In der ezidischen Şengal-Region sorgt ein Todesurteil gegen mehrere Überlebende des Genozids des IS für große Aufregung. Wie der Demokratische Autonomierat Şengal (Meclîsa Xweseriya Demokratîk a Şengalê, MXDŞ) heute in Sinûnê mitteilte, wurden am Mittwoch vier junge Männer unter 20 Jahren von einem irakischen Gericht in Mosul zur Todesstrafe verurteilt. Den Eziden werde ohne jegliche Beweise ein Zweifachmord an zwei Angehörigen des arabischen Schammar-Stammes angelastet. Die Leichen der beiden Männer waren am 26. September 2020 auf der Verbindungsstraße in das Dorf Til Ezer (ar. al-Qahtaniyya) gefunden worden. Noch am selben Tag führten irakische Sicherheitskräfte eine Razzia durch und nahmen die vier Eziden fest. Kurz darauf ordnete ein Gericht in Mosul bereits Haftbefehl an. Die Betroffenen bestreiten die Mordvorwürfe an den Mitgliedern des ursprünglich beduinischen Stammes und auch ihre Eltern widersprechen den Anschuldigungen massiv.
„Das Urteil des Gerichts in Mosul gegen vier junge Angehörige unserer Gemeinschaft ist die politische Entscheidung einer Willkürjustiz. Wir sind schockiert und fassungslos“, erklärte Xezal Reşo vom MXDŞ. Seit Jahren würden in den Haftanstalten des Iraks tausende IS-Dschihadisten wegen Verbrechen an den Eziden und ihrer Beteiligung am Genozid vom 3. August 2014 einsitzen, so die Politikerin. „Doch trotz eindeutigen Beweisen gegen sie werden Todesurteile nur in den wenigsten Fällen ausgesprochen. Wir wollen wissen, warum sich die irakischen Gerichte den Verfahren von Eziden binnen kurzer Zeit entledigen.“
Presseerklärung des MXDŞ in Sinûnê | Video: RojNews
Urteil bedeutet weiteres Ferman
Für den MXDŞ komme das Urteil einem weiteren Ferman (Dekret; der Begriff Ferman geht auf die offiziellen Massaker-Befehle osmanischer Sultane zurück. Seitdem werden die mittlerweile 74 organisierten Verfolgungs- und Mordwellen von Eziden als Ferman bezeichnet) gleich, führte Reşo weiter aus. „Wir als MXDŞ rufen das ezidische Volk auf, gegen diese Ungerechtigkeit, die unserer Jugend angetan wurde, auf die Straße zu gehen. Wenn wir heute schweigen, werden morgen hunderte von uns betroffen sein.“
Demonstration in Şengal
In Şengal selbst fand bereits eine erste Demonstration statt. Hunderte Menschen zogen beginnend vom Naser-Platz hinter einem Fronttransparent mit der Aufschrift „Wer schweigt, macht sich zum Handlanger der Unterdrücker“ bis zur Vertretung der irakischen Zentralregierung. Viele Frauen hielten Fotos der vier Verurteilten in den Händen. Der Marsch mündete in eine Kundgebung, die aber immer wieder mit dem lautstarken Ruf nach „Gerechtigkeit“ unterbrochen wurde. In einer Erklärung, die im Namen der ezidischen Gemeinschaft Xeyrî Şengalî verlas, wurde die irakische Justiz zur Wahrung von „Recht und Gesetz“ ermahnt. „Vor dem Gesetz sollten wir alle gleich sein. Es darf nicht passieren, dass Gerichte politisch oder religiös motivierte Urteile fällen.“ Der Prozess gegen die vier Eziden geht jetzt vermutlich in die Berufung. Sollte das Todesurteil bestätigt werden, muss die Hinrichtungsverfügung von Präsident Barham Salih ratifiziert werden. Ohne dessen Unterschrift können Todesstrafen laut der irakischen Gesetzgebung nicht vollstreckt werden.
Kundgebung in Şengal | Video: RojNews
Hunderte Todesurteile dieses Jahr bereits gebilligt
Der Irak zählt weltweit zu den fünf Staaten, in denen jährlich am meisten Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt werden. Zwar wurde die Todesstrafe nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein von der US-amerikanischen Übergangsverwaltung ausgesetzt. 2004 wurde sie von Bagdad aber wieder eingeführt, mit der Begründung, damit die Gewalt im Land eindämmen zu wollen. Allein Anfang dieses Jahres sind im Irak mehr als 340 Todesurteile von Präsident Barham Salih gebilligt worden.