Freispruch im Nürnberger Fahnenprozess
Der wohl absurdeste „Fahnenprozess” in Bayern wurde heute in Nürnberg neu aufgerollt und endete mit einem Freispruch.
Der wohl absurdeste „Fahnenprozess” in Bayern wurde heute in Nürnberg neu aufgerollt und endete mit einem Freispruch.
Nico Schreiber, Vorsitzender der Sozialistischen Jugend – Die Falken in Nürnberg war angeklagt und in erster Instanz zu 30 Tagessätzen verurteilt, da er anlässlich einer Demonstration gegen den Angriff auf Efrîn im Jahr 2018 nach Meinung der Staatsanwaltschaft das Symbol der Volksverteidigungskräfte HPG gezeigt haben soll (ANF berichtete).
Diese Verurteilung wollten weder Schreiber noch die Staatsanwaltschaft hinnehmen und legten Berufung ein. Schon im Vorfeld der heutigen Verhandlung in zweiter Instanz vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth wies Nico Schreiber darauf hin, dass es sich bei dem aus drei Kartonstücken gebastelten und auf dem Dach der SPD-Zentrale in Nürnberg gezeigten Symbol um die Fahne der Volksverteidigungseinheiten YPG handelte. Er erläuterte dies mit einer kleinen Nachhilfe in Geometrie: „Ein gleichschenkliges Dreieck bleibt nämlich ein gleichschenkliges Dreieck, egal aus welcher Perspektive es betrachtet wird.“
Vor der Verhandlung fand eine Kundgebung statt. Mehrere Redner*innen, unter anderem auch von der Roten Hilfe, kritisierten die versuchte Kriminalisierung der Solidarität mit dem Kampf der YPG/YPJ und forderten die Justiz auf, sich nicht zum Büttel der Erdoğan-Diktatur zu machen.
Solidaritätskundgebung vor dem Gerichtsgebäude
Nach den in Bayern schon zur Gewohnheit gewordenen verschärften Einlasskontrollen, die klar machen sollen, wie „gefährlich“ hier linke Solidarität eingestuft wird, begann der Prozess in vollbesetzten Gerichtssaal. Als erster Zeuge war ein Beamter der Polizei geladen, der befragt wurde, ob er während der Demonstration einen Bezug zur Arbeiterpartei Kurdistans PKK wahrgenommen habe. Diesen konnte er nicht erkennen. Für den zweiten Zeugen, den Vorsitzenden der Jusos in Nürnberg, war immer klar, dass es sich bei dem gezeigten Symbol um das Zeichen der YPG handele.
Letztlich ging es um drei Fragestellungen: Was genau wurde gezeigt? Kann damit ein PKK-Bezug konstruiert werden? Ist das Zeigen der YPG-Fahne ohne PKK-Bezug strafbar? Der Staatsanwalt beharrte auf seiner Ansicht, „das Puzzle auf dem Dach“ sähe der HPG-Fahne „zum Verwechseln ähnlich“, auch weil die drei Buchstaben „YPG“ fehlten. Der Angeklagte habe durch die „kreative Bastelarbeit“ eine Verwechslung billigend in Kauf genommen und damit vorsätzlich gehandelt. Deshalb forderte er sechs Wochen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Dem schloss sich der Richter nicht an und sprach Nico Schreiber von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen frei. Daraufhin kündigte der Vertreter die Staatsanwaltschaft erneute Revision an, die dann am Bayerischen Obersten Landesgericht verhandelt wird.
Der Verteidiger Michael Brenner (Nürnberg) fügt hinzu: „Besonders erfreulich an dem heutigen Freispruch ist, dass der Vorsitzende Richter eindeutig Stellung dazu bezogen hat, dass das Zeigen eines YPG-Symbols jedenfalls dann legal ist, wenn kein Kontext zur PKK besteht. Dies wurde in der Praxis, insbesondere durch die bayerische Polizei, bisher anders gehandhabt. Das Urteil bestätigt damit auch in diesem Punkt unsere bisherige Rechtsauffassung.“
Auch wenn das heutige Urteil einen Etappensieg bedeutet, bleibt es in Bayern spannend. Ob die Justiz festhält an ihrer Besessenheit, die kurdische Freiheitsbewegung zu kriminalisieren, wird sich auch beim Mammutprozess gegen Kerem Schamberger am 1. Oktober zeigen, bei dem es in elf von 13 Anklagepunkten auch um die YPG/YPG-Fahnen geht. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsprechung bleibt es dem Zufall überlassen, ob ein Gericht nun die eine oder andere Organisation als der PKK zugehörig, liiert oder befreundet betrachtet. Dieses Verwirrspiel führt dazu, dass zunächst jede politische Äußerung von Kurd*innen oder mit der Freiheitsbewegung solidarischen Menschen erst einmal automatisch als „Werbung für die PKK“ angesehen und kriminalisiert wird. Das gibt es in keinem anderen Land so. Deutschland will eine politische Bewegung mundtot machen, die seit Jahren nicht nur erfolgreich gegen den Dschihadismus kämpft, sondern sich immer und immer wieder für einen Frieden einsetzt – auch die in Deutschland verbotenen HPG, die ihre Aufgabe als Volksverteidigungskräfte in der Abwehr der Angriffe der türkischen Diktatur sehen. Solange die Bundesregierung an der „Terrorismus“-Definition des faschistischen Regimes in Ankara festhält und statt eines Dialogs eine Verbotspolitik bevorzugt, wird die deutsche Justiz mit immer neuen „Symbol-Prozessen“ beschäftigt sein.