Eine ezidische Abordnung hat in Bagdad mit dem irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi über einen alternativen Plan zum Abkommen für die Zukunft der Şengal-Region verhandelt. Die aus Vertreterinnen und Vertretern des Autonomierates von Şengal (MXDŞ), der Freiheits- und Demokratiepartei (PADÊ) und des Frauendachverbands (TAJÊ) bestehende Delegation übergab Kadhimi am Montag einen von den Selbstverwaltungsstrukturen formulierten Forderungskatalog, der den Willen der in Şengal lebenden Völker repräsentiere. Kadhimi habe sich positiv geäußert und versichert, äußere Interventionen in der Şengal-Frage nicht zuzulassen, so die Delegierten. Stattdessen wolle man sich auf eine gemeinsame Lösung einigen, der alle Beteiligten zustimmen könnten.
Seit dem von den USA und der Türkei unterstützten und zwischen der irakischen Zentralregierung und der Leitung der Autonomieregion Südkurdistan am 9. Oktober 2020 unter UN-Aufsicht in Bagdad geschlossenen Abkommen zur Zukunft von Şengal steht das ezidische Siedlungsgebiet in Südkurdistan unter hoher Anspannung. Die Menschen in der Region sind empört darüber, dass der Vertrag über die Köpfe der betroffenen Bevölkerung hinweg geschlossen wurde. Zwar liegt Şengal außerhalb der Autonomieregion, doch die Regierungspartei PDK beansprucht die Kontrolle über das Gebiet. Laut der Vereinbarung obliegt die Verwaltung der Region nun Hewlêr, die Sicherheit der Autorität der irakischen Zentralregierung. Dafür müsse die Region von „lokalen und von außen kommenden bewaffneten Gruppen gesäubert werden“. Gemeint sind die Widerstandseinheiten YBŞ (Yekîneyên Berxwedana Şengalê), aber vermitlich auch proiranische schiitische Milizen der im Zuge des Kampfes gegen den IS aufgestellten Volksmobilisierungseinheiten (Hashd al-Shaabi).
Eziden stehen PDK misstrauisch gegenüber
Der Großteil der Ezidinnen und Eziden steht der PDK misstrauisch oder gar feindlich gegenüber. Hintergrund ist der kampflose Rückzug von den Peschmerga-Kräften Hewlêrs im August 2014, als die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) einen Genozid und Femizid in Şengal verübte. Die Gemeinschaften der Region, die nach dem IS-Angriff einen Autonomierat etabliert haben, der heute vierzehn örtliche Gemeindeverwaltungen repräsentiert, sind nicht bereit, Entscheidungen und die erneute Herrschaft von Kräften, die bedingt durch ihren Beitrag zum ezidischen Völkermord ihre Legitimation verloren haben, zu akzeptieren. Ein weiterer Grund, warum dem Abkommen jegliche Legitimität abgesprochen wird, ist die Tatsache, dass es sich um eine Vereinbarung handelt, die den geostrategischen Zielvorstellungen der türkischen Erdogan-Regierung entspricht.
18-Punkte-Plan als Lösungsvorschlag
Die Leitlinien und Ziele, die vom Autonomierat Şengals in einem 18-Punkte-Plan als Lösungsvorschlag aufgestellt wurden, umfassen an erster Stelle die Anerkennung des Völkermords an den Ezidinnen und Eziden durch die Regierung und das Parlament des Irak, die strafrechtliche Verfolgung der Hauptverantwortlichen für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Bemühungen des Landes, den Genozid durch ein internationales Gericht aufklären zu lassen, die Exhumierungen der vom IS angelegten Massengräber mit ezidischen Genozidopfern zu beschleunigen und eine Ermittlungskommission über den Verbleib der entführten ezidischen Frauen und Kinder zu bilden. Zudem wird ein politischer Status und damit einhergehend die Bildung eines unabhängigen, repräsentativen, verantwortlich-politischen Verwaltungsgremiums gefordert, das sich aus allen ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen Şengals zusammensetzt, da nur dieses Konzept vereinbar mit dem Demokratieprinzip sei. Das bislang zum irakischen Gouvernement Ninive (Ninawa) zählende ezidische Hauptsiedlungsgebiet sollte im Einklang mit der irakischen Verfassung zu einer dezentralen Provinz erklärt werden.
Alle Entscheidungen unter Berücksichtigung des vielfältigen Bevölkerungsmosaiks
Daneben werden wirkungsvolle Mechanismen verlangt, um Şengal vor inneren und äußeren Gefahren zu schützen und den Wieder- bzw. Neuaufbau der Infrastruktur, des Sicherheits-, Gesundheits- und Bildungssystems zu unterstützen. Familien, die beim Genozid ihre Angehörigen verloren haben oder weiterhin vermissen, deren Häuser zerstört wurden, müssten in den Entschädigungsprozess miteinbezogen werden. Genauso müssten die zu hunderttausenden geflüchteten Ezid*innen bei der Rückkehr mit finanziellen Mitteln unterstützt werden. In dem Strategiepapier wird vorgeschlagen, alle ezidischstämmigen Soldaten der irakischen Streitkräfte als Verteidigungskraft Şengals in die Region zu versetzen und ein an das irakische Innenministerium gebundene Polizeiwesen für die Einhaltung der Menschenrechte und den Umgang mit zivilen Konflikten zu etablieren. Die Delegation schlägt dafür 5.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor, die unter Berücksichtigung des vielfältigen Bevölkerungsmosaiks in Şengal ausgewählt werden sollten. Weitere Punkte betreffen Maßnahmen für die Gewährleistung der psychischen, physischen, kulturellen und religiösen Existenz der ezidischen Gemeinschaft sowie der weiteren Völker in der Şengal-Region, die Garantie der Grundrechte und ein Leben in Freiheit und Gleichberechtigung. Sicherheitspolitische Überwachungsmechanismen und die Öffnung eines Grenzübergangs zwischen Şengal und Syrien – insbesondere für die Rückführung der in die nordostsyrischen Autonomiegebiete geflohene Bevölkerung – gehören ebenfalls zu den Forderungen. Die Reaktionen aus Bagdad werden mit Spannung erwartet.
Parallel zu Verhandlungen Proteste in Şengal
Während die ezidische Delegation mit dem irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi in Bagdad verhandelte, kam es in Şengal zu einer Demonstration gegen die tödlichen Militäraktivitäten der Türkei bezüglich Şengal. Die Proteste richteten sich teilweise auch gegen Sicherheitskräfte der Zentralregierung. Hintergrund ist die verweigerte Herausgabe der Leiche eines Luftangriffsopfers. Am 8. November hatte die türkische Armee den Checkpoint der Verteidigungskräfte Nasir al-Mubin im Dorf Xelef (Khalaf), das verwaltungstechnisch zur Gemeinde Barê gehört, bombardiert. Die Leiche des Getöteten befindet sich weiterhin in einem Krankenhaus in Mosul.
Jugendliche stecken aus Protest Autoreifen in Brand | Foto: YJŞ-Pressezentrum
Im Zuge der gestrigen Proteste, bei denen einige Jugendliche Autoreifen in Brand steckten, hatten irakische Sicherheitskräfte eine baldige Freigabe signalisiert. Bislang sei derartiges allerdings nicht geschehen, heißt es aus Şengal.