Leseprobe: Mein Herz schlägt für die Berge

Im Meyman Verlag ist ein Buch mit ausgewählten Texten von Halil Uysal erschienen, darunter auch die Erzählung „Der graue Fischreiher“. Der Filmemacher und Poet gilt als Stimme der Berge Kurdistans.

Heute Morgen habe ich mich wieder auf den Weg gemacht, um den grauen Fischreiher zu sehen. Über dem Zap-Fluss zieht eisiger Dunst hoch. Ich liebe diese Ansicht. Die auf die Hügelspitzen strahlende Sonne wird wenig später das Tal erreichen und der Dunst wird langsam hochziehen und dem Schimmer auf der Wasseroberfläche weichen. Während ich so am eisblauen Flussrand entlang gehe, wird er sich in einen algengrünen Fluss verwandeln. Der Zap wird dann sein nachtblaues Kleid ablegen und sich in taggrünen Tüll hüllen. Genau in dem Augenblick wird ein grauer Fischreiher behutsam über den Fluss gleiten. Nur um diesen Moment ein weiteres Mal zu erleben, laufe ich jetzt am Flussrand entlang.

Ich glaube daran, dass manche Dinge in diesen Bergen über einen gewissen Zauber verfügen und ich weiß, dass ihr Zauber, sobald man jemandem von ihnen erzählt, erlischt. Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat: Wer schafft, die von der Natur gebotenen Geheimnisse zu hüten und für sich zu behalten, dem schenkt die Natur neue Geheimnisse. Aber ich schaffe das irgendwie nicht. Ich kann Geheimnisse nicht für mich behalten. Ich kann sie nicht in meinem Inneren versiegeln. Ich muss sie mit meinen Freund:innen teilen. Immer, wenn ich Zeuge eines außergewöhnlichen Naturschauspiels werde, geht mein Herz auf und ich kann mich einfach nicht beherrschen. Ich bin dann voller Aufregung und muss es erzählen.

Dies ist der zehnte Frühling und jedes Mal treffe ich an diesem Ufer auf den grauen Fischreiher. Treffe ich jedes Mal den gleichen Reiher? Ich weiß es nicht. Aber ich erlebe jedes Mal dasselbe einzigartige Gefühl. Erst hielt ich es für Zufall. Ich dachte, dass dieser Vogel, der nicht hierher gehört, für eine Pause am Ufer gelandet sei und sich bald wieder auf seine Reise begebe. Dass dem nicht so war, wurde mir bewusst, als ich über die Jahre zu Beginn jedes neuen Projektes oder vor jeder neuen Reise immer wieder auf ihn getroffen bin. Der graue Fischreiher ging nicht von hier weg. Er machte sich nicht wieder auf seinen Weg. Der Fluss schien sein Zuhause zu sein.

Während meiner ganzen Zeit in den Bergen hat sich der graue Reiher immer einmal blicken lassen, um dann wieder zu verschwinden. Und ich habe alle neuen Projekte, zu deren Beginn ich den grauen Fischreiher getroffen hatte, erfolgreich zu Ende gebracht. Jede Reise, die ich mit ihm angetreten hatte, habe ich auch zu Ende führen können. Irgendwann war es dann so, dass ich ohne ihn kein neues Projekt mehr antreten konnte. Ich konnte mich nicht mehr auf den Weg machen, ohne ihn vorher gesehen und mir aus seinen im Morgenlicht glänzenden Federn ein Bild in meinem Herzen mitgenommen zu haben.

Er hat sich vor jedem neuen Schritt einmal blicken lassen, mein Herz immer wieder zur Ruhe gebracht. Im Krieg ist die Wahrscheinlichkeit, etwas nicht zu Ende führen zu können, sehr hoch. Mit dem Schuss einer Kugel können Träume und Sehnsüchte auf einmal mitten auf der Strecke ein plötzliches Ende finden. Der Knall einer Mine kann alle Wünsche auf einen späteren Frühling vertagen. Diese schmerzhafte Wirklichkeit kann das schönste Lächeln wie ein Messer durchschneiden. Die Kinder der Berge sind sich dieses Gesetzes sehr wohl bewusst und leben in dieser Realität. Und ich glaube von Herzen daran, dass jede:r Guerilla seinen:ihren eigenen Reiher hat und dieser zu jedem Beginn mit ihm ist.

