„New World Embassy: Kurdistan“: Wege zu einer staatenlosen Weltdemokratie

Das Théâtre de Vidy in Lausanne ist an diesem Wochenende Gastgeber der „New World Embassy: Kurdistan“. Die alternative Botschaft bietet Raum für Austausch zu Formen von Demokratie ohne Staat.

Das Théâtre de Vidy in Lausanne zählt gemeinhin zu den wichtigsten Theatern der Schweiz. An diesem Wochenende ist es Gastgeber der „New World Embassy: Kurdistan“. Das Projekt wird von der Historikerin Nilüfer Koç, Vertreterin des Nationalkongress Kurdistan (KNK), und dem niederländischen Künstler Jonas Staal kuratiert. Eine großflächige künstlerische Installation dient als alternative Botschaft für das kurdische Volk. Sie soll Raum bieten für einen Austausch und Diskussionen zu Mittel und Formen von Demokratie ohne Staat, aber auch zu einer Kultur der Solidarität und den Möglichkeiten einer staatenlosen Weltdemokratie.

Der erste Tag der „Botschaft“ Kurdistans begann mit einem Workshop von Nazma Akter, Gewerkschafterin aus Bangladesch und Gründerin der Awaj-Stiftung. Sie zeichnete ein allgemeines Bild von der Situation der Gewerkschaften und Arbeitnehmenden in Bangladesch. Anschließend gab Nilüfer Koç einen Input zum Demokratischen Konföderalismus. Anknüpfend an die Ideen von einem libertären Kommunalismus entwickelte der PKK-Begründer Abdullah Öcalan als maßgebender Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung dieses neue Gesellschaftsmodell für den Nahen und Mittleren Osten – ein politisches Projekt einer transnationalen Basisdemokratie in fundamentaler Kritik am Nationalstaat. Mit der Praxis der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung sollen Geschlechtergleichheit, ethnische Inklusion und soziale Ökologie erreicht werden.


Form kollektiven Regierens: Matriarchale Gesellschaften Mesopotamiens

Nach einer anschließenden „Eröffnung“ der kurdischen Botschaft fand unter dem Titel „Demokratie jenseits des Staates“ der erste „Diplomatische Kreis“ statt. Nilüfer Koç sowie der US-amerikanische Ökonom David Adler und die schweizerische Menschenrechtsaktivistin Elisabeth Decrey Warner vertieften die Inhalte des Demokratischen Konföderalismus: Wie funktioniert die staatenlose Demokratie? Und wie verhält sich dieses Modell zu anderen demokratischen und staatenlosen Bewegungen auf der ganzen Welt und findet dort Resonanz? Das waren die Fragen, die versucht wurden zu beantworten.

Viele Menschen neigten dazu, die Geschichte der Demokratie mit der des Nationalstaates gleichzusetzen, aber historisch gesehen seien Formen kollektiven Regierens dem Staat vorausgegangen, meinte Koç. Als Beispiel nannte sie die frühen matriarchalischen Gesellschaften des alten Mesopotamiens. Abdullah Öcalan habe genau auf diesem Erbe aufgebaut, als er vorgeschlagen hat, dass die Lösung für die kurdische Gesellschaft als größte Nation ohne eigenen Staat nicht darin bestehe, einen weiteren Nationalstaat zu schaffen, sondern eine vom Staat getrennte Demokratie zu praktizieren. Genauer genommen eine staatenlose Demokratie.

