Zerstörung und Widerstand in Hasankeyf und am Tigris
Die „Initiative zur Rettung von Hasankeyf” hat einen neuen Bericht zum zerstörerischen Ilisu-Staudamm und der 12.000 Jahre alte bedrohte antike Stadt Heskîf (Hasankeyf) veröffentlicht.
Die „Initiative zur Rettung von Hasankeyf” hat einen neuen Bericht zum zerstörerischen Ilisu-Staudamm und der 12.000 Jahre alte bedrohte antike Stadt Heskîf (Hasankeyf) veröffentlicht.
Die türkische Regierung hat angekündigt, in drei Tagen mit dem Aufstau des kontroversen Ilisu-Staudamms im kurdischen Südosten zu beginnen. Das Staudamm- und Wasserkraftwerkprojekt Ilisu führt zu Zerstörung, Ausbeutung und Herrschaft, weshalb es seit 20 Jahren lokalen und globalen Protest und Widerstand gibt. Die „Initiative zur Rettung von Hasankeyf” hat einen neuen Bericht zum zerstörerischen Ilisu-Staudamm und der 12.000 Jahre alten bedrohten antiken Stadt Heskîf (Hasankeyf) vorgelegt. Der Bericht beeinhaltet alle Grundinformationen als auch die aktuelle Lage rund um dieses Projekt, gegen das heute und morgen im Rahmen von globalen Aktionstagen weltweit in 39 Städten protestiert wird.
Zur kurzen Geschichte des Ilisu Projekts und Gegenkampagnen
Das Ilisu-Projekt am Tigris, rund 40 Kilomter vor der syrisch-irakischen Grenze, wurde 1997 von der türkischen Regierung in das Investitionsprogramm aufgenommen. Dieses Zwei-Milliarden-Euro-Projekt ist Teil des größeren, aus 22 Talsperren und 19 Wasserkraftwerken bestehenden und 32 Mrd. US-Dollar teuren Südostanatolienprojektes (GAP). Umgesetzt wird es vom Staatlichen Wasseramt (DSI). Das Ilisu-Projekt würde nur der türkischen Regierung in Ankara, einigen Großunternehmen wie Cengiz, dem österreichischen Wasserkraftwerksbauer Andritz und einer Reihe Großgrundbesitzern und lokalen Unternehmen einen tatsächlichen Nutzen bringen. Die Gesellschaft am Tigris würde die Kosten tragen, denn sozial, kulturell und ökologisch wäre es im wahrsten Sinne der Wortes eine Mega-Katastrophe. Der sich dagegen formierende Widerstand äußerte sich ab 2006 vor allem in der Initiative zur Rettung von Hasankeyf (HYG). Im Zentrum der Diskussionen steht der antike Ort Hasankeyf, welcher seit 12.000 Jahren ununterbrochen besiedelt ist und ein wichtiges Element der Identität der Lokalbevölkerung darstellt. Aber es würde mehr verloren gehen: Das ökologisch weitgehend intakte Tigristal, Lebensgrundlage für bis zu 100.000 Menschen, würde durch den künstlichen Stausee unter Wasser gesetzt werden. Die große Mehrheit ist kurdisch, wobei die Hälfte der Einwohner von Hasankeyf arabisch ist. Bis zu ihrem Genozid im 1. Weltkrieg war ein großer Teil von Hasankeyf assyrisch (Suryoye). Um den sich anbahnenden Verlust anders auszudrücken: Ein Herzstück von Ober-Mesopotamien würde zerstört werden, wenn nicht das Ilisu-Projekt gestoppt wird. Denn das Tigristal gibt der Gesellschaft eine besondere Vielfalt und Tiefe. Ilisu würde zu einem gesellschaftlichen Trauma führen. Proteste von zehntausenden Menschen und erfolgreiche Kampagnen mit internationalen NGO‘s haben 2009 zum Stopp der internationalen Finanzierung geführt – das zweite Mal nach 2002. Das war historisch, denn bisher wurden international noch nie bewilligte Exportkreditgarantien zurückgenommen. Neben den Regierungen zogen sich auch die europäischen Banken (Societe Generale, Dekabank und Bank of Austria/UniCredit) und mehrere europäische Unternehmen (Alstom aus der Schweiz und Züblin aus der BRD) zurück. Die Wasserkraftwerksfirma Andritz aus Österreich übernahm die Anteile der europäischen Unternehmen und erhielt zusammen mit vier türkischen Unternehmen (allen voran Cengiz und Nurol) Kredite von drei türkischen Banken: von der öffentlichen Halkbank