Die Provinzratswahlen am vergangenen Montag im Irak waren die ersten nach einer Dekade in dem Land. Die Wahllokale öffneten in 15 der insgesamt 18 Provinzen – die drei Provinzen in der halbautonomen Kurdistan-Region Irak nahmen nicht teil. Den Gang zur Urne traten am Ende nur 41 Prozent der Stimmberechtigten an – und die vorläufigen Ergebnisse zeigen die Gespaltenheit der Gesellschaft entlang ethnischer Linie.
Von vielen Seiten werden die Ergebnisse beleuchtet und analysiert. Den meisten Bewertungen fehlt es jedoch an einer Vision, durch die die kriegerische Realität des Nahen Ostens überwunden werden kann. Denn Bewertungen werden in der Regel auf der Grundlage eines nationalstaatsorientierten Paradigmas vorgenommen. Es ist offensichtlich, dass Wahlen im Irak die bestehenden Probleme nicht wie durch Zauber lösen werden. Die Probleme sind viel größer und tiefgreifender.
Ein realistischerer Ansatz wäre es, die historischen, sozialen und politischen Ursachen der Konflikte im Land zu analysieren und zu bewerten.
Der Krieg zwischen dem globalen System der kapitalistischen Moderne und dem Festhalten am nationalstaatlichen Status quo im Nahen Osten geht ungebrochen weiter. In diesem Rahmen ist auch der Israel-Gaza-Krieg zu betrachten. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit findet ein Massenmord statt.
Die Folgen der konfessionellen Widersprüche und Konflikte im Nahen Osten haben nicht abgenommen. Es ist wahrscheinlich, dass sich der schiitisch-sunnitischen Widerspruch ebenfalls weiter verschärfen wird. Auch wenn die schiitischen und sunnitischen Parteien behaupten, dass sie „keinen Konfessionskrieg“ führen, findet ein solcher Krieg in vielen Gebieten des Nahen Ostens statt.
Die kurdische Provinz Kerkûk (Kirkuk), die seit einem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 wieder von Bagdad regiert wird, verzeichnete die höchste Wahlbeteiligung: 66 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, was einer Zahl von über 566.000 entspricht. Ein Bündnis, in dem auch die Patriotische Union Kurdistans (YNK) vertreten ist, erhielt die meisten Stimmen, gefolgt von der Arabischen Koalition, der Ankara-treuen Turkmenenfront, der PDK, der Bewegung Neue Generation und Qiyade.
Die Provinzräte im Irak wurden nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Rahmen der Verfassung von 2005 geschaffen. Sie haben wichtige Funktionen etwa bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. So können sie für ihre jeweilige Provinz unabhängig Budgets festlegen etwa für Bereiche wie Bildung und Gesundheit. Zudem unterliegen sie keiner Kontrolle der Ministerien. Die Räte können auch Gouverneure ernennen oder entlassen und gelten als wichtigste Aufsichtsinstanz unterhalb der Zentralregierung.
Die endgültigen Wahlergebnisse werden voraussichtlich am Sonntag veröffentlicht. Allgemein erwartet wurde, dass das regierende Bündnis schiitischer Parteien gestärkt aus den Wahlen hervorgeht. Großartig verändern dürften die Wahlen die landesweite Machtverteilung aber nicht. Die Ergebnisse liefern jedoch Hinweise auf den Rückhalt, den politische Bündnisse in der Bevölkerung haben und wie diese sich bei den Parlamentswahlen 2025 aufstellen könnten. Regierungschef Mohammed Al-Sudani, der die Wahlen als „entscheidende Säule“ beim Versuch bezeichnete, die Regierung zu dezentralisieren und das Volk in örtlichen Verwaltungen zu vertreten, dürfte bis dahin auch an der Macht bleiben. Die Bewegung des einflussreichen schiitischen Geistlichen Moqtada al-Sadr boykottierte die Wahlen.
In Anbetracht der Widersprüche und Konflikte zwischen dem türkischen und dem arabischen Nationalismus in der Region ist es auch möglich, dass das Anheizen des Nationalismus zu weitaus gefährlicheren Entwicklungen führen kann. Denn in dem System des Nahen Ostens, das nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen wurde, wurden die Araber:innen zu einer Gesellschaft zweiter Klasse degradiert. Die arabische Gesellschaft hat dieses nun seit hundert Jahren bestehende System nicht akzeptiert und sich immer dagegen gewehrt. Sie hat immer darum gekämpft, den Platz der führenden Gesellschaft in der Region einzunehmen.
