Im schweizerischen Lausanne hat heute eine zweitägige Konferenz begonnen, auf der aus kurdischer Perspektive Stellung gegen den Vertrag von Lausanne bezogen werden soll. Anlass ist das bevorstehende Jubiläum des Pakts: Am 24. Juli 2023 wird es 100 Jahre her sein, dass der sogenannte Friedensvertrag von Lausanne die Grundlagen für die Missachtung des kurdischen Volkes und die Verleugnung seiner Existenz gelegt hat. Mit dem Abkommen wurden die heutigen Staatsgrenzen der Türkei festgelegt - und damit die Vierteilung Kurdistans. Seitdem sind Kurdinnen und Kurden sowie andere Bevölkerungsgruppen im historisch kurdischen Siedlungsgebiet unter der Souveränität der Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien Völkermord, Assimilierung und Massakern ausgesetzt.
Etwa 600 Delegierte auf Konferenz
Um deutlich zu machen, dass die nach Selbstbestimmung strebende kurdische Gesellschaft den vor hundert Jahren in Lausanne aufgezwungenen Umstand der politischen und rechtlichen Nichtexistenz nicht akzeptiert und eine Revision einfordert, haben sich im Kongresszentrum Beaulieu in Lausanne rund 600 Delegierte verschiedenster Parteien und Organisationen aus allen vier Teilen Kurdistans versammelt. Sie wollen über die Auswirkungen des Lausanner Vertrags diskutieren und eine gemeinsame Haltung entwickeln. Das Programm des ersten Tages wurde mit einer Begrüßung durch Leyla İmret und Refik Gafur vom Organisationskomitee eröffnet. Anschließend äußerten sich Ahmet Karamus und Zeyneb Murad als Ko-Vorsitzende des Nationalkongress Kurdistan (KNK), unter dessen Initiative die Konferenz stattfindet, zu den Zielen des als „historisch“ bezeichneten Treffens.
Junod: Den Kurden wurde großes Unrecht angetan
Grégoire Junod, Bürgermeister von Lausanne, der anschließend das Wort ergriff, erklärte, dass in seiner Stadt 1923 ein Vertrag unterzeichnet wurde, der zu einer „großen Ungerechtigkeit“ gegenüber den Kurdinnen und Kurden geführt hätte. „Wir wollen hier ein neues Kapitel mit der kurdischen Seite aufschlagen und dies auch in unserer Stadt bekannt machen. Das kurdische Volk hat das Recht, wie alle anderen Völker auch selbstbestimmt zu leben“, betonte Junod. Nach seiner Ansprache gab es eine visuelle Einführung in das Thema Vertrag von Lausanne. Parallel zu der Konferenz findet in Lausanne heute eine Großdemonstration statt. Das weitere Programm der Konferenz sieht derweil wie folgt aus:
In der ersten Podiumsdiskussion, die von Selma Irmak und Xelil Xezeri moderiert wird, referieren die Historikerin Dr. Suheyla Qadirî, Prof. Narmen Muhamad Amen Ali von der Universität Selahaddin, Dr. Abdulilah al-Mustafa von der Koordination der Universitäten in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien und der Autor Mehmet Bayrak zum Thema „Der Vertrag von Lausanne und die Auswirkungen auf Kurdistan“.
Am zweiten Tag finden mehrere Blöcke statt. Kurdê Omer und Seher Aydar moderieren die erste Sitzung mit dem Titel „Die Situation und der Kampf von Frauen“, als Referentinnen sind Münevver Azizoğlu von der Universität Bremen und Nermîn Osman als Vertreterin von Fraueneinrichtungen in Silêmanî eingeladen. In der zweiten Sitzung sprechen der Autor Aydın Aslan und Nayri Muradian über die Auswirkungen des Vertrags von Lausanne auf die Armenier:innen, Assyrer:innen und Chaldäer:innen.
Die letzte Diskussion unter der Moderation von Behre Mohamed Mehmod und Rojan Hazim ist dem seit hundert Jahren andauernden Kampf gegen die Ergebnisse des Lausanner Vertrags gewidmet. Es referieren Prof. Dr. Naif Bezwan von der Universität Wien, Dr. Azad Haji Aghayi von der polnischen Universität Jagiellonian sowie Arêz Abdullah und Dr. Heval Ebubekir. Im Schlussteil soll über die Aufhebung des Vertrags und einen politischen Konsens diskutiert werden. Die Ergebnisse werden am Montag um 10 Uhr vor dem Château d’Ouchy vorgestellt.