Murad Demir: Die Quadratur des Kreises bewältigen

Murad Demir ist kein gewöhnlicher Dengbêj-Sänger. Er singt zwar von historischen kurdischen Begebenheiten, Mythen und Volksliedern, lässt sie aber neben traditionellen auch mit westlichen klassischen Instrumenten begleiten.

Murad Demir ist ein junger kurdischer Musiker aus Colemêrg (Hakkari) in Nordkurdistan, der sich der Tradition der Dengbêj*, also den kurdischen Barden, Poeten und Geschichtenerzählern, die historische Begebenheiten und Mythen, märchenhafte Erzählungen, Klagelieder, Gebetshymnen oder auch Volkslieder in einem für die Dengbêj-Kunst spezifischen Sprechgesangsstil vortragen, verschrieben hat. Die kurdischen Dengbêj tragen ihre Lieder traditionell ohne instrumentelle Begleitung vor. Nicht aber Demir, der auch westliche klassische Instrumente mit seinen Melodien vermischt und sie mit seiner Stimme berührt. Etwas Neues, das neuen Generationen lange vorenthalten war. Sein Sound und die einzigartige Mischung begeistern aber nicht nur kurdische Musikhörer. Dîlan Karacadağ von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat im Rahmen ihrer Interviewreihe mit jungen Künstler*innen mit Murad Demir gesprochen.

Inwiefern nahm deine Geburtsstadt Colemêrg Einfluss auf dich und deine Musik?

Sie erwirkte, dass ich mich mir selbst zuwendete. Colemêrg ist die Antwort auf meine Suche nach dem, was ich in der Musik wollte. Und entscheidend für meinen Entschluss, mich der kurdischen Musik zu widmen. Mein Vater wollte immer, dass ich studiere. Deshalb war er nicht wirklich begeistert, als ich die Uni nach zwei Anläufen abbrach. Aber weil er meine Musik schätzt, respektierte er meine Entscheidung.

Die Stadt Colemêrg und ihre Kultur haben wirklich großen Einfluss auf mein musikalisches Leben. Ich denke, dass mein Vater ausschlaggebend dafür war, warum ich diese Gegend so sehr liebe. Er ist ein großartiger Musiker, zu dem ich mit großer Bewunderung aufblickte. Die Tatsache, dass er Dengbêj ist, war mein Glück. Dieser wertschätzende Umgang mit seinen Stücken übertrug sich auf mich. Er gab mir meine absolute Hochachtung der Musik gegenüber mit auf den Weg.

Bist du auch in Zeiten von Corona in Colemêrg?

Ja, meine Familie und ich leben hier unter demselben Dach. Allerdings halten wir uns nach Möglichkeit nicht im gleichen Raum auf. Ich will sowohl sie als auch mich selbst schützen.

Wie begann deine Laufbahn als professioneller Musiker? Mit welchem Instrument hast du angefangen?

Als Kind ahmte ich den Gesangsstil meines Vaters nach, vor zwölf Jahren begann ich dann unter professioneller Aufsicht die Tembûr (Saz) zu spielen. Später kam die Bilûr hinzu. Nach langer Bühnenerfahrung mit der Tembûr sprach mich irgendwann ein Freund an und fragte, warum ich nicht Gitarre spielte. So begann meine Zeit als Instrumentalist und Solist. Aber auf diese Weise konnte ich nicht die Musik machen, die ich wollte. Damals war ich auch nicht so idealistisch, wie ich es heute bin. Ich musste irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen, mein Bühnenrepertoire bestand daher größtenteils aus türkischsprachiger Jazz- und Rockmusik. Musikalisch bereichern konnte mich dieses Leben aber nicht. Allerdings – aus dem Kontext der Musik, die ich heute mache betrachtet – waren unsere Möglichkeiten doch sehr begrenzt.

Nach dem einmal getroffenen Entschluss, radikal mit allem zu brechen und mich ausschließlich der kurdischen Musik zu verschreiben, war mir schnell klar, dass es die beste Entscheidung in meinem bisherigen Leben war. Ich hatte gerade vier Semester Musikstudium auf Lehramt hinter mir, als mir klar wurde, dass es nicht das ist, was ich wollte. Irgendwie passte es nicht mehr. Ich brach mein Studium ab und fokussierte mich auf meinen eigenen musikalischen Weg. Mit Hoy Nermê machte ich den Anfang. Jeder Mensch lebt für seine Ideale. Mein Ziel ist es, die Quadratur des Kreises zu bewältigen. Einen neuen Sound finden, ohne mit der Tradition zu brechen. Und die kurdische Musik auf die internationalen Bühnen zu tragen. Deshalb werde ich meinen Weg beharrlich fortsetzen.

Wenn wir schon mal bei Hoy Nermê sind; viele Menschen waren begeistert, das Feedback war großartig.

