Das Presse- und Kommunikationszentrum der Volksverteidigungskräfte (HPG-BIM) hat in einer dreiteiligen Interviewreihe für das neue Format „Şervanên Azadiyê“ mit dem Guerillakämpfer Baran Nûjiyan gesprochen. Baran Nûjiyan ist seit 2019 Teil der HPG in den Bergen Kurdistans. Als Sohn einer deutschen Mutter und eines portugiesischen Vaters wuchs Baran Nûjiyan in beiden Ländern auf, aber die meiste Zeit in Westdeutschland. Dadurch habe er schon in der Kindheit viele Widersprüche gehabt und die Ungerechtigkeiten in der Welt bereits früh als extrem empfunden, erzählt er. Rückblickend stellt er fest, schon als Kind zwar viele Fragen gestellt zu haben. Doch mit dem Älterwerden seien die Widersprüche in den Hintergrund gerückt. „Sie waren immer irgendwo da. Es war immer ein Gefühl des nicht ganz Dazugehörens. Ein Gefühl, das System wie es ist, und das Leben wie es ist, nicht akzeptieren zu wollen“, sagt Baran Nûjiyan. Eine bewusste Suche habe sich damals aber nicht entwickelt, das Gefühl von Problemen, die nach einer Lösung suchen, sei jedoch immer da gewesen.
„Es war eben auch der Einfluss, in dem man aufgewachsen ist“, sagt Baran Nûjiyan. Das System habe sich in sämtlicher Form auf Jugendliche ausgewirkt: ob Konsumgesellschaft oder Popkultur. Es gebe viele Facetten dahingehend, Menschen bereits in der Kindheit von der Suche nach Wahrheit und Lösungen abzubringen.
„Es war immer ein Gefühl, das im Hintergrund war. Erst später, im Alter von 24 Jahren, berufstätig in der Gastronomie, wurde dieses Gefühl der Ungerechtigkeit aus der Kindheit stärker: Das Verlangen, ein richtiges Leben zu suchen. An diesem Punkt hat mich ein schlagartiges Gefühl eingenommen. Es hat mich dazu gebracht, wirklich zu reflektieren: Was mache ich eigentlich und was ist der Inhalt meines Lebens? Ich habe in der Zeit in der Sternegastronomie als Koch gearbeitet, war vorher in meinem Beruf auch glücklich und zielstrebig, aber an dem Punkt habe ich alles im Gesamten in Frage gestellt. Ich habe gefragt: Was ist eigentlich das Ergebnis meiner Handlungen und meines Lebens? Die Arbeit, die ich mache, welche Konsequenz steht darauf, was schaffe ich damit wirklich für Werte? Das hat mich sehr schnell dazu gebracht, Veränderungen zu wollen und intensiv nach ihnen zu suchen. Und ohne, dass ich vorher großen Zugang hatte zu Widerstandsbewegungen, Alternativen, Perspektiven habe ich mich einfach auf die Suche gemacht.“
Zunächst habe er in seinem Umfeld Diskussionen geführt und viele Fragen gestellt, erzählt Baran Nûjiyan. In Büchern suchte er nach Lösungen, ging zu verschiedensten politischen Projekten und Aktionen. „Ich habe einen Austausch gesucht und sehr schnell auch festgestellt, dass ich mit diesem Gefühl nicht alleine bin.“ Je intensiver dieser Auseinandersetzung wurde, desto mehr sei ihm der Umfang klar geworden und die Tiefe dessen. „Erstmal waren es Dinge, die einem vor Augen sind, viele vereinzelte Probleme. Aber die Systematik dahinter, also das große Ganze, hat sich erst so langsam an die Oberfläche begeben – je mehr ich gesucht und Forschungen angestellt habe. Es waren linke Gruppen, wo ich mal hier und mal dort reingeschaut und sporadisch mitgemacht habe. Ökologische Zusammenhänge etwa, wo ich viel gelernt und viel Willen und Interesse gesehen habe, etwas zu verändern. Erstmal die Klarheit; das System wie es ist, die kapitalistische Moderne, wie sie vor allem in Mitteleuropa gelebt wird, dass sie nicht zu akzeptieren ist und dass es eine Veränderung braucht. Das hatten diese Gruppen eigentlich alle gemein, das war der kleinste gemeinsame Nenner.“
