Der Zwangsverwalter der nordkurdischen Provinz Êlih (tr. Batman) hat eine Büste des kurdischen Dichters und Schriftstellers Cegerxwîn abreißen lassen. Die Büste war 2007 von der damaligen Stadtverwaltung im „Kime Em“-Park errichtet worden. Êlih steht fast alle kurdischen Gemeinden und Städte in der Türkei unter staatlicher Zwangsverwaltung, die gewählten Ko-Bürgermeister:innen wurden vom Innenministerium suspendiert und zu einem Großteil inhaftiert. Das Denkmal für den großen Dichter Cegerxwîn war bereits 2014 von Unbekannten von seinem Standort entfernt worden.
Protest der HDP: „Kurdische Kultur, Geschichte und Sprache sollen in Vergessenheit geraten“
Der HDP-Verband Êlih hat vor seiner Zentrale in der Provinzhauptstadt gegen den Abriss protestiert. An der Protestaktion nahmen die abgesetzten Bürgermeister:innen Songül Korkmaz und Mehmet Demir teil, auch Aktivist:innen der Frauenbewegung TJA und der Initiative der Friedensmütter war anwesend. Songül Korkmaz erklärte, dass der Zwangsverwalter einem faschistischen Nationalstaatsverständnis folge, das auf dem Paradigma „Eine Sprache, eine Religion, eine Nation“ basiere. Die HPG hingegen betrachte Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt als Reichtum. Korkmaz verwies auf viele ähnliche Maßnahmen in anderen kurdischen Ortschaften und die Verbote von Konzerten kurdischer Musikgruppen.
„Bei der Zwangsverwaltung handelt es sich um ein faschistisches Regime, das die kurdische Kultur, Geschichte, Kunst und Sprache aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis streichen und die kurdischen Intellektuellen und Vorreiter in Vergessenheit geraten lassen will“, sagte die abgesetzte HDP-Bürgermeisterin und forderte die sofortige Wiedererrichtung der Cegerxwîn-Büste.
Wer war Cegerxwîn?
Cegerxwîn, mit bürgerlichem Namen Şehmus Hasan, wurde 1903 im Dorf Hesarê (Hisar) in Nordkurdistan geboren – daher auch sein Beiname Hesarî. Damals gehörte der Ort zu Mêrdîn (Mardin), heute ist das Dorf eine Gemeinde in Êlih (Batman). 1914 floh Cegerxwîn mit seiner Familie vor den Kämpfen des Ersten Weltkrieges nach Dêrik in Nordsyrien. Über ungefähr sechs Jahre seiner frühen Zeit, auch über die Zeit in Dêrik ist wenig bekannt. Weder in Werken wie der Anthologie der kurdischen Literatur von Mehmed Uzun oder in der Literaturgeschichte der Kurden von Qenadê Kurdo wird darüber berichtet. Die Jahre dort müssen jedoch sehr prägend für sein Gerechtigkeits- und Freiheitssinn gewesen sein. Durch seine Tätigkeit als Landarbeiter und Hirte kam Cegerxwîn bald in Widerspruch zu den Agahs und Mullahs. Er versuchte als besitzloser Tagelöhner in der Landwirtschaft auszukommen, wollte studieren und essen. Doch es half alles nichts, er fand dort kein Auskommen mehr. So stammen aus der Zeit die Zeilen „Dêrik bi rez bi terezî / Ser Dêrikê bi axa û bi teresî / Hêvî dikim ji xedayê av û bej / Ruhê van bistinî bi lez bi lez” (deut. „Weingärten und Einvernehmen – das ist Dêrik / Agha und Heuchlerei regieren Dêrik / Doch ich schöpfe Hoffnung aus Gott / Soll er ihre Seelen doch eher zu sich nehmen”). Über die Zeit in Dêrik sagte Cegerxwîn selbst: „Dêrik ist eine Quelle der Kultur. Wäre ich nicht nach Dêrik gegangen und wären die Schönheiten der Natur und der Geschichte Dêriks nicht gewesen, ich glaube, ich wäre nie ein Dichter geworden.”
Cegerxwîn trennte sich von Dorf und Aghas, zog nun von Dorf zu Dorf und trug Gedichte vor. Es soll ihn am Ende des Ersten Weltkrieges nach Amûdê verschlagen haben. Dort überraschte ihn dann die Auflösung des Osmanischen Reiches. Die Mandatsmächte zogen neue Grenzen und so war er erst einmal vom Ort seiner Geburt abgeschnitten.
Achtzehnjährig besuchte er eine Medresse (Koranschule) und wurde beinahe neun Jahre in Religion unterwiesen. In Amed (Diyarbakir) waren seine Lehrer angesehene Gelehrte wie Meleyê Serî Jêkirî und Seydayê Mele Iskender (1898–1928) vom berühmten Stamme der Botan. Sein Weggefährte wurde der Literat Mele Abdurrahmanê Sorikî. In dieser Zeit fing Cegerxwîn an Gedichte zu schreiben, die sich mit der rauen Lebenswirklichkeit Kurdistans befassten. Er reflektierte in ihnen die feudale Ausbeutung durch die Aghas, die als Großgrundbesitzer auch Herr über die Menschen ihrer Besitztümer waren. Er trug damals schon die Gedanken der kurdischen nationalen Befreiung sowie die Werte kurdischer Tradition, Geschichte und Kunst mit seiner Lyrik weiter.