Das stimmt. Die positive Resonanz übertraf unsere Erwartungen, was ein großes Kompliment ist. Ich denke, es liegt an der Kombination. Traditionell sind es eher ältere Menschen, die diese Art von Musik machen. Ich gehöre der jüngeren Generation an und vermische dies mit folkloristischen Elementen. Kürzlich wurde meine zweite Single Rez veröffentlicht. Der Text stammt aus der Feder meines Vaters.

Das Feedback war ähnlich.

Das weiß ich zu schätzen. Ähnlich verhält es sich mit positiven Kritiken von Künstlern, deren Musik ich seit meiner Kindheit leidenschaftlich verfallen bin. Das gibt mir die Motivation, genauso weiterzumachen. Ich hoffe, ich verdiene die Aufmerksamkeit, die mir und meiner Musik geschenkt wird.

Du sagtest vorhin, Rez sei ein Stück deines Vaters.

Dieses Lied ist schon etwas Besonderes für mich. Den Text hat mein Vater geschrieben. Ich wollte meine Verbundenheit zu ihm ausdrücken, schließlich ist er mein größter Unterstützer. Er ist ein Dengbêj, also jemand, der unsere historischen Begebenheiten und Mythen wie ein Schatz in seinem Gedächtnis aufbewahrt und somit ermöglicht, dass unser kulturelles Erbe von Generation zu Generation übertragen wird. Rez mag daher einen ähnlichen Sound wie Hoy Nermê haben, der hängt aber immer davon ab, welches Instrument das Stück in der Dengbêj-Tradition abverlangt.

Früher war das Album das Format der Wahl, mit dem Kunstschaffende ihre Musik präsentierten. Mittlerweile sind viele Musikerinnen und Musiker von diesem Konzept abgekehrt und veröffentlichen stattdessen Singles auf gewissen Internet-Plattformen. Sind Alben nicht mehr zeitgemäß? Oder vereinfacht es euer Wirken als kurdische Künstler?

Dieses Phänomen betrifft nicht nur uns oder den Mittleren Osten, sondern lässt sich rund um den Globus beobachten. Einzelne Single-Auskopplungen scheinen beim Zuhörer offenbar besser anzukommen als das Gesamtwerk. Ich selbst stehe in der Tradition der längeren Zusammenstellungen. Sobald ich die Mittel habe, werde ich meinen Traum von einem Album erfüllen.

Immer mehr junge kurdische Künstler lassen sich musikalisch von kurdischer Folklore inspirieren, insbesondere von regionalen folkloristischen Elementen. Wie beurteilst du das als ein Musiker, der ebenfalls dieser Generation angehört?  

Natürlich ist es eine erfreuliche Entwicklung für mich, dass sich die Kurden nicht nur in der Musik, sondern in vielen Bereichen der Kunst der kurdischen Folklore zuwenden. Mein hauptsächliches Ziel ist es, traditionelle Lieder, die zu verschwinden drohen, und einen neuen Sound miteinander zu vermischen. Jetzt habe ich die Kraft, dies zu tun und mit diesem Stil zu experimentieren. Was morgen kommt? Wer weiß schon, was uns die Zukunft bringt. Vielleicht werde ich dann mit moderner Musik mein Publikum ansprechen.  

Colemêrg zum Beispiel bietet uns ein bodenloses Archiv an Kilam, den traditionellen Volksliedern; Payîzok, den Herbstliedern der Märchenerzähler und Nomaden, die von ihren Erlebnissen und Begegnungen bei ihren Zügen auf die Sommerweiden und der späteren Rückkehr handeln; den Lawjê, also Elegien aus der Colemêrg-Region, die mit Vibrato-Gesang gesungen werden; und die als Stran bezeichneten Volkslieder der Dengbêj. Sie alle stellen einen unvorstellbaren Reichtum für die kurdische Kultur dar.

Und wer außer deinem Vater zählt zu den Musikern, die für dich wichtig sind?

Das ist schwierig zu beantworten, es gibt so viele. Aber als erstes fallen mir Mihemed Arif Cizrawî, Hesen Şerîf und Tehsîn Taha ein.


*Das aus deng (Stimme) und bêj (sagen, sprechen) zusammengesetzte Wort Dengbêj definiert eine Person die es ermöglicht, das geschriebene Wort auf eine harmonische Art und Weise auszusprechen. Gewöhnlich wandern diese kurdischen Barden durch das Land und verdienen ihren Lebensunterhalt durch das Singen. In gewisser Weise sind sie auch Historiker und bedeutende Vertreter der oralen Kultur, die dazu beigetragen haben, dass die mündliche Literatur der Kurden trotz Unterdrückung der kurdischen Sprache weitergegeben werden konnte.