Am 9. Oktober hat die irakische Regierung mit der südkurdischen Führung in Hewlêr (Erbil) ein Abkommen über die Aufteilung der Herrschaft im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet Şengal geschlossen – ohne Einbeziehung der Bevölkerung der Region. Der auf Druck der USA und der Türkei unter UN-Aufsicht in Bagdad zustande gekommene Vertrag richtet sich insbesondere gegen die basisdemokratischen Strukturen, die nach dem Völkermord an den Eziden im August 2014 etabliert wurden. Deren Auflösung wird als „Kampf gegen die PKK“ deklariert und soll mit dem Abkommen durchgesetzt werden.
Seit dem Abkommen steht Şengal unter hoher Anspannung, täglich kommt es zu Protesten der Bevölkerung. Kurz nach Aushandlung der Übereinkunft transportierte die irakische Zentralregierung tausende Soldaten in die Region. Aufgrund der Proteste musste sich Bagdad jedoch mit dem Autonomierat von Şengal ins Benehmen setzen. So konnte zumindest die Auflösung des Êzidîxan Asayîş, der Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung, vorerst verhindert werden. Der Ko-Vorsitzende der Demokratischen Volksfront, Kamiran Berwarî, der zugleich Mitglied des Kurdistan Nationalkongresses (KNK) ist, bewertete im ANF-Gespräch in Dihok die Entwicklungen um das Abkommen zwischen Hewlêr und Bagdad.
Berwarî wies zunächst auf die aktuelle Phase der Neugestaltung des Mittleren Ostens hin und unterstrich die Bedeutung eines Status für die Kurden. „In den vergangenen 40 Jahren hat der kurdische Freiheitskampf ein anderes Niveau erreicht. Die Kräfte, die den Mittleren Osten neugestalten wollen, räumen dem kurdischen Volk keinerlei Rechte ein. Kurdistan ist zwischen der Türkei, dem Iran, Syrien und dem Irak aufgeteilt worden. Die kurdische Seite machte demgegenüber drei Punkte deutlich: Erstens die Rettung von Großkurdistan, zweitens die Befreiung der Kurden und Kurdistans und drittens die Garantie eines Status für die Kurden. Die ganze Welt soll wissen, dass die Kurden es von nun an nie mehr hinnehmen werden, ohne Status zu leben“, äußerte Berwarî mit Blick auf 200 Jahre kurdischen Widerstand.
Komplizen im Angriff auf Şengal
Das Abkommen zwischen Hewlêr und Bagdad über die Şengal-Region bezeichnete Berwarî als eine Fortsetzung des Komplotts, das den IS-Verbrechern 2014 den Angriff auf Şengal ermöglichte. Berwarî spielt damit auf den kampflosen Rückzug der PDK aus der Şengal-Region gegenüber dem IS und die vorhergehende Entwaffnung der ezidischen Bevölkerung an. „Der IS griff Şengal nach einer am 1. Juni in Jordanien und im Oman getroffenen Entscheidung an. Dieses Komplott, an dem sieben Länder teilnahmen, dauert heute noch an. Das Abkommen vom 9. Oktober zur Besetzung der Şengal-Region ist im gleichen Zusammenhang zu sehen. Diese Kräfte wollen die Angriffe, die der IS 2014 unvollendet gelassen hat, zu Ende bringen. Ihre Ziele sind die gleichen. Die anderen Partner bei den Angriffen auf Şengal sind Hewlêr und Bagdad. Mit diesen Angriffen wollen sie die ezidische Gesellschaft spalten und zerschlagen“, so Berwarî.
Flucht von PDK und zentralirakischer Truppen werden niemals vergessen
Kamiran Berwarî glaubt, dass IS-Dschihadisten auf Grundlage des Abkommens dauerhaft in Şengal angesiedelt werden sollen. Die Kräfte hinter der Vereinbarung bezeichnet der Politiker als „Besatzer“, die die Landkarte von Şengal verändern und ihren Interessen entsprechend neu gestalten wollen.
„Diese Mächte wissen sehr wohl, dass die Autonomie von Şengal das Ende aller Diktatoren in Kurdistan herbeiführen wird. Sie sehen darin eine Bedrohung für sich selbst und wollen die etablierten Selbstverwaltungsstrukturen zerstören. Mit diesem Abkommen senden sie eine Botschaft an die Menschen im Irak und in Kurdistan, die lautet: niemand soll seine Rechte und Freiheiten einfordern. Jede Region hat das Recht auf Autonomie. Niemand hat das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten von Şengal einzumischen. Die irakischen Streitkräfte und die PDK-Peschmerga sind vor dem IS geflohen und haben die ezidische Bevölkerung schutzlos zurückgelassen. Sechs Jahre später erdreisten sie sich, das ezidische Volk beherrschen zu wollen. Die Bevölkerung der Şengal-Region wird es der PDK niemals vergessen, dass sie das ezidische Volk schutzlos zurückgelassen hat. Niemand außer den Menschen in Şengal selbst hat einen Anspruch auf die Verwaltung der Region. Die Besitzer von Şengal sind die, die im Widerstand gegen den IS gefallen sind, die am Widerstand teilgenommen haben und die Familien der Gefallenen.“
Bevölkerung von Şengal leistet Widerstand
Die Proteste in Şengal gegen das Abkommen unterstützt Berwarî. Es sei nur natürlich, Entscheidungen und die erneute Herrschaft von Kräften, die bedingt durch ihren Beitrag zum ezidischen Völkermord ihre Legitimation verloren haben, nicht zu akzeptieren. Darüber hinaus bräuchten die Menschen der Region gar keine Truppen von außen. „Denn die Verteidigungskräfte von Şengal bestehen aus Angehörigen des ezidischen Volkes. Sie sind in der Lage, ihre Selbstverteidigung ohne Intervention von außen zu gewährleisten.“ Dass den Eziden ihr Selbstbestimmungsrecht verweigert wird und mit dem Abkommen die Autonomie Şengals vernichtet werden soll, wertet Berwarî als Zeichen für einen umfassenden Angriff gegen die kurdische Existenz. „Diese Kräfte werden sich mit Şengal nicht zufriedengeben. Als nächstes Ziel würden das restliche Südkurdistan und Rojava anvisiert werden.“
Die einzige Gegenstrategie sei der Wille und entschlossene Widerstand der ezidischen Gemeinschaft, erläutert Berwarî. Das kurdische Volk und seine demokratischen Kräfte sollten sich geschlossen neben den Eziden positionieren und verhindern, dass ein neuer Ferman [Dekret; der Begriff Ferman geht auf die offiziellen Massaker-Befehle osmanischer Sultane zurück. Seitdem werden die mittlerweile 74 organisierten Verfolgungs- und Mordwellen vom ezidischen Volk als Ferman bezeichnet] erlassen werden. „Seit sechs Jahren blutet die Wunde der Eziden unaufhörlich. Man lässt nicht zu, dass sie verheilt.“ Berwarî ruft die Menschen in allen vier Teilen Kurdistans dazu auf, sich um Şengal und seine Verteidigungskräfte zusammenschließen und die Errungenschaften der Gefallenen schützen. „Gleichzeitig rufe ich alle politischen Parteien und internationalen Kräfte auf, ihr Schweigen angesichts der Drohung eines neuen Dekrets zu brechen. Wenn Şengal entvölkert werden sollte, bedeutet dies, dass ein Teil Kurdistans seinem Volk entrissen wird. Wir müssen alles tun, um Şengal zu verteidigen.”