Natürlich ist es sehr wichtig zu untersuchen, wie sich die kurdische Frage und der Freiheitskampf in Kurdistan entwickeln und welche Auswirkungen dies auf die Region hat. In der Tat haben alle Probleme im Nahen Osten heute ihre Wurzeln in der kurdischen Frage. Die Gründe, die heute zum Krieg in der Region führen, und die Entstehung der kurdischen Frage sind aufs engste miteinander verbunden. Die kurdische Frage entstand als Folge des Mosul-Abkommens (ku. Mûsil) von 1926 zwischen der türkischen Regierung und Großbritannien. Ankara übergab Mûsil an die Briten, und der globale Kapitalismus, angeführt von Großbritannien, akzeptierte das System der Verleugnung und Vernichtung des kurdischen Volkes. Die kurdische Frage ist das Ergebnis der Teilung Kurdistans. In allen Teilen wurde das kurdische Volk einer Politik der Verleugnung und Ausrottung unterworfen. Alle diese Widersprüche und Konflikte sind miteinander verwoben. Daraus folgt, dass die im Irak durchgeführten Wahlen in einem solchen Umfeld von miteinander verflochtenen Widersprüchen und Konflikten keine dauerhafte Lösung der Probleme bieten können.
Für die irakische Regierung stellt sich auch das Problem der Beziehungen und der Zusammenarbeit mit der Regierung Südkurdistans. Die fortgeschrittenen politischen und ökonomischen Beziehungen der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) zum türkischen Staat verschärfen diese Problematik noch. Denn bei den Konflikten im Irak versuchen alle Regionalmächte ihre Interessen durch unterschiedliche Gruppen durchzusetzen. Der türkische Staat ist als Hauptverursacher der Konflikte im Irak zu betrachten. Seine Entschlossenheit, das osmanische Erbe antreten zu wollen, sein Bestreben, die sunnitische Konfession anzuführen, und sein Verhältnis zur kurdischen Frage machen ihn äußerst interessiert an den Entwicklungen im Irak. Am entscheidendsten ist hier die kurdische Frage und die Angst vor dem kurdischen Einfluss in Mûsil und Kerkûk. Besonders wenn die kurdische Bevölkerung in der Ölstadt Kerkûk aktiv wird, sieht sich der türkische Staat in seinen Interessen bedroht.
Aus diesem Grund versucht das türkische AKP/MHP-Regime unter Benutzung der turkmenischen Bevölkerung und des sunnitischen Islam im Irak und insbesondere in Kerkûk einen starken Einfluss zu entwickeln. Darüber hinaus soll so verhindert werden, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in dieser Region aktiv wird. Zu diesem Zweck zögert die türkische Führung nicht, auf alle Arten von Erpressung, Betrug und Drohungen zurückzugreifen, und wenn nötig, wird auch eine Annexion nach dem osmanischen Modell des Nationalpakts (Misak-ı Milli) auf die Tagesordnung gebracht.
Die Wahlen im Irak haben erneut gezeigt, dass die von der PKK vorgeschlagenen Modelle der demokratischen Autonomie und des demokratischen Konföderalismus den Weg zu einer Lösung weisen. Die PKK ist die wirksamste Kraft in der kurdischen Freiheitsbewegung und hat diese im Rahmen des Ansatzes des apoistischen Modells der demokratischen Nation entwickelt. Dieses Modell, das bereits in Rojava gelebt wird, garantiert das friedliche und selbstverwaltete Zusammenleben aller Identitäten und schiebt der Instrumentalisierung durch Regionalmächte einen Riegel vor.
Das Lösungsmodell der demokratischen Nation kann den Völkern des Nahen Ostens und der gesamten freien Menschheit zugutekommen. Es ist klar, dass das kurdische Volk eigentlich die wirksamste Kraft einer solchen Lösung sein sollte. Aber es ist derzeit zersplittert und kann daher die entstandenen Chancen und Möglichkeiten nicht nutzen. Dies führt dazu, dass es trotz allem nicht in der Lage ist, in wichtigen kurdischen Städten wie Kerkûk und Mûsil wirksam zu werden.
Es ist unbestritten, dass das kurdische Volk im heutigen Nahen Osten eine Rolle für Freiheit, Demokratie, Geschwisterlichkeit und Einheit spielt. Die von Abdullah Öcalan, Rêber Apo, entwickelte Lösung einer „Demokratischen Konföderation des Nahen Ostens“ beruht vollständig auf diesen Werten. Das ist auch der Grund dafür, dass die Geißeln der Menschheit, der Faschismus und der Nationalstaat, am schärfsten gegen die Kurd:innen vorgehen. Umgekehrt liegt hier aber auch das Geheimnis des erfolgreichen Widerstands des kurdischen Volkes gegen die nationalstaatliche Mentalität in der Region verborgen.
An dieser Stelle ist es anlässlich der Wahlen im Irak natürlich auch notwendig, die Rolle der PDK zu analysieren. Das faschistische AKP/MHP-Regime richtet seine Angriffe zweifellos vor allem gegen die Menschen in Nordkurdistan und die PKK. Um jedoch in diesem Krieg erfolgreich zu sein, muss es auch gegen die Menschen in anderen Teilen Kurdistans und andere kurdische Organisationen und Parteien vorgehen. Das Regime weiß, dass es sonst keinen Erfolg gegen die PKK und die Menschen in Nordkurdistan haben wird. Der Hauptzweck des Krieges, den es gegen die PKK und Kurdistan führt, ist die Vernichtung des kurdischen Volkes. Das betrifft alle Kurd:innen, egal wo.
