? Das scheint nicht möglich. Ernstere Krisen, Chaos und sogar Kämpfe scheinen also bevorzustehen. Es gibt niemanden aus der Bevölkerung des Iraks und Südkurdistans, der nicht negativ von diesen Konflikten betroffen sein wird. Dennoch hört die südkurdische Regierung in keiner Weise auf ihr Volk.“

Projekt der Türkei und Russlands“

Abschließend weist Berwarî auf die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Russland insbesondere in Bezug auf Nord- und Ostsyrien und Südkurdistan hin und berichtet von einem Bahnprojekt der Türkei und Russlands, das von Syrien über den Irak bis in die Vereinigten Arabischen Emirate reichen soll. Die USA und die internationale Koalition stellen sich laut Berwarî gegen dieses Projekt. Er fährt fort: „Viele Kräfte im Irak akzeptieren das Projekt nicht. Aber eine sunnitische Fraktion arbeitet daran, den Irak vollständig unter türkische Kontrolle zu bringen. Die Einberufung des Parlaments war das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen antischiitischen ehemaligen Baath-Mitgliedern und Kreisen, die der Türkei nahestehen.“