„AKP behandelt Bevölkerung je nach Stimmanteil“

Trotz der Überschwemmungen und Erdrutsche in der nordkurdischen Provinz Wan wurde kein Katastrophenfall ausgerufen. Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren, die AKP benachteilige die Region wegen ihrer oppositionellen Haltung.

Viele Orte in der Provinz Wan (tr. Van) wurden im August durch Unwetter, Überschwemmungen und Erdrutsche verwüstet. Besonders betroffen sind die Landkreise Elbak (Başkale), Qerqelî (Özalp), Erdîş (Erciş) und Ebex (Çaldıran). Die Fluten töteten mehr als 2.000 Herdentiere und zerstörten 400 Häuser. Dringende Hilfsanfragen der kurdischen Bevölkerung an Regierungsstellen wurden zynisch mit den Worten „Geht zur HDP, die sollen euch helfen, ihr gebt ihnen doch sowieso eure Stimme“ abgewiesen.

Während die Bezirke von Wan mit diesen Überschwemmungen zu kämpfen hatten, gab es auch in Rize, einer türkischen Region, in der die AKP bei den letzten Wahlen nach Regierungsangaben 72,99 Prozent der Stimmen erhalten hatte, Überschwemmungen. Die Überschwemmungen, bei denen sechs Menschen ums Leben kamen, verursachten große Schäden. Die AKP-Regierung reagierte hier eiligst und rief den Katastrophenfall aus. Vergleicht man dieses Vorgehen auch mit vorherigen Naturkatastrophen, so wird der politische Hintergrund noch deutlicher. Der Tod von 644 Menschen bei einem Erdbeben im Jahr 2011 reichte nicht einmal aus, um die Region Wan zum Katastrophengebiet zu erklären. Dieser Vergleich macht auch die Argumentation der AKP, in Wan habe es im Vergleich zu Rize bei den aktuellen Überflutungen keine Toten gegeben obsolet. Der Verlust von Menschenleben stellt ohnehin keine notwendige Vorbedingung für die Ausrufung einer Region zum Katastrophengebiet dar. Auch im vergangenen Jahr, als hunderte Menschen in den kurdischen Städten Elbak und Xarpêt (Elazığ) bei Erdbeben starben, wurde auch hier der Katastrophenfall nicht ausgerufen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sehen in diesem Vorgehen politische Diskriminierung. Die Bevölkerung solle für ihr Wahlverhalten abgestraft werden.

Die Bevölkerung wird bestraft“

So berichtet Daştan Şimşek, die schon seit langen Jahren in Elbak politisch aktiv ist, dass der HDP-Stimmanteil von 90 Prozent im Landkreis ein ausschlaggebender Faktor für die Diskriminierung der Region sei. Sie erklärt: „Es gibt hier eine politische Diskriminierung. Es ist möglich, dies in allen Bereichen zu beobachten, einschließlich der Ausrufung von Katastrophengebieten im Fall von Naturkatastrophen. Zum Beispiel haben wir einen Grenzübergang, den sie geschlossen haben. Letztes Jahr hatten wir ein Erdbeben, dabei hat es Tote gegeben, dieses Jahr gab es Überschwemmungen, aber es wurde kein Katastrophengebiet ausgerufen, aber wenn wir uns die Städte im Westen der Türkei ansehen, dann wird dort bei den geringsten Problemen der Katastrophenfall ausgerufen.“

Dahinter steht einzig und allein Diskriminierung“

Einer der Landkreise, die am meisten Schaden erlitten haben, ist Ebex. Die HDP-Hochburg steht unter Zwangsverwaltung durch den AKP-Politiker Şefik Ensari. Faruk Demir (HDP), der vom Innenministerium abgesetzte Ko-Bürgermeister der Stadt, sagt, die Doppelmoral der Regierung habe sich auch hier in der Katastrophenhilfe niedergeschlagen. Er fährt fort: „Überall in der Türkei kommt es zu Naturkatastrophen. Die Ausrufung eines Katastrophengebiets in anderen Regionen ist richtig, aber wir verstehen nicht, warum bei Katastrophen in der Provinz Wan oder anderen Provinzen hier keine Katastrophengebiete ausgerufen werden. Als HDP waren wir überall dort, wo es in der Türkei eine Katastrophe gibt, und wir werden es das auch weiterhin tun. Leider geht die Regierung nicht so vor und verfolgt einen Ansatz, der auf der ethnischen Zugehörigkeit einer Region basiert. Wir haben diese Diskriminierung beim Erdbeben von Wan und in Elbak erlebt. Der hochrangige AKP-Funktionär Osman Nuri Gülaçar, der während der Überschwemmungen in Ebex die Dörfer besuchte, sagte zu den Menschen: ‚Das passiert, wenn ihr für die HDP stimmt, die HDP soll kommen und euch helfen.‘ Diese Worte machen vollkommen klar, was hier geschieht.“

HDP-Abgeordnete: „Wir bauen Solidaritätsnetzwerk auf“

Die HDP-Abgeordnete Muazzez Orhan Işık fordert, dass Gebiete, in denen Katastrophen geschehen, per Gesetz zu Katastrophengebieten erklärt werden müssten. Sie sagt: „Wenn ein Katastrophengebiet ausgerufen wird, dann werden die materiellen Verluste gedeckt und es wird den Menschen ermöglicht, ihr Leben fortzusetzen. Die Tatsache, dass diese Gebiete hier nicht zum Katastrophengebiet erklärt wurden, offenbart das Wesen der Regionalpolitik der Regierung seit dem Erdbeben von Wan im Jahr 2011. Es gibt eine doppelmoralische Haltung. Der Verlust von Rindern wird nicht als Verlust von Leben angesehen, man richtet sich nach menschlichen Verlusten. Das zeigt auch ihre Sicht auf die Natur, ihre Sicht auf das Tier. In den letzten zehn Jahren wurden die Menschen in Wan bestraft.

Es geht der Regierung, die den Willen der Bevölkerung hier nicht brechen konnte, darum, die Katastrophe zu einer Gelegenheit zu machen. Dies ist eine gewissenlose Haltung. Wir können nicht zwischen Erdîş, Elbak und Rize unterscheiden. Die Klimakrise betrifft die ganze Welt. Obwohl es schon früher Warnungen deswegen gab, wurde nichts gemacht. Das hat zu diesen Schäden geführt. Jetzt stellen sie sich hin und machen die HDP verantwortlich. Es ist allgemein bekannt, was AKP-Abgeordnete sagen. Die AKP will auf diese Weise politische Gewinne in der Region generieren.

Die AKP hat das Land mit ihrer falschen Politik in einen Brandherd verwandelt. Der Westen des Landes brennt, während am Schwarzen Meer und hier Überschwemmungen das Land verwüsten. Auch in Şirnex (Şırnak) und Dersim brennen die Wälder. Die Regierung hat keine Bestrebung, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und Probleme zu lösen. Alles basiert nur auf Show. Zwei Jahre nach dem Erdbeben in Elbak sind die Ersatzbehausungen immer noch nicht den Menschen übergeben worden. Es wird keine dauerhafte Lösung geschaffen. In Anbetracht der Erdbebenzone sind wir nicht sehr hoffnungsvoll. Die Menschen sind ihrem eigenen Schicksal überlassen. Wir versuchen, den dringenden Bedürfnissen unserer Bürgerinnen und Bürger mit einem Netzwerk der Solidarität sowohl vor Ort als auch in anderen Regionen gerecht zu werden.“