Neben der PKK liegt der Fokus des türkischen Staates vor allen auf der PDK. Allein das gibt der PDK die Möglichkeit weiter zu existieren und ihren Einfluss in Kurdistan zu wahren.
Denn die PDK ist keine nationale kurdische Kraft, sondern eine Marionette der Akteure, welche die kurdische Frage erst geschaffen haben. Ihre Aufgabe ist es, eine nationale Bewegung, die Kurdistan als Ganzes erfassen könnte, zu verhindern. Wie die jüngsten Wahlen im Irak gezeigt haben, zögert sie nicht, diese absolut negative Aufgabe zu erfüllen.
Die türkischen Generäle, die seit 1983 Südkurdistan angreifen und Krieg führen, haben es offen ausgesprochen. Das heißt, der erste Grund für den Angriff auf Südkurdistan war die Zerschlagung der Freiheitsbewegung. Dann ging es darum, die Kontrolle über die PDK zu übernehmen und sie in einen Krieg gegen die Freiheitsbewegung zu ziehen. So konnte der türkische Staat seinen Einfluss durch die PDK immer weiter steigern. Aktuell ist mehr als deutlich geworden, wo die PDK steht. Es ist nun unausweichlich, Stellung zu beziehen. Die kurdischen Parteien müssen offener und vehementer zum Ausdruck bringen, dass sie nicht bereit sind, die PDK unter diesen Umständen zu akzeptieren. Es ist entscheidend zu begreifen, dass genau in dieser Region im Nahen Osten gerade der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird. Die Haltung der Kurd:innen ist hier von größter Bedeutung.
Denn die Kurd:innen, die vom Bewusstsein der demokratischen Nation geprägt sind, treten für die Veränderung des gegenwärtigen Status quo insgesamt und für die Bildung eines neuen regionalen Systems, das die kurdische Existenz berücksichtigt, ein. An diesem Punkt zeigt sich auch die Zersplitterung unter den Kurd:innen. Insbesondere die PDK spielt an dieser Stelle ihre unheilvolle Rolle. Auf der Grundlage der nationalstaatlichen Mentalität stellt sie sich auf die Seite der Mörder der Kurd:innen. In der gegenwärtigen Situation versuchen die Kräfte der kapitalistischen Moderne, sich auf die kurdische Dynamik zu stützen, um ihren Einfluss in der Region zu erhalten. Mit verschiedenen Versprechungen versuchen sie, die PDK und, wenn sie Erfolg haben, andere kurdische Parteien auf ihre Seite zu ziehen.
Auf der anderen Seite schlägt die Freiheitsbewegung Kurdistans vor, den Nationalstaat und die Strukturen der demokratischen Nation im Rahmen der demokratischen Politik mit der Formel Staat plus Demokratie in Beziehung zu setzen und sich auf dieser Grundlage auseinanderzusetzen. Die kurdische Einheit und Organisation ist unter den heutigen Bedingungen für alle sehr wichtig geworden. Auch die kurdische Politik muss diese Realität anerkennen und erfolgreich diese Einheit und Organisierung aufbauen. Denn die Überwindung des derzeitigen nationalstaatlichen Status quo im Nahen Osten hängt von der kurdischen Freiheit ab.
Das einzige Lösungsmodell für den Irak, Kerkûk und Mûsil ist das der demokratischen Nation und des demokratischen Konföderalismus. Denn die demokratische Nation beruht nicht auf Sprache, Religion, Land und Wirtschaft. Die demokratische Nation ist eine Nation der Vereinigung von Geist und Kultur. Sie basiert auf der freien Organisierung und der freien Selbstorganisierung aller nationalen Identitäten und ihrer Beteiligung an der demokratischen Einheit unter der supranationalen Identität des „Irak“. So könnten beispielsweise alle nationalen und religiösen Strukturen in Kerkûk sich selbst frei organisieren und verwalten und die demokratische Konföderation von Kerkûk das oberste demokratische Verwaltungsorgan bilden. Die kulturelle Verwandtschaft der Menschen und die Tatsache, dass sie im Laufe der Geschichte geschwisterlich zusammengelebt haben, machen dies möglich. Vorausgesetzt, es besteht eine einheitliche Mentalität und der Glaube an eine demokratische Verwaltung.
Die Lösung der demokratischen Nation ist keine Option unter vielen, sondern die einzige Lösung für den Irak und Kerkûk. Nur so können die Probleme der Region gelöst und der Frieden gesichert werden. Zu dieser Lösung gibt es keine Alternative. Ein oberstes Gremium einer demokratisch-konföderalen Verwaltung, das auf der Grundlage aller selbstorganisierten Identitäten gebildet wird, kann die Probleme lösen und Frieden für den Irak und Kerkûk bringen.
Zumindest die freiheitlichen Kurd:innen und die Kräfte, die wirklich an die Demokratie glauben, sollten in der Lage sein, sich für eine solche Lösung zusammenzuschließen und einen gemeinsamen Kampf zu führen, um diese zu verwirklichen. Ein Hinauszögern in dieser Frage und die Suche nach anderen Lösungen kann zu neuen Katastrophen führen.