An ihrem Grab in Qoser (tr. Kızıltepe) ist Uğur und Ahmet Kaymaz gedacht worden. Anlass war der Todestag, der sich heute zum neunzehnten Mal jährte. Der Grabbesuch, an dem sich neben Angehörigen der Getöteten zahlreiche Menschen aus der lokalen Bevölkerung sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft beteiligten, wurde auch zum Anlass genommen, gegen die erst vor wenigen Tagen erfolgte Schändung der gemeinsamen Grabstelle von Vater und Sohn zu protestieren. „Wir kämpfen gegen ein Phänomen, das seine Besatzungsmentalität selbst gegenüber Toten geltend machen will“, erklärte Aysel Ayav, Ko-Vorsitzende des HDP-Bezirksverbands in Qoser.
Dreizehn Kugeln auf Uğur Kaymaz
Es war der 21. November 2004, als der zwölfjährige Uğur und sein Vater Ahmet Kaymaz in der kurdischen Stadt Qoser von türkischen „Sicherheitskräften“ erschossen wurden. Der Mord fand vor dem Haus der Familie statt, Vater und Sohn waren mit dem Entladen eines LKW beschäftigt. Bei der Autopsie wurden dreizehn Kugeln in Uğurs Körper entdeckt, neun davon waren laut gerichtsmedizinischem Gutachten aus nächster Nähe auf seinen Rücken abgegeben worden. In der Leiche seines Vaters fand man acht Kugeln.
Der Provinzgouverneur erklärte nach dem Mord, es habe sich bei Uğur und Ahmet Kaymaz um Terroristen gehandelt, die einen Anschlag planten. Um diese Behauptung zu untermauern, wurde der Tatort nach der Tat präpariert und Kalaschnikows neben die zuvor im Schlafanzug und mit Pantoffeln auf der Straße agierenden Vater und Sohn gelegt. Dies bestätigten Augenzeugen und entsprechende Indizien.
„Mein Ehemann Ahmet ist Lastwagenfahrer. Mit unserem eigenen LKW führen wir Transporte durch. Mein Sohn Uğur wurde 1992 geboren, er ging in die 5. Klasse der Grundschule. Er begleitete ab und zu seinen Vater auf der Fahrt. Einen Tag nach dem Vorfall wollte mein Mann nach Iskenderun, um einen Transport durchzuführen. Daher bereitete er sich auf die Reise vor. Gegen 16.30 Uhr am Tag des Vorfalls hatten wir den Tisch gedeckt und das Essen serviert. Mein Mann war mit meinem Sohn damit beschäftigt, Decken und Matratzen zum Laster zu tragen. Beide trugen Hausschuhe. Anschließend wollten wir essen. Unser LKW parkte etwa 40 bis 45 Meter von unserer Wohnung entfernt, an der Hauptstraße. Als mein Mann und mein Sohn nach draußen gegangen waren, um die Sachen hinzubringen, hörten wir kurze Zeit darauf Schüsse. Ich war mit meinen drei anderen Kindern und meiner Schwiegermutter zu Hause. Wir hatten uns erschrocken und gingen über den Balkon zur Terrasse unserer Nachbarn, die gleichzeitig unsere Verwandten sind. Von dort habe ich meinen Sohn Uğur vor dem LKW knien und den Kopf nach vorne beugen gesehen. Ich habe ihn an seiner weißen Hose erkannt. Die Schüsse wiederholten sich in gewissen Abständen. Nach einiger Zeit kam die Polizei, unsere Wohnung zu durchsuchen, und wir wurden zur Staatsanwaltschaft zum Verhör mitgenommen. Später habe ich erfahren, dass mein Sohn und mein Mann getötet worden waren.“ - Makbule Kaymaz, zitiert nach einem Untersuchungsbericht des Menschenrechtsvereins IHD.
Makbule Kaymaz heute an der Grabstelle ihres Mannes und Kindes
Staat schützt seine Täter
Erst durch die Bemühungen der Familie und des IHD wurde ein Ermittlungsverfahren gegen vier Polizisten eingeleitet. Die Anklage lautete auf „Tötung in Überschreitung legitimer Notwehr“. Der erste Verhandlungstermin fand am 21. September 2005 in Mêrdîn statt, der später ermordete Anwalt Tahir Elçi trat bei dem Prozess als Nebenkläger auf. Doch die große Solidarität der kurdischen Öffentlichkeit mit der Familie Kaymaz – tausende Menschen aus verschiedenen Städten waren nach Mêrdîn gereist – ließ das Justizministerium den Prozess „aus Sicherheitsgründen“ ins westtürkische Eskişehir verlegen. Nach drei Jahren Verhandlungsdauer unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden die angeklagten Polizisten am 18. April 2007 freigesprochen. In der Urteilsverkündung hieß es, sie hätten in Notwehr gehandelt, weil Uğur und sein Vater „Terroristen“ gewesen seien. Ihre Tötung wurde von der türkischen Justiz als gerechtfertigt eingestuft.
Türkei von EGMR verurteilt
Die Familie Kaymaz klagte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die türkischen Behörden. Das Verfahren in Straßburg endete in einem Schuldspruch wegen Verletzung des Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der das Recht auf Leben garantiert. Im Februar 2014, fast zehn Jahre nach dem Tod von Vater und Sohn Kaymaz, verurteilte der EGMR die Republik Türkei zu einem Schmerzensgeld von 143.000 Euro für den Tod von Ahmet und Uğur Kaymaz. Unter anderem wurde das „Recht auf Leben“ missachtet, urteilte der Gerichtshof.