„The Other Side Of The River“: Nicht nur platte Narration

Der im Kino angelaufene Dokumentarfilm „The Other Side Of The River“ zeigt die Komplexität der Frauenrevolution von Rojava auf und hält auch Widersprüche aus. Wir haben mit Filmemacherin Antonia Kilian gesprochen.

Der Dokumentarfilm „The Other Side Of The River“ folgt dem Weg der jungen Syrerin Hala, die 2016 kurz nach der Befreiung von Minbic durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ihre mit dem IS sympathisierende Familie verlässt, um sich jenseits des Euphrats den Fraueneinheiten der Sicherheitskräfte Asayîş anzuschließen. Der deutsche Kinostart war am 27. Januar und derzeit läuft eine Tournee mit den Beteiligten.

Als Filmemacherin Antonia Kilian 2016 an das Ausbildungszentrum der Asayîş nach Serekaniye kam, wollte sie den Prozess der Frauenbefreiung im Schatten des Krieges gegen Daesh, die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), filmisch dokumentieren. Von den jungen Frauen, die dort ihre Ausbildung begonnen hatten, war eine gleich bereit, sich von der Kamera begleiten zu lassen und ihre Geschichte mit der Filmemacherin aus Kassel zu teilen. Der Film begleitet die 19-jährige Hala auf dem Weg durch das militärische Training und die politische Schulung im Ausbildungszentrum, das heute von der Türkei und ihren islamistischen Milizen besetzt ist. Das Publikum erfährt, dass Hala vor einer Zwangsverheiratung mit einem Daesh-Anhänger gemeinsam mit ihrer Schwester auf die andere Seite des Flusses geflohen ist. Den Frauenbefreiungseinheiten hat sie sich mit dem erklärten Ziel angeschlossen, nach Minbic zurückzukehren und ihre jüngeren Schwestern aus der Hand ihres tyrannischen Vaters zu befreien. Nach dem Abschluss der Ausbildung wird sie tatsächlich in ihre alte Heimat versetzt und Kilian folgt ihr in die kriegszerstörte Stadt. Die Männer und Frauen der Asayîş sind hier mit einer Bevölkerung mit vielen IS-Sympathisanten und einer prekären Sicherheitslage konfrontiert. Für Hala folgt hier außerdem die Konfrontation mit ihrer in patriarchalen Denkmustern gefangenen Familie, da der Vater sie mit dem Tode bedroht, weil sie durch ihre Flucht die vermeintliche Familienehre verletzt hat. Als sie von der drohenden Zwangsverheiratung ihrer zwölfjährigen Schwester erfährt, eskaliert schließlich der Konflikt.

Der Film zeigt mit dem individuellen Schicksal der Hauptperson nicht nur die Befreiung, die vor allem Frauen beim Sieg über den Islamfaschismus erlebt haben, sondern auch den mühevollen Kampf, der die Verbreitung demokratischer Ideale in einer Gesellschaft bedeutet, die von Diktatur und Patriarchat geprägt wurde. Außerdem erfährt das Publikum, vor was für schwierige Abwägungen und Entscheidungen die Verantwortlichen gestellt waren, die den gesellschaftlichen Neuaufbau an der Basis zu leisten hatten.

„On the Other Side of the River“ ist damit eine beeindruckende Momentaufnahme aus der Zeit der revolutionären Befreiung in Rojava und verdichtet in dem begrenzten Blick auf ein Einzelschicksal die Probleme, Möglichkeiten und Hoffnungen, die mit ihr verbunden sind. Die Filmmusik der Band „Shkoon“ greift in ihren Liedern Zitate der handelnden Personen auf und gibt diesen eine musikalische Stimme. Auf einer Festivaltour im vorigen Jahr wurde der Film unter anderem mit dem „Hessischen Filmpreis“ und dem Dokumentarfilmpreis des DOK.fest München ausgezeichnet.

Im Rahmen der laufenden Filmtournee haben wir uns mit Filmautorin Antonia Kilian in Hamburg getroffen und über den Filmstart und die Entstehungsbedingungen gesprochen.

Du bist gerade auf Auftakttournee mit „The Other Side of the River“. Hast Du schon Rückmeldungen vom Publikum sammeln können?