Den Fischreiher habe ich zum ersten Mal mit einer Guerillakämpferin namens Jiyan gesehen. Eigentlich hatte Jiyan ihn zuerst entdeckt und ihn mir dann gezeigt. Besser gesagt, sie hat ihn mir hinterlassen. Der graue Reiher ist das schönste Anvertrauen, das mir Jiyan hinterlassen hat.

Zu einer Zeit, in der Filmrollen die Berge nur sehr schwer erreichten, versuchte ich mit den wenigen Möglichkeiten, die ich hatte, die Guerilla zu fotografieren. Da ich für jeden Guerilla nur einmal auf den Auslöser drücken konnte, tat ich alles, damit dieses eine Bild perfekt würde. Jiyan saß am Ufer des Zap und wartete auf mich. Ich hatte sie mit Mühe gefunden und überzeugt, sie zu fotografieren, bevor sie nach Botan ging. Ich glaube, sie schämte sich vor der Kamera zu posieren. Aber trotz ihrer unschuldigen Scheu lag ihr weltschönstes Lächeln die ganze Zeit auf ihrem Gesicht. Ich machte ganz langsam. Dieser Moment sollte verweilen. Ich beschäftigte mich länger als nötig mit meinem Fotoapparat. Ihr Lächeln sollte sich in mein Gedächtnis einprägen. Denn bei meinen ersten Schritten in diesen Bergen hatte mich ihr Lächeln begleitet.

In dieser einen Nacht vor Jahren, in der wir die wilden Wellen des Tigris langsam überquert und uns auf den Weg hinter den Berg Kaf gemacht haben, stand Jiyan vor mir. Wir waren zusammen ins Boot gestiegen und gemeinsam über die wilden Wasser des Tigris gefahren. Ich kannte ihren Namen nicht. Unser Wegweisende Haşim hatte zwei Boote zusammengebunden und mahnte uns, uns zu beeilen. Wir waren vierundzwanzig. Wir sollten uns zu zweit nebeneinandersetzen. Für mich war kein Platz mehr. Ich stand alleine am Ufer. Mit ängstlichen und bittenden Augen sah ich Haşim an. Würde er mich mitnehmen? Haşim mit den Rudern in seinen Händen wusste nicht, was er tun sollte. Für die fünfundzwanzigste Person gab es keinen Platz. Aber er konnte mich auch nicht allein am Ufer zurücklassen. Nach einem nachdenklichen Moment machte er mir ein Zeichen. Er zeigte auf den winzigen Platz direkt hinter ihm. Ich sollte mich dorthin setzen und mich fest an seine Schultern klammern die die Ruder bewegten. Bis wir den Tigris einmal komplett überquert hatten, musste ich das Gleichgewicht halten. Ohne nachzudenken nahm ich Platz. Ich klammerte mich fest an seine starken Schultern. Wir waren alle bereit.

Haşim packte die Ruder und wir bewegten uns im Strom voran. Ein riesiger Fluss verlief direkt unter meinen Füßen. Schwammen oder flogen wir? Schwankte unser Boot aufgrund des Windes oder der Wellen? Ich war mir nicht sicher. Ich wusste nur, dass ich den Vogel Phoenix fest umschlungen hielt. Ich hatte große Angst davor, in den Fluss zu fallen. Aber mir wurde zugleich klar, dass vor mir ein Bild lag, das ich mein ganzes Leben lang nicht noch einmal wiedersehen sollte.

Im Mondschein saßen mir vierundzwanzig Guerillakämpfer:innen schweigend gegenüber. Wer weiß, woran sie gerade dachten. Vierundzwanzig junge Leben befanden sich gerade auf der Reise zu vierundzwanzig neuen Leben. Keiner von uns wusste, was uns auf der anderen Seite des Flusses erwartete. Wir wussten nur, dass am anderen Ufer alles anders sein sollte. Haşim zog mit aller Kraft die Ruder. Mit voller Geschwindigkeit näherten wir uns dem Märchen hinter dem Berg Kaf. Ein riesiger Fluss floss mit all seiner Rasanz in umgekehrte Richtung. Haşims starke Schultern zogen sich zwischen meinen Händen mit aller Kraft zusammen. Einerseits versuchte ich, mein Gleichgewicht zu halten, andererseits versuchte ich, mir diese Kinder des kurdischen Volkes im Gedächtnis einzuprägen. Denn mein Fotoapparat war in meinem Rucksack. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn aus der Tasche zu holen. Aber ich fürchtete mich so sehr, dass ich die Schultern von Haşim nicht einen Moment loslassen konnte.

