KCD fordert Wahrheitskommission für Massaker im Zîlan-Tal

Am 13. Juli 1930 wurde im Zîlan-Tal der letzte Ararat-Aufstand niedergeschlagen, zehntausende Kurdinnen und Kurden wurden ermordet. 93 Jahre später ist den Opfern, Überlebenden und ihren Nachfahren noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren.

Am 13. Juli 1930 wurde im Zîlan-Tal in Wan der letzte Ararat-Aufstand niedergeschlagen, zehntausende Kurdinnen und Kurden wurden ermordet. 93 Jahre nach Komkujiya Geliyê Zîlanê, wie das Massaker im Kurdischen bezeichnet wird, ist den Opfern, Überlebenden und ihren Nachfahren noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren. Der Demokratische Gesellschaftskongress (KCD), ein Graswurzelbündnis mit Sitz in Amed (tr. Diyarbakır), der als Dachverband politischer Parteien, NGOs, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen fungiert und gestützt auf Räte- und Basisdemokratie Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung im nördlichen Kurdistan und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet, setzt sich seit Jahren für eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung des Massakers im Zîlan-Tal ein. Zum Jahrestag hat der KCD diese Forderung erneuert.

„Die Einrichtung einer unparteiischen und unabhängigen Kommission für das Zîlan-Massaker ist notwendig und dringend“, betont die Organisation in einer Mitteilung. Ein solches Instrument würde nicht nur die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen von 1930 aufklären und eine Zuordnung von Verantwortung zu staatlichen Institutionen gewährleisten. Sie würde auch den Beginn einer Entwicklung markieren, die den Opfern, Überlebenden und Nachfahren Wahrheit, Gerechtigkeit, umfassende Wiedergutmachung und Maßnahmen gegen eine Wiederholung bringt. Es gehe es darum, dass die Verbrechen während des Massakers nicht mehr geleugnet werden und die Vergangenheit in ein mildes Licht getaucht werde.

Der tote Reşoyê Silo, einer der Anführer des Widerstands im Zîlan-Tal | Quelle: https://ararat-welat.blogspot.com/


Der Staat will das Geschehene vergessen machen

Doch leider sei in der Türkei die Bereitschaft des Staates, sich seiner Verbrechen zu stellen und diese zu akzeptieren, so gut wie nicht vorhanden, kritisiert der KCD. Damals wie heute setze Ankara auf eine Politik der Leugnung und Verharmlosung, Gleichgültigkeit und Apathie. Diese Haltung werde auch dadurch bestätigt, dass Informationen zu den Grabstätten von kurdischen Widerstandsanführern wie Sey Rızo (Seyid Riza) und Şêx Seîd seit Jahrzehnten nicht offengelegt werden. Mit der Flutung von Massengräbern mit den Überresten der Opfer von Massakern durch Staudämme, wie zuletzt auch im Zîlan-Tal geschehen, wolle der Staat zudem das Geschehene „systematisch“ vergessen machen und die Menschen Kurdistans ihrer Erinnerung berauben.

Die Herrschenden hätten kein Interesse an einer öffentlichen Untersuchung des Staatsterrors der türkischen Republik in Kurdistan und einer juristischen Bewertung ihrer eindeutigen Verbrechen, so der KCD. „Die Tatsache jedoch, dass die monistische Mentalität des antikurdischen Staates bis heute wirkt und das Massaker im Zîlan-Tal nicht das letzte an den Kurdinnen und Kurden war, zeigt uns, dass eine Aufklärung und Bewertung durch eine Wahrheitskommission unabdingbar sind. So kann der Grundstein des rechtlichen und historischen Bewusstseins sowie ein Fundament für die weitere Aufarbeitung der Vergangenheit gelegt werden. Als KCD gedenken wir aller Menschen, die beim Komkujiya Zîlanê ermordet wurden und betonen, dass der Weg zu Wiedergutmachung und Frieden in der Konfrontation liegt.“

Das Massaker vom Zîlan-Tal und die historischen Hintergründe

Die Kurdinnen und Kurden haben die in der Verfassung der türkischen Republik von 1924 festgeschriebene islamische und türkische Staatsdoktrin nicht widerstandslos hingenommen. Der am 13. Februar 1925 in Amed unter der Führung des kurdischen Geistlichen Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) ausgebrochene Aufstand machte den Anfang zahlreicher kurdischer Rebellionen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die dem Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten und sich gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz, den Entzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik richteten.

Ein fast ausgetrockneter Stausee im Zîlan-Tal förderte diesen Winter Schädel und Knochen von Opfern des Massakers zutage | Foto: Sedat Ulugana via Artı Gerçek


Am 29. Juni 1925 wurden Şêx Seîd und seine Gefährten hingerichtet, aber schon im darauffolgenden Mai begannen die Ararat-Aufstände. Doch zu der Zeit hatte die türkische Regierung mit ihrem „Reformplan für den Osten“ (Şark Islahat Planı) ihr systematisches Vorgehen gegen den kurdischen Widerstand bereits festgelegt. Unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands sah dieser Plan Maßnahmen der Assimilation vor, zu denen Deportationen, Umsiedlungen und Massenmorde gehörten. Mit diesem Plan wurde die Kurdenfrage dem Militär unterstellt, was noch bis in die nahe Gegenwart spürbar ist. Das, was wir heute die kurdische Frage nennen, entstand in diesen Jahren.

