In Şengal spitzt sich die Lage aufgrund des Abkommens zwischen Hewlêr und Bagdad zur Zukunft des ezidischen Hauptsiedlungsgebietes in Südkurdistan zu. Der Autonomierat von Şengal (MXDŞ) hat sich mit einer öffentlichen Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt. Darin formuliert der MXDŞ Forderungen zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe und ruft die kurdische Gesellschaft zur Mobilisierung auf. Wenn man jetzt nicht handle, drohe nicht nur enormes Leid für die Zivilbevölkerung, sondern der 75. Genozid an dieser monotheistischen Glaubensgemeinschaft.
Seit dem von den USA und der Türkei unterstützten und zwischen der irakischen Zentralregierung und der Leitung der südkurdischen Autonomieregion am 9. Oktober 2020 unter UN-Aufsicht in Bagdad geschlossenen Abkommen zur Zukunft von Şengal steht das ezidische Siedlungsgebiet in Südkurdistan unter hoher Anspannung. Die Menschen in der Region sind empört darüber, dass der Vertrag über die Köpfe der betroffenen Bevölkerung hinweg geschlossen wurde. Zwar liegt Şengal außerhalb der Autonomieregion, doch die Regierungspartei PDK beansprucht die Kontrolle über das Gebiet. Laut der Vereinbarung obliegt die Verwaltung der Region nun Hewlêr, die Sicherheit der Autorität der irakischen Zentralregierung. Dafür müsse die Region von „lokalen und von außen kommenden bewaffneten Gruppen gesäubert werden“. Gemeint sind vor allem die Widerstandseinheiten YBŞ (Yekîneyên Berxwedana Şengalê).
Vor einer Woche hatte eine Abordnung aus Şengal noch mit dem irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi in Bagdad über einen alternativen Plan zu dem Abkommen verhandelt. Zwar äußerte sich Kadhimi positiv und versicherte, man wolle sich auf eine gemeinsame Lösung einigen, der alle Beteiligten zustimmen könnten. Doch dies scheint nur eine Verzögerungs- und Hinhaltetaktik gewesen zu sein. „Alle unsere Versuche, die Şengal-Frage im Dialog zu lösen, sind gescheitert. Es sieht danach aus, dass die Parteien auf der Umsetzung des Abkommens bestehen“, so der MXDŞ. Besonders besorgniserregend sei die derzeitige Situation vor dem Hintergrund intensiver Vorbereitungen für Truppenkonzentrationen in die Region.
Der Großteil der Ezidinnen und Eziden steht der PDK misstrauisch oder gar feindlich gegenüber. Hintergrund ist der kampflose Rückzug der PDK-Peschmerga am 3. August 2014, als die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) einen Genozid und Femizid in Şengal verübte. Die Gemeinschaften der Region, die nach dem IS-Angriff den demokratischen Autonomierat MXDŞ etabliert haben, der heute vierzehn örtliche Gemeindeverwaltungen repräsentiert, sind nicht bereit, Entscheidungen und die erneute Herrschaft von Kräften, die bedingt durch ihren Beitrag zum ezidischen Völkermord ihre Legitimation verloren haben, zu akzeptieren. Ein weiterer Grund, warum dem Abkommen jegliche Legitimität abgesprochen wird, ist die Tatsache, dass es sich um eine Vereinbarung handelt, die den geostrategischen Zielvorstellungen der türkischen Erdogan-Regierung entspricht.
„Die Ezidinnen und Eziden sind heute in der Lage, ihre Selbstverteidigung ohne Intervention von außen zu gewährleisten. Wir sind bei der Verteidigung unserer Existenz nicht auf die Anwesenheit fremder Truppen angewiesen. Im Übrigen handelt es sich bei denjenigen, die heute die militärische Oberhand in Şengal beanspruchen, um jene Kräfte, die sich dem IS-Überfall durch Flucht entzogen haben. Unser Volk ist nicht im Mindesten auf Konfrontation aus. Aber sollte es zu Angriffen auf unsere Errungenschaften kommen, werden wir unser legitimes Recht auf Selbstverteidigung ausüben“, heißt es in der Stellungnahme des MXDŞ.
Der Autonomierat formuliert seine grundsätzliche Auffassung von dem Abkommen zwischen Hewlêr und Bagdad mit folgenden Worten:
- Bruch des Willens der ezidischen Bevölkerung, der gleichbedeutend mit der Auslöschung der Selbstverteidigung Şengals ist
- Verhaftung der Ezidinnen und Eziden, die gegen den IS kämpf(t)en
- Die Beschlagnahme der Waffen, die bei der Verteidigung Şengals zum Einsatz kommen
- Die Trennung der Verbindungen zwischen den einzelnen Dörfern, Vierteln und Städten durch die Einrichtung von Kontrollpunkten
- Die Einkesselung heiliger ezidischer Stätten und Stationierung fremder Streitkräfte durch Belagerung der Grenzen Şengals
- Die Wiederansiedlung von ehemaligen arabischen Bewohnern, die dem IS bei der Tötung, Verschleppung und dem Verkauf von Ezidinnen und Eziden auf Sklavenmärkten Schützenhilfe leisteten.
Unsere Bevölkerung muss handeln
Zusammenfassend ließen die einzelnen Punkte den Schluss zu, dass es sich bei der Umsetzung des Abkommens um den 75. Genozid an der ezidischen Gemeinschaft handeln würde. Der MXDŞ ruft die kurdische und internationale Gemeinschaft auf, umgehend aktiv zu werden: „Was die Dschihadisten des IS nicht vollenden konnten, wird durch das von der irakischen Regierung erlassene Dekret faktisch zum Gesetz. Unser Volk in allen Teilen Kurdistans und die politischen Parteien müssen handeln, um das neue Ferman* zu verhindern.“
* Die Massaker an der ezidischen Bevölkerung geschahen infolge offizieller Anordnungen (Ferman) osmanischer Sultane. Seither werden die mittlerweile 74 organisierten Verfolgungs- und Mordwellen an Ezid*innen als „Ferman“ bezeichnet.