Pünktlich zum kurdischen Neujahrsfest Newroz erschien die Übersetzung von Abdullah Öcalans „Die kapitalistische Zivilisation: Unmaskierte Götter und nackte Könige“. Dies nahmen der Unrast Verlag, der Übersetzer Reimar Heider und das Rojava Soli Bündnis Leipzig zum Anlass, das Werk in Chemnitz und Leipzig vorzustellen. Am Newroztag fanden gleich zwei Buchvorstellungen statt. Nach einer sehr gut besuchten Veranstaltung auf der gemeinsamen Bühne der linken Verlage auf der Leipziger Buchmesse gab es gleich noch eine Abendveranstaltung im Subbotnik in Chemnitz. Am Freitag besuchten dann rund 30 Personen die Lesung im Osten der Messestadt und konnten neben spannenden Hintergründen zu Öcalan auch Passagen aus dem zweiten Band des „Manifest der demokratischen Zivilisation“ hören.
In angenehmer Atmosphäre widmete sich Reimar Heider zunächst dem historischen Hintergrund der kurdischen Freiheitsbewegung und der PKK, dessen Gründer Öcalan zwischen 2007 und 2010 das fünfbändige Werk verfasste. In tiefgehenden Analysen zur Geschichte der Menschheit, Sklaverei und Unterdrückung setzt Öcalan den Fokus auf die Frage nach dem Staat: Drei Strömungen des vergangenen Jahrhunderts – Realsozialismus, nationale Befreiungsbewegungen und die Sozialdemokratie – hätten gezeigt, dass eine Befreiung der Unterdrückten nicht durch oder mit dem Staat zu erreichen ist.
Der Staat im Zentrum der Kritik
Es bringe nichts, einen eigenen, vielleicht besseren Staat aufzubauen um ihn danach wieder abzuschaffen. Diesen Hintergrund berücksichtigend, skizzierte Heider eindrucksvoll die Perspektive des demokratischen Konföderalismus, der ohne Staatlichkeit existieren muss. Dabei gehe es nicht um Kurdistan als Territorium oder Nation, sondern vor allem um ein neues Verständnis von Unterdrückung und Hierarchien.
Der Autor geht der spannenden Frage nach, wie Mythen die Menschheit in Unfreiheit drücken. Die Erfindung quasi-natürlicher Autoritäten wie Götter, Herrscher oder die Vorstellung der überlegenen Männlichkeit strukturieren das Denken von uns Menschen seit vielen tausenden Jahren. Sie werden genutzt, um Herrschaft und Hierarchien zu legitimieren und den Privilegierten stets mehr Macht zuzusprechen.
Öcalan geht genau diesen historischen, anthropologischen und politischen Illusionen und Entwicklungen auf den Grund. Angefangen bei einer radikalen Methodenkritik, die den Positivismus der Sozialwissenschaften – also die Vorstellung, dass die sichtbare Welt sich nur durch messbare Beobachtungen zutreffen beschreiben lässt – zurückweist, geht insbesondere der jetzt veröffentlichte Band auf die Kapitalismus-Frage ein: „Ausgehend von den Analysen Ferdinand Braudels kritisiert Öcalan den Kapitalismus als eine unnötige Verirrung, die niemals fortschrittliches Potenzial besaß, sondern die Gesellschaft im Inneren zerstört“, heißt es in der Buchbeschreibung.
„Öcalan wird als Theoretiker und Vordenker vor allem in Deutschland unterschätzt“
Besonderes Interesse hatte das Publikum an den Umständen, unter denen Öcalan inhaftiert ist, und der Frage, wie seine Schriften den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Durch Heiders Mitgliedschaft in der Internationalen Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ und seine jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Themenfeld konnte er detaillierte und spannende Einblicke liefern.
Zudem thematisierte Heider die Rezeption Öcalans in Deutschland. Oftmals werde sein Schaffen insbesondere in den Mainstream-Medien aber auch in linken Kreisen auf seine Gründerfunktion in der PKK und politischen Aktionismus reduziert. Dass Öcalan als Theoretiker und Vordenker von revolutionärer Perspektive, Analyse und Kritik wahrgenommen wird, sei in Deutschland kaum zu beobachten – eine traurige Situation, wenn man bedenkt, welch umfassendes und präzise herausgearbeitetes Material die türkischen Gefängnismauern bereits verlassen hat.