Plötzlich fiel mir das Lächeln einer Genossin aus der Gruppe auf. Ein junges Mädchen lächelte wie der Mond inmitten der Nacht. Während ich so voller Angst versuchte, mein Gleichgewicht hinter Haşim zu halten, konnte ich den Blick nicht von ihr abwenden. Ich kannte sie nicht. Ich wusste nicht, wer sie war. Aber mit ihrem Lächeln verflogen alle Ängste in mir. Sie lächelte. Sie lächelte uns alle an, das wie verrückt fließende Wasser, die stockfinstere Nacht, die neben ihr sitzenden Genossen, den schweißgebadeten Haşim der die Ruder zog und mich, der ihn fest umschlungen hielt. Sie lächelte so behaglich, so fröhlich, so schön. Sie lächelte, als wenn all das heute Nacht von uns Erlebte, alles Geschehene so war, wie es sein sollte. Sie lächelte, als wenn sie über all das informiert war und alles schon erwartet hatte. Gott, wer war diese Weggenossin von mir, die so schön lächelte? Um wen handelte es sich bei dieser jungen Genossin, die meinem ängstlichen Herzen Ruhe bereitete?

Ich hatte diesen Fluss mit Furcht in meinem Herzen und dem bildschönen Lächeln von Jiyan überquert. Mit ihrem Lächeln begab ich mich auf das hinter dem Berg Kaf liegende Land zu. Jetzt hatte ich die Kamera eingestellt und war gerade dabei, auf den Auslöser zu drücken.

In dem Moment stoppte ich und dachte darüber nach, ihr von dieser Nacht, dem von mir in dieser Nacht Erlebten, ihrem mondschönen Gesicht zu erzählen, aber wir hatten keine Zeit. Ich konnte sie nicht weiter aufhalten. Sie war auf dem Weg nach Botan und ihre Weggefährt:innen warteten auf sie. Bevor ich auf den Auslöser drückte, sagte ich ihr, dass ich ihr etwas erzählen werde, wenn wir uns das nächste Mal treffen würden.

Zeynep Erdem, Kampfname Jiyan, geboren 1975 in Deutschland, gefallen 1999 in Kurdistan

Sie schaute mir ins Gesicht, als wenn sie sich vorstellen konnte, was ich ihr erzählen mochte. Ich spürte, dass auch sie an diese erste Nacht, unsere Reise auf den Flügeln des Phoenix, dachte. In dem Moment hob Jiyan ihren Kopf ein wenig hoch. Sie hatte etwas am Himmel entdeckt, aber ich konnte mich nicht umdrehen und schauen. Denn ich war gerade dabei eines der schönsten Gesichter, das ich mein ganzes Leben lang nicht mehr sehen sollte, zu fotografieren. Ich drückte auf den Auslöser und drehte mich dann um. Ich schaue in die Richtung, in die Jiyan blickte. Ich schaute zum Himmel auf. Der graue Fischreiher flog langsam über uns hinweg. Jiyan stand auf, gab uns allen die Hand und machte sich auf den Weg in Richtung Norden, wohin auch der graue Fischreiher geflogen war.

Jiyan habe ich nicht wieder gesehen. Ich habe sie nicht wieder fotografieren können. Diesen Fischreiher und diese Geschichte, die ich ihr nicht habe erzählen können, sind als Erinnerung von ihr zurückgeblieben. Jetzt laufe ich am Ufer des Zap entlang. Der blaue Dunst steigt langsam auf und verweht in alle Richtungen. Immer, wenn sich der kalte Dunst auflöst, erscheint die Oberfläche des Flusses in neuem Glanz. Die Farbe des Flusses verwandelt sich von Blau in Grün.