Wir sind gerade auf der Auftakttournee für den Kinostart in Deutschland. Letztes Jahr waren wir schon auf Festivaltour auf 35 Festivals auf der ganzen Welt. Das Feedback ist sehr vielfältig, je nachdem wie viel die Menschen sich schon auseinandergesetzt haben mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Das beginnt mit: „Oh wow, wir wussten gar nicht, dass so was existiert“. Viele können sich gar nicht vorstellen, dass es so etwas wie feministische Frauen gibt in Syrien. Das sind dann Menschen, die noch nie etwas davon gehört haben. Bis hin zu Menschen, die sich intensiv damit auseinandergesetzt haben und auch solidarisch sind. Das sind dann andere Fragen, die gestellt werden. Und natürlich immer total spannend finde ich das Feedback und die Diskussion mit Menschen aus Syrien, aus der Türkei und dem Irak, also Menschen, deren Lebensrealität das ist. Das ist mir extrem wichtig zu hören, was die über den Film denken und wie sie sich damit fühlen.

Hat sich der Kinostart verspätet durch Corona, weil die Kinos geschlossen waren?

Nein, das ist gar nicht so ungewöhnlich, dass man erst eine Festivaltour macht und wenn man dann einen Verleiher gefunden hat, dann werden die sagen, was der richtige Zeitpunkt ist. Es ist eigentlich immer schwierig, aber im Moment vielleicht besonders schwierig. Aber die beiden Vorstellungen in Berlin waren ausverkauft, heute war der Raum auch gut gefüllt hier in Hamburg und ich bekomme jetzt schon viel Feedback von Menschen aus allen Städten quer durch Deutschland, die den Film sehen wollen. Ich glaube dass Menschen trotz der Pandemie oder gerade wegen der Länge der Pandemie Lust haben, ins Kino zu gehen, den Film auf der Leinwand zu erleben und danach auch zu diskutieren

Du warst 2016 ein Jahr lang in Rojava. Wann war der Film fertig?

Weltpremiere hatten wir letztes Jahr im Mai 2021 beim Dokumentarfilmfestival DOK.fest in München und das war leider online, weil das mitten in den zweiten Lockdown fiel. Das war schade nach fünf Jahren Arbeit, den Film dann online präsentieren zu müssen. Um so schöner ist es jetzt natürlich, diese Kinotour durch ganz Deutschland zu machen, ganz echt im Kino zu sitzen mit echten Menschen

Dann hat es von 2017 bis 2021 gedauert, bis der Film fertig war?

Also ich war von 2016 bis 2017 in Rojava und dann bin ich nochmal für zwei Monate hingefahren, um die Geschichte abzuschließen. Danach gab es eine anderthalbjährige Phase der Akquirierung von Geldern für die Produktion. Es gab unglaublich viel Material, das musste übersetzt werden, vorbereitet werden für den Schnitt und dann haben wir nochmal anderthalb Jahre für den Schnitt gebraucht. Also mit meinem Editor Arash Asadi, den ich auch in Rojava kennengelernt habe, der da selber als Journalist und Filmemacher war, haben wir dann den Film in Deutschland geschnitten. Das ist natürlich ein langer Prozess, aber es waren insgesamt sehr schwierige Bedingungen, unter denen wir gearbeitet und auch gelebt haben.

Es ist beeindruckend, wie viel Einblick der Film in das Leben und die Familie vor allem der Hauptperson Hala, aber auch anderer Personen gibt. Gibt es noch Kontakt zu den Protagonisten?

Ja mit Hala habe ich noch Kontakt. Mit ihrer Kommandantin auch. Ich habe ihre Telefonnummer und manchmal schickt man sich Nachrichten. Und mit dem Filmteam natürlich. Also wir sind sehr, sehr eng befreundet und haben täglich Kontakt.

Du hast die Freundinnen und Freunde, mit denen Du an dem Film gearbeitet hast, ja während des Filmprozesses kennengelernt, richtig?