Baran Nûjiyan erzählt von vielen praktischen Dingen, die er zu dieser Phase angegangen sei. Mit der Zeit zeichnete sich aber ab, dass es nur begrenzte Erfolge gab und ebenso begrenzte Ergebnisse erzielt wurden. „Meistens war ich in anarchistischen Bewegungen und da hat sich genau das wiederholt.“ Anfang 2018 lernte Baran Nûjiyan die kurdische Freiheitsbewegung kennen. Es war die Zeit des Krieges um Efrîn und die Demonstrationen damals hätten sein Interesse geweckt. Das erste prägende Erlebnis war die Erkenntnis über Unterschiede in der Herangehensweise. „Auf den Demonstrationen der kurdischen Bewegung hat man gesehen: das ist halt ein Querschnitt einer Gesellschaft, der hier auf der Straße ist. Von kleinsten Kindern bis Menschen um die 80, die zusammen auf die Straße gehen für eine Sache, der sie voll und ganz verbunden sind, und auch nicht vor immenser Polizeigewalt zurückschrecken und sich nicht aufhalten lassen. Eine ganz andere Verbundenheit zum Kampf. Das hat meine Aufmerksamkeit erweckt und dazu geführt, dass ich mich in der Richtung versucht habe zu informieren. Anfangs habe ich über die Revolution in Rojava gelesen.“
Das sei zunächst einmal aufregend gewesen, da in Deutschland alles in einem theoretischen Rahmen sei, sagt Baran Nûjiyan. Es gebe viele Diskussionen darüber, wie die Welt denn nun richtig wäre und wo entsprechende Wege eingeschlagen werden können. „Aber von der Praxis sind wir meistens weit entfernt gewesen. Auch von der Gesellschaft an sich waren wir relativ weit entfernt. Darin, uns selbst zu erkennen, wo ist unser Stand? Was ist das System und was hat es mit uns gemacht? Und wie finden wir eine Alternative? Da waren wir sehr oberflächlich.“
Das erste Kennenlernen mit der kurdischen Bewegung kam dann über die Revolution von Rojava, erklärt Baran Nûjiyan weiter. Anfangs beschränkte sich die Annäherung auf theoretische Aspekte, über Bücher. „Wie ist das System, das dort aufgebaut wird?“ war eine der Fragen, auf die er Antworten suchte. Außerdem wurden die Nachrichten aus der Region verfolgt. „In der Zeit haben wir eine anarchistische Gruppe aufgebaut und es war immer ein Thema, das mich beschäftigt hat und sich in die Arbeiten eingebracht hat. Es war ein Solidaritätsgefühl. Aber je mehr ich erfahren habe, hat sich mir immer mehr gezeigt, wie tiefgründig die Thematik ist.“ Ende 2018 / Anfang 2019 nahm Baran Nûjiyan an weiteren Aktionen teil und bekam erste Kontakte zur kurdischen Bewegung. In der Zeit fing er auch an, die Schriften von Abdullah Öcalan zu lesen.
„Und das hat auf mich einen unglaublichen Eindruck gemacht. Ich hatte vorher die verschiedensten Theorien gelesen, nach Lösungen gesucht, aber es war eine gewisse Wahllosigkeit dabei“, sagt Baran Nûjiyan. Er beschreibt es damit, dass die Lücke zwischen Theorie und der Realität, in der man lebt, zu groß sei, um beides zusammenzubringen. Der Einstieg in die Philosophie Öcalans dagegen brachte ihm im ersten Schritt, sich als Mensch und seine Positionen in dieser Welt zu erkennen. „Was ist meine Geschichte? Wo komme ich her, wo kann ich mich einordnen?“ Sobald der Tag von der kapitalistischen Moderne bestimmt wird, sei man von allem „abgeschnitten und isoliert“. Es gelte lediglich das Aktuelle im Leben in Mitteleuropa und das Aktuelle von Wert, aber wer bestimmt das? „Wir bestimmen es nicht selbst. Das sind die ersten Schritte gewesen, die mich reingezogen haben. Vor allem die Tiefe dieser Freiheitsphilosophie zu sehen, die vielen Lehren, die auch aus vorherigen Kämpfen überall in der Welt gezogen wurden, aus allen Erfahrungen, die in verschiedensten revolutionären Projekten, Strömungen und Errungenschaften in sozialistischen Kämpfen gemacht wurden und aus allem die Lehren reflektiert. Warum hat die Revolution in Russland nicht die Ergebnisse bringen können, die sie zu Anfang versprochen hat? Warum haben so viele Kämpfe vielleicht selbst nach einem militärischen Sieg doch nicht dazu geführt, eine wirkliche Alternative zum System zu werden? Genau da eine wirklich tiefe Analyse und daraus Konsequenzen zu ziehen, diese Erfahrungen in ein Denken einfließen zu lassen und neue Schritte zu gehen, eine neue Alternative zu öffnen, das war, was mich extrem überzeugt hat an diesem Punkt. Und es war auch ein Punkt, an dem ich mich relativ schnell dazu entschlossen habe, mich der Bewegung anzunähern und innerhalb kürzester Zeit nach Kurdistan gekommen bin.“
Der zweite Teil der Interviewreihe erscheint morgen.