Drei Aufstände am Ararat

Der erste Ararat-Aufstand scheiterte 1926 an seiner regionalen Begrenzung und mangelnden Vorbereitung. Der zweite zog sich über die Jahre 1927 bis 1930 hin. Im Gegensatz zur ersten Rebellion in der Region um den Ararat kam bei diesem Aufstand zum ersten Mal die Idee der Einheit aller kurdischen Gruppierungen mit dem Ziel eines unabhängigen Staates auf, kostete jedoch viele Opfer und endete mit der Flucht oder Hinrichtung seiner Führung.

August 1930: Kurdische Aufständische in türkischer Gefangenschaft | Aus dem Archiv des türkischen Kampfpiloten Naim Bürküt | Quelle: Sedat Ulugana / Yeni Özgür Politika


1930 kam es zum dritten und letzten Ararat-Aufstand. Zwischenzeitlich hatte die 1927 im Libanon von Intellektuellen und Feudalherren gegründete kurdische Unabhängigkeitsbewegung Xoybûn ihre Absicht erklärt, den Aufstand zu unterstützen. Dazu entsandte sie den ehemaligen osmanischen Offizier Ihsan Nuri Pascha, der zum General des Aufstandes wurde. Die von ihm geführten Partisanen eroberten ein Gebiet bis nördlich von Wan an der Staatsgrenze zu Iran und Bedlîs. Doch im Sommer 1930 schlugen 80 türkische Kampfflugzeuge und zwei Armeekorps die Unabhängigkeitsbewegung in der Zîlan-Schlucht in Erdîş (Erciş) nieder.

Bis zu 55.000 Tote

93 Jahre später ist weiterhin unklar, wie viele Opfer die Zerschlagung des letzten Ararat-Aufstands am 13. Juli 1930 gefordert hat. Gemäß der Cumhuriyet, der meistgelesenen türkischen Tageszeitung in den 1930er bis 1940er Jahren, starben etwa 15.000 Menschen. Nach Angaben von Überlebenden und Teilnehmern des Aufstands wurden bis zu 55.000 Menschen auf grausame Weise getötet: Dorfbewohnende, die aneinandergebunden und mit Maschinengewehrsalven erschossen wurden, zu Tode geprügelte und skalpierte Menschen und schwangere Frauen, denen die Bäuche aufgerissen wurden. Die meisten der Opfer wurden jedoch mit Maschinengewehren aus der Sowjetunion durchsiebt. Die UdSSR war damals Hauptwaffenlieferant der türkischen Republik unter Führung des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Für die türkischen Zeitungen, allen voran Cumhuriyet, waren die Kurdinnen und Kurden „wie die Wilden Afrikas”, „Kannibalen”, „Banditen” und eine „Plage für die türkische Rasse”; die Zeitungen feierten das Massaker. 1937/38 sollte das Komkujiya Zîlanê mit dem Genozid in Dersim und 70.000 Toten sogar noch übertroffen werden.

Dorfverbrennungen nach „Säuberungsaktion“

Nach der „Säuberungsaktion“ im Zîlan-Tal, so nannte die türkische Republik das Massaker, wurde der Besitz der Getöteten an regierungstreue Kurden übergeben. Anschließend wurden mindestens 60 Dörfer niedergebrannt, dem Berliner Tageblatt zufolge zerstörten die Türken in der Gegend von Zîlan sogar 220 Dörfer. Das gesamte Gebiet um das Tal wurde vom Staat beschlagnahmt, in einigen Dörfern, die dem Zerstörungswahn von Atatürks Soldaten nicht zum Opfer fielen, wurden Jahre später Kirgisen und Afghanen angesiedelt.

Spuren des Massakers verschwinden unter Staudämmen

1992, nach fast 14 Jahren Bauzeit, wurde in Erdîş der Koçköprü-Staudamm eröffnet. Mit der Flutung einiger Dörfer im Zîlan-Tal wurden so unzählige Massengräber unter Wasser gesetzt. 2019 wurde in der Schlucht im Schatten der Corona-Pandemie der Bau von vier Wasserkraftanlagen wiederaufgenommen - trotz eines gerichtlich beschlossenen Baustopps. Mittlerweile sind alle Massengräber mit den Überresten tausender Menschen, die 1930 beim Zîlan-Massaker getötet wurden, in Stauseen verschwunden. Die Genozide der Vergangenheit wurden so durch neue Verbrechen verschleiert und Mensch und Umwelt in Kurdistan zerstört.