Genau, ich bin alleine nach Rojava gegangen und habe dann als erstes Sevinaz Evdike kennen gelernt. Sie ist selber Filmemacherin und eine der Ko-Leiterinnen der Rojava-Filmkommune aus Serêkaniyê. Bei ihr habe ich ein Jahr gelebt und sie hat mir intensiv geholfen, den Film zu realisieren. Immer wenn ich vom Dreh nach Hause kam zu Sevinaz, haben wir gemeinsam das Material gesichtet, sie hat ein bisschen übersetzt, wir haben diskutiert und von ihr habe ich sehr, sehr viel gelernt. Uns verbindet jetzt auch eine tiefe Freundschaft.

Dann habe ich, wie schon gesagt, Arash Asadi getroffen, einen iranischer Journalisten und Filmemacher, der auch nach Rojava gekommen war. Wir haben gemeinsam vor Ort in der Filmkommune angefangen, erste Szenen zu schneiden. Arash ist auch der Ko-Autor von dem Film. Als ich nach einem Jahr zurückgekommen bin, habe ich in Berlin die syrisch-kurdische Filmemacherin und Fotografin Guevara Namer kennengelernt und sie ist dann als Produzentin und Ko-Autorin in das Projekt eingestiegen. Sie war dann auch bei der zweiten Reise mit dabei. Das ist das Team und ich denke, dass es ein sehr kompetentes und starkes Team ist. Es hat sehr viel Spaß gemacht, mit denen zusammenzuarbeiten.

Du warst ja schon aktiv in der Solidaritätsbewegung, bevor Du mit dem Film angefangen hast. Du hattest wahrscheinlich auch schon Kontakt mit den Ideen von der Frauenbefreiung. Hat sich bei Dir auch ein Prozess ereignet?

Ja klar, ganz viele Prozesse. Natürlich habe ich viel gelernt. Ich bin dahin gegangen, weil ich fasziniert war von der Ideologie und von den Frauen, die ich schon kennengelernt hatte in Deutschland oder auch den kurdischen Gebieten in der Türkei, und mit denen ich mich verbunden fühlte und von denen ich für meinen eigenen Emanzipationsprozess und meine eigene politische Praxis lernen wollte. Was für mich wichtig war, ist auch die spezifische Situation in Syrien besser zu verstehen, was das Land bisher erlebt hat, auch in Bezug zur Türkei und und zum Nordirak. Das wurde erst ermöglicht durch die Gespräche mit meinem Team und anderen Freundinnen und Freunden. Die haben mir geholfen, dass ich die Zusammenhänge vor Ort viel besser und tiefer verstehen konnte. So haben wir es geschafft, dass der Film eben nicht an der Oberfläche bleibt, sondern auch Widersprüche zeigt, komplexe Situationen zeigt, nahe an Familien heran kommt, nah an Hala heran kommt und auch eine schwierige und zerrissene Lage anschaulich macht. Das war mir wichtig, dass all diese Fragen, die ich habe, auch Raum in diesem Film haben, dass es nicht platte Narration ist, sondern wirklich eine Komplexität, auch Widersprüche aufzeigt. Das ist in glaube ich allen revolutionären Momenten der Fall, dass einfach viele Widersprüche existieren, die man aushalten muss. Es ist wichtig für einen demokratischen Prozess, solche Widersprüche aufzuzeigen, darüber zu diskutieren und sich solchen Diskussionen zu öffnen.

The Other Side of the River – Deutschland/Finnland 2021

mit: Hala & Sosan Mustafa. R: Antonia Kilian S: Guevara Namer, Arash Asadi P: Frank Müller, Guevara Namer, Sevinaz Evdike (Komîna Film a Rojava)

Laufende Filmtournee mit dem Filmteam:

30.01.22, 12.00 Uhr – Traumstern, Lich

30.01.22, 12.00 Uhr – Traumstern, Lich

30.01.22, 17.00 Uhr – Filmkunsttheater, Marburg

30.01.22, 18 Uhr – Sputnik Kino, Berlin (mit Autor Arash Asadi)

30.01.22, 20 Uhr – Filmklubb, Offenbach

31.01.22, 20:15 Uhr – Casa Blanca, Bad Soden

01.02.22, 20 Uhr – Filmstudio Glückauf, Essen

02.02.22 – Odeon, Köln

03.02.22 – Bali, Kassel

04.02.22 – FSK, Berlin

12.02.22 – Filmforum Höchst, Frankfurt


Titelfoto: The other side of the river