Ich denke an die Menschen, die vor mir an diesem Ufer entlanggegangen sind. Ich spüre ihre Begeisterung, ihre Freuden, die Wehmut, die sie mit sich getragen haben. Ich fühle die heimliche Liebe in ihren Herzen, die sie einerseits verstecken, aber zugleich größer werden lassen. Ich höre die geheimen Worte, die sie ihrer Liebe gesagt haben. Ich sehe die tiefsten, die grenzenlosen Blicke und die ungetrübten Gefühle in diesen Blicken. Das schönste Lächeln, das ich je gesehen habe, fließt zwischen dem Glanz auf der Wasseroberfläche vorbei.

Der graue Reiher taucht am entferntesten Ende des Zap-Tals auf. Einmal mehr erlebe ich die Aufregung des ersten Moments. Ohne seine Flügel zu spreizen nähert er sich mir, als würde er schwimmen. Ich denke wieder an Jiyan. Fast schreie ich. Fast weine ich …


„Der graue Fischreiher“ ist dem im Januar 2023 im Meyman Verlag erschienenen Buch „Mein Herz schlägt für die Berge“ entnommen. Das Buch enthält ausgewählte Texte von Halil Uysal, der sich darin so vorstellt:

„Ich bin 1973 als erstes Kind eines Vaters aus Izmir und einer Mutter aus Ağrı in Deutschland geboren. Während der Grundschule pendelte ich zwischen Izmir und Deutschland hin und her. Die Mittel- und Oberstufe habe ich in Izmir auf einem privaten türkischen Kolleg absolviert. Anschließend bin ich nach Europa gekommen, wo ich tagsüber gejobbt und auf Abendschulen an Fotografiekursen teilgenommen habe. Während meiner drei Jahre in Europa habe ich die Freiheitsbewegung kennengelernt. 1994 habe ich mich an den Arbeiten zur Gründung des ersten kurdischen Fernsehsenders in Europa, MED TV, beteiligt. Am 1. April 1995 bin ich als Gehilfe eines deutschen Kameramanns für ein Interview mit Abdullah Öcalan in den Mittleren Osten gereist. Die Guerillakämpfer:innen in der zentralen Parteischule der PKK habe ich während der Zeit des Interviews näher kennengelernt. Nach diesem Interview mit Abdullah Öcalan, das zugleich meine erste bedeutsame Arbeit darstellt, habe ich mich dazu entschlossen, nicht zurückzukehren und meine Lebensreise hier fortzusetzen. Mein Leben findet seitdem in den Bergen Kurdistans, gemeinsam mit den kurdischen Freiheitskämpfer:innen statt.“

In der ersten Zeit in den Bergen arbeitete Halil Uysal als Fotograf. Darüber hinaus wurde er aktives Mitglied der freien kurdischen Presse und berichtete für verschiedene Nachrichtenagenturen vom Krieg. 1997 filmte er beispielsweise den Abschuss eines türkischen Militärhubschraubers durch eine Flugabwehrrakete der Guerilla – die Szene bildete damals den medialen Höhepunkt im laufenden Kampfjahr der PKK und sorgte rund um den Globus für ein breites Echo.

Nach der Ausreise Abdullah Öcalans aus Syrien 1998 musste sich auch die kurdische Bewegung den neuen Umständen anpassen. Kurz nachdem die PKK ihr Hauptquartier in die südkurdischen Qendîl-Berge verlagert hatte, wurde hier die Kunst- und Kulturakademie Dibistana Şehîd Sefkan gegründet. Halil Dağ war vom ersten Moment an dabei. Kurze Zeit später begann er erste Kurzfilme zu drehen. 2006 drehte er den 150-Minuten-Film Bêrîtan, der die Geschichte der legendären Guerillakommandantin Gülnaz Karataş erzählt. Für sein letztes Projekt Die Reisenden zum Berg Ararat hielt er sich seit 2007 in Nordkurdistan auf. Bis zum Ararat wollte er eine Guerillaeinheit mit seiner Kamera begleiten. Auf dem Weg dorthin kam er am 1. April 2008 bei einem Angriff der türkischen Armee in Botan ums Leben.