Die Autonomieverwaltung von Şengal und die ezidische Frauenbewegung TAJÊ haben in Xanesor die türkischen Drohnenangriffe vom Vortag verurteilt. Bei den fünf Todesopfern der Luftschläge am Donnerstagabend handelt es sich nach Angaben der Autonomieverwaltung um Arbeiter aus Rojava (Nordsyrien), die für den Lebensunterhalt ihrer Familien nach Südkurdistan (Nordirak) gekommen waren. Laut RojNews wird versucht, Kontakt mit ihren Angehörigen aufzunehmen und genaue Angaben zu ihrer Identität in Erfahrung zu bringen.
Nayif Şemo, Ko-Vorsitzender im Demokratischen Autonomierat Şengals (MXDŞ), erklärte heute in Xanesor: „Der türkische Staat hat ein weiteres Mal Zivilisten in Şengal angegriffen und fünf Arbeiter getötet. Wir fordern die Vereinten Nationen, den UN-Sicherheitsrat und Menschenrechtsorganisationen zur Erfüllung ihrer menschlichen Pflicht auf. Alle Institutionen schweigen zu den Besatzungsangriffen des türkischen Staates.“
Şemo kritisierte auch die irakische Regierung für ihre ausbleibende Haltung angesichts der völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei. Die TAJÊ-Aktivistin Neam Bedel beschuldigte die Regierung des Irak der Mittäterschaft und sagte: „Wenn der Irak nicht in der Lage ist, die Menschen in seinem Staatsgebiet vor derartigen Angriffen zu schützen, hat er seine Souveränität verloren. Wenn die Regierung solche Angriffe weder verhindert noch verurteilt, ist sie mitschuldig.“
Rache an der Zivilbevölkerung
Die türkische Armee greift seit den hohen Verlusten bei ihrer Invasion in Südkurdistan am vergangenen Wochenende täglich zivile Gebiete im Norden Syriens und des Irak an. Das im südlichen Kurdistan beziehungsweise im Nordwesten des Iraks gelegene Şengal (dt. Sindschar) ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der ezidischen Gemeinschaft. Unter dem Vorwand der „Terrorbekämpfung“ kommt es dort seit 2017 vermehrt zu Luftschlägen durch türkische Kampfflugzeuge und Drohnen. Konkrete Ziele sind hierbei zumeist Einrichtungen der Autonomieverwaltung von Şengal, die Selbstverteidigungseinheiten YBŞ/YJŞ und Zivilpersonen. Bei den Todesopfern handelt es sich hauptsächlich um Überlebende des 2014 von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verübten Genozids in Şengal.
Die türkische Führung gibt vor, in Şengal ausschließlich gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die das ezidische Volk gegen den IS verteidigt hatte und seit 2018 nicht mehr in der Region präsent ist, vorzugehen und beruft sich dabei auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Zahlreiche Organisationen und Gremien, darunter auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, weisen dagegen auf Verstöße der Türkei gegen das Gewaltverbot hin, da es gar keine Selbstverteidigungssituation gebe.
Der Deutsche Bundestag hat den IS-Genozid von 2014 als Völkermord an den Ezid:innen anerkannt. Die Bundesregierung steht jedoch bei den Massakern an der kurdischen Bevölkerung, egal in welchem Teil Kurdistans, grundsätzlich, stillschweigend und praktisch auf der Seite der Türkei. So wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Ezidinnen und Eziden aus Deutschland in den Irak abgeschoben, obwohl die Ampel die Rückführungen von ezidischen Geflüchteten im März noch als „unzumutbar“ bezeichnet hatte. Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat inzwischen einen Abschiebestopp für ezidische Frauen und Kinder in den Irak erlassen.