Lausanne: Kurdistan aus dem Klammergriff der Nationalstaaten befreien

Am 24. Juli 1923 wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet, der als Geburtsstunde der türkischen Republik gilt. Damit wurde auch die Vierteilung Kurdistans festgelegt. Tausende Menschen in Lausanne forderten heute eine Revision dieser Ordnung ein.

Am 24. Juli 1923 wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet, der als Geburtsstunde der türkischen Republik gilt. Damit wurde die Vierteilung Kurdistans und die Entrechtung des kurdischen Volkes festgelegt. Zwei Tage vor dem hundertsten Jahrestag dieses Abkommens sind tausende Kurdinnen und Kurden an diesem Samstag in Lausanne zusammengekommen, um die Forderung nach einem offiziellen Status erheben. Nach einer Demonstration, an der sich Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern beteiligten, wurde auf einer Kundgebung deutlich gemacht: Das Abkommen zur Teilung Kurdistans hat keine Gültigkeit.

Die Demonstration „100 Jahre koloniale Teilung Kurdistans – 50 Jahre Kampf für die Befreiung“ startete vor dem Château d'Ouchy am Ufer des Lac Léman, wo die Siegermächte des Ersten Weltkrieges vor einem Jahrhundert mit türkischen Nationalisten verhandelten und Kurdistan in eine internationale Kolonie aufteilten. Unter einem Fahnenmeer zog der Marsch ab dem frühen Nachmittag in die Innenstadt vor den Palais de Rumine, wo der Vertrag von Lausanne signiert wurde. Dort fand das eigentliche Programm der Demonstration statt – mit zahlreichen Reden und kulturellen Beiträgen. Die erste Ansprache hielt Yüksel Koç, der Ko-Vorsitzende des europaweiten Dachverbands KCDK-E. Der Politiker bezeichnete das Lausanner Abkommen als „Grundstein“ für eine bis heute Entrechtung des kurdischen Volkes.


„Vor hundert Jahren wurde hier an diesem Ort die systematische Politik der Verleugnung, der Assimilation und der Massaker gegen die Menschen Kurdistans eingeleitet. Unter der Souveränität der Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien wurden wir Opfer von etlichen Genoziden. Wir sind systematisch unserer Existenz und unserer nationalen Identität beraubt worden. Von Helebce bis Dersim hat man unsere Städte bombardiert und versucht, uns auszulöschen“, sagte Koç. „Deshalb sind wir hier. Wir wollen gegen den aufgezwungenen Umstand der politischen und juristischen Nichtexistenz protestieren und unsere Forderungen an alle verantwortlichen Staaten formulieren, die sich aus dem Vertrag von Lausanne ergebenen Probleme zu korrigieren und zu lösen. Wir setzen unseren seit einem Jahrhundert andauernden Widerstand zur Verteidigung unserer Existenz fort.“

Zeyneb Murad: Ein Jahrhundert Verweigerung, Massaker und Ungerechtigkeit

Zeyneb Murad, die Ko-Vorsitzende des Nationalkongress Kurdistan (KNK), unter dessen Dach parallel zur Demonstration eine zweitägige Konferenz in Lausanne ausgerichtet wird, bezeichnete den Vertrag von Lausanne als „Abkommen der Schande“. Denn das auf vier Länder aufgeteilte kurdische Volk habe wegen dieses Vertrags keinen offiziellen Status. „Wir sind hier in Lausanne, um ein Jahrhundert von Verweigerung, Massakern und Ungerechtigkeit anzuprangern.“

Dr. Savary-Borioli: Revision der Lausanner Ordnung einzufordern ist legitim

Der Mediziner Dr. Beppe Savary-Borioli, der Präsident des Schweizer Zweigs der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) ist und zu den Mitgliedern des schweizerischen Komitees „Freiheit für Abdullah Öcalan“ gehört, hielt ebenfalls eine Rede. Er finde es beschämend, dass die Vierteilung Kurdistans in der Schweiz besiegelt wurde, sagte Savary-Borioli und erklärte, es sei legitim, dass die nach Selbstbestimmung strebenden Kurdinnen und Kurden eine Revision der Lausanner Ordnung einforderten. Zudem kritisierte er die Listung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der EU-Terrorliste.

Es sei die PKK gewesen, die der weltweiten Bedrohung durch die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) ein Ende gesetzt hätte, sagte Savary-Borioli. „Doch unser Dank ist, die PKK nach wie vor als Terrororganisation zu führen.“ Er sprach auch die Verschleppung des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan 1999 in die Türkei an, die seiner Meinung nach ein in großen Teilen von Europa verübtes „Verbrechen gegen die Menschheit“ gewesen sei. Der Arzt bemängelte, dass es seit Jahren keinen Kontakt zu Öcalan gebe, der seit seiner Entführung auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in politischer Geiselhaft ist. „So wie der Weg zur politischen Freiheit der schwarzen Bevölkerung Südafrikas über die persönliche Befreiung von Nelson Mandela führte, so wird es auch in Kurdistan zugehen. Ohne einen freien Öcalan wird es keinen freien Nahen Osten geben“, sagte Savary-Borioli. Doch die Einheit Kurdistans und das Selbstbestimmungsrecht der Kurdinnen und Kurden zu erkämpfen sei nicht nur ein innerkurdisches Problem. „Es muss unser aller Anliegen sein, Kurdistan aus dem Klammergriff der Nationalstaaten zu befreien.“

Asya Abdullah: Die Entrechtung der Kurden rückgängig machen

Die PYD-Politikerin Asya Abdullah begrüßte die Menschenmenge zunächst mit der Parole „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit), bevor sie über die Hintergründe des Vertrags von Lausanne und seine bis heute andauernden und schwerwiegenden Folgen für die kurdische Gesellschaft in allen vier Teilen Kurdistans sprach. „Das Abkommen hat die Vierteilung unserer Heimat diplomatisch abgesegnet und die Zeit der Massaker eingeleitet. In Lausanne wurde eine Grundlage für eine Politik der Verleugnung, der Assimilation und des Völkermords geschaffen, die bis heute überall in Kurdistan fortgesetzt wird. Demgegenüber dauert der Widerstand des kurdischen Volkes ungebrochen an. Auch wenn unser Kampf bereits hohe Opfer forderte, wird er weitergehen. Wir sind entschlossen, eine Einheit zu werden und unsere Entrechtung rückgängig zu machen.“