Die „Delegierten“ kamen an dieser Stelle auf den Vertrag von Lausanne zu sprechen, mit dem vor hundert Jahren die Vierteilung Kurdistans diplomatisch abgesegnet wurde. Kurdistan wurde unter die Souveränität der Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien gestellt und damit in eine internationale Kolonie verwandelt. Das Projekt des Demokratischen Konföderalismus strebe danach, genau diese nationalstaatliche Logik zu beseitigen und eine gesellschaftliche Einheit in allen Teilen Kurdistans zu erreichen. Einige Regionen im Norden und Westen hätten Öcalans Vision von Autonomie durch lokale, kommunale Selbstverwaltung bereits verwirklicht – mit Schwerpunkt auf der Gleichstellung der Geschlechter und der kommunalen Wirtschaft – doch auch in Rojhilat (Ostkurdistan) und Başûr (Südkurdistan) sei dieses Paradigma zum Leben erwacht. Unverzichtbarer bei der Verwirklichung sei hier der Frauenbefreiungskampf, der auch Grundlage der Revolution von Rojava sei.

Staatenlose Dekolonialität: Frauengeschichte und soziale Ökologie

Der zweite „Diplomatische Kreis“ fand unter dem Schlagwort „Staatenlose Dekolonialität: HerStory (Frauengeschichte) und soziale Ökologie“ statt. Es sprachen unter anderem Necîbe Qeredaxî von der Jineolojî-Akademie in Silêmanî. Sie bezeichnete die kurdische Frauenbewegung als zentrale Kraft bei der Identifizierung des Modells des Nationalstaates als patriarchalisches, nationalistisches und kapitalistisches Konstrukt. Öcalan habe diese vielschichtige Form der Unterdrückung kraftvoll zusammengefasst, als er das System Familie als „Kleinstaat des Mannes“ und den Nationalstaat selbst als „Kolonie des Kapitals“ charakterisierte. Man müsse sich eben von der staatsorientierten Mentalität befreien, die historisch mit Kolonialismus und Imperialismus verwoben sei. Die Jineolojî, also die „Wissenschaft der Frau“, sei ein solcher Versuch, die Geschichte als eine „HerStory“ umzuschreiben, die die Erfahrungen und das Wissen von Frauen und staatenlosen Völkern erzählt, die jahrhundertelang ohne institutionelle Anerkennung blieben.


Varsha Gandikota-Nellutla aus Indien, die Koordinatorin des Kollektivs für Schuldengerechtigkeit der Progressiven Internationale ist und sich für eine neue internationale Wirtschaftsordnung einsetzt, die den Bedürfnissen der arbeitenden Völker auf beiden Seiten der sich vertiefenden geopolitischen Kluft gerecht wird, und die französisch-marokkanische Politologin Fatima Ouassak, Mitbegründerin der Pariser Organisation „Front de mères“ gegen Diskriminierung und für bessere Bildungschancen mit dem Fokus, insbesondere Mütter von Schulkindern zu vernetzen, waren die zwei weiteren Delegierten des diplomatischen Kreises. Sie legten den Fokus auf die soziale Ökologie, die die grundlegende Verflechtung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure in ihrem gemeinsamen Kampf um Überleben und Selbstbestimmung anerkenne und das verheerende Erbe der Moderne kritisiere. Wie verhält sich dieses dekoloniale Wissen und die Praxis der kurdischen Bewegung zu anderen sozialen Bewegungen und der Organisationsarbeit? Das waren die Fragen, auf die sie dem Publikum Antworten gaben.

Heute: „Kultur der Solidarität“ und „Demokratischer Weltkonföderalismus“

Zum Ausklang des Tages gab es ein gemeinsames Abendessen, für das das L'Assemblée des Femmes Kurdes Vaud Lajîn sorgte, und ein Konzert mit den Künstlern Azad Karahan, Mustafa Kökel, Eser Gül, Mehmet Taş, Mazlum Gül und Deniz Kaya vom Verein „Kulturzentrum Med“ in Basel. Am heutigen Sonntag geht das Programm mit einer Einführung in die Jineolojî, einem Vortrag über das Thema Selbstbestimmung für die Westsahara, einem Workshop mit der libanesischen Künstlerin Marwa Arsanios und den diplomatischen Kreisen „Kultur der Solidarität“ sowie „Demokratischer Weltkonföderalismus“ weiter.