Dem kurdischen Aufstand von Şêx Said (Scheich Said) 1925 folgten harte Repression und Verfolgung. Viele Scheichs und geistliche Gelehrte der Gegend hatten sich dem Aufstand angeschlossen und zogen ihre Schüler mit in die Aufstandsbewegung. Nach der blutigen Niederschlagung wurde Cegerxwîns Lehrer Mele Iskender 1926 festgenommen, erkrankte an Tuberkulose und starb daran. Cegerxwîns Freund Mele Sorikî konnte flüchten. Auch er selbst konnte sich retten. Erst floh er nach Cizîrê, später nach Qamişlo in den „kleiner Süden” genannten syrischen Teil Kurdistans. Dort konnte er erste Gedichte in der Zeitschrift Hawar veröffentlichen. Diese wurde von Celadet Bedîrxan geleitet, der 1898 zusammen mit seinem Bruder in Kairo die erste kurdische Zeitung überhaupt herausgegeben hatte und ab 1927 versuchte, die kurdischen Intellektuellen in der Gesellschaft Xoybûn zu vereinigen. Seit dieser Zeit trägt Şehmus Hasan Hesarî das Pseudonym Cegerxwîn, was soviel bedeutet wie blutendes Herz / Inneres.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete Cegerxwîn in Cizîrê mit anderen kurdischen Intellektuellen die Bewegung für Freiheit und Einigkeit der Kurden (Civata Azadî û Yekîtiya Kurd), die später zur Türkei-Abteilung der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK-T) umgewandelt wurde, in der sie jedoch ihre Eigenständigkeit bewahrte. In den Jahren 1949 bis 1957 war Cegerxwîn Mitglied der Kommunistischen Partei Syriens, in der Kurden traditionell überproportional viele führende Positionen innehatten.
In Syrien wurde Cegerxwîn deshalb nun ebenfalls verfolgt und flüchtete 1958 nach Bagdad, wo er im Jahre 1959 Mitglied des Lehrkörpers der Fakultät für kurdische Sprache und Literatur der dortigen Universität wurde. Er konnte sein erstes Wörterbuch des Kurdischen in lateinischer Schrift veröffentlichen und arbeitete in der PDK von Mullah Mistefa Barzanî. Dort blieb er lediglich drei Jahre und kehrte dann wegen der stärker werdenden Repression nach Qamişlo zurück. Aber auch hier wurde er etliche Male festgenommen, gefoltert und verhört. Nach der Trennung von Barzanîs PDK gründete er mit einigen Gleichgesinnten die Kurdische Demokratische Partei (Syrien), der er bis zu seinem Tode verbunden blieb. 1970 flüchtete er dann in den Libanon, von wo aus er 1979 im Alter von 76 Jahren nach Schweden emigrierte.
In Schweden starb Cegerxwîn am 22. Oktober 1984 und hinterließ ein für alle Kurd:innen bedeutendes Werk. Sein Sarg wurde nach Qamişlo überführt und unter Anteilnahme von fast hunderttausend Kurd:innen, Assyrer:innen, Araber:innen und Armenier:innen im Garten seines alten Hauses begraben.
Zu Cegerxwîns Werk
Da in den Jahren seines Lebens in Kurdistan und im Mittleren Osten seine „aufrührerische” Lyrik von allen Machthabern der Staaten, in denen Kurd:innen leben, gefürchtet und geächtet waren, erschienen die meisten seiner Bücher in Europa, vor allem in seinem letzten Exil, in Schweden, wo allein sechs Gedichtbände, aber auch Bücher zur kurdischen Geschichte und Folklore veröffentlicht wurden. Dort wurde auch Anfang der 2000er Jahre die Cegerxwîn-Stiftung gegründet. Als Leiter koordinierte sein 2020 verstorbener Sohn Keyo Hassan die Arbeit an verschieden Projekten. So konnten weitere kurdische und sogar eine türkische Veröffentlichung in der Türkei umgesetzt werden. Erst seit Anfang der 1990er Jahre konnten Cegerxwîns Bücher in der Türkei erscheinen und vertrieben werden. Anfangs jedoch nur in Istanbul, in Nordkurdistan waren sie weiterhin verboten.
Viel rezipiert wurde Cegerxwîn in den 60er und 70er Jahren in der damaligen Sowjetunion, vor allem in den Republiken, in denen Kurd:innen leben – in Georgien, Aserbaidschan und Armenien. Der Schriftsteller der Kurd:innen Aserbaidschans schlechthin, Dr. Shamil Esgerow etwa, der auch das bisher einzige Kurdisch-Aserbaidschanisch-Wörterbuch vorlegte, schrieb seine Dissertation 1969 über „Die Poesie des zeitgenössischen Dichters Cegerxwîn”. Und der kurdische Literat Ordixanê Celil veröffentlichte 1966 in Armenien seine Arbeit „Die patriotische Poesie Cegerxîns”.