sowie privaten Akbank und Garantibank. Da die türkische Regierung das Ilisu-Projekt als sehr strategisch betrachtet, hat sie die finanziellen Risiken wahrscheinlich auf sich genommen. So konnte der Bau beginnen. Daraufhin gab es 2010 eine längere Kampagne gegen die zwei privaten Banken, die erste ihrer Art in der Geschichte der Zivilgesellschaft der Türkei. Andere Formen von Protesten folgten durch die HYG und anderer Organisationen und wieder einmal Anfang 2013 konnte das Staudammprojekt durch das Verwaltungsgericht Ankara gestoppt werden, weil eine Umwelträglichkeitsprüfung (UVP) nach türkischem Gesetzt fehlte. Doch wurden Gesetze geändert und nach drei Monaten ging der Bau weiter. 2014 wurde durch die kurdische Guerilla und 2015 durch einen Streik der Bauarbeiter das Projekt jeweils einige Monate gestoppt. Ab 2012 formierte sich im Irak die Kampagne Save the Tigris gegen Ilisu und andere Talsperren. Trotz Wahrnehmung in der Öffentlichkeit konnten die irakischen Regierungen nicht ausreichend unter Druck gesetzt werden, damit diese international gegen Ilisu vorgehen.
Zwangsenteignungen und Umsiedlung
Von den zwei Milliarden Euro Projektkosten sollen 800 Millionen für die Umsiedlung (Zwangsenteignung, Umsiedlung, Neubau von Infrastruktur usw.) verwendet werden. Die Zwangsenteignungen in den 200 betroffenen Siedlungen begannen zum großen Teil 2012. Neben dem Dorf Ilisu (umgesiedelt im Oktober 2010) und Hasankeyf gibt es nur für zwei Dörfer eine staatlich geplante Umsiedlung. Alle anderen Menschen erhalten Geld und können ihren neuen Wohnort frei wählen. Erste Berichte legen dar, dass 80 Prozent der Entschädigungssummen weit weg investiert werden. Es gibt 2019 immer noch bis zu einige Hundert Haushalte, die nicht die vorgeschlagene Entschädigungssumme akzeptiert haben und deren Klage noch anhängig ist. Die Entschädigungssummen sind in allen Fällen viel zu gering; die zuvor mündlich zugesagten höheren Summen durch die türkische Wasserbehörde DSI trafen nicht zu. Die größten Verlierer werden die mehr als 20.000 Landlosen sein, sie bekommen absolut keine Entschädigung, nur Kredite. Genauso die bis zu 25.000 Nomaden, die den Tigris jährlich nutzen und vom Staat überhaupt nicht kontaktiert werden. Dann gibt es rund 23.000 Menschen, die in den 90er Jahren aus den betroffenen Dörfern vertrieben und nun ebenfalls nicht einbezogen wurden. Alle Einwohner, die in Neu-Hasankeyf eine Wohnungen beziehen sollen, wären nach ihrer Umsiedlung hoch verschuldet. Denn die Preise für die neuen Appartements sind zwei bis dreimal höher als die für ihre aktuellen Eigenheime und die Einnahmen der Bevölkerung sind sehr gering. Ein weiteres Problem ist, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung Hasankeyfs eine neue Wohnung in Neu-Hasankeyf wegen sehr eng gesetzten Regeln verwehrt wurde; eine weitere Verletzung ihrer Rechte. Die DSI musste immer wieder die Umsiedlung der Einwohner in die neue Stadt verschieben. Jetzt soll dies noch im Juni etappenweise starten. Doch die Bevölkerung bemängelt neben den Kosten, dass die Qualität der Gebäude sehr gering sei und wegen schnellem und schlechtem Bauen bereits jetzt Mängel an den Gebäuden zu beobachten sind. Ein grundlegendes Problem bleibt jedoch die Ungewissheit, wovon die Menschen ihre Einkünfte beziehen sollen. Die angebliche „Tourismuswelle“ ist sehr zweifelhaft und kaum geplant. Ein weiteres Problem bei Neu-Hasankeyf ist, dass nach den Bewohnern der alten Stadt weitere tausende Menschen durch den Bau von weiteren Wohnquartieren nach Neu-Hasankeyf ziehen könnten und zwar aus der ganzen Region - die neue Stadtfläche ist für mindestens 5000 Menschen ausgelegt. Dies könnte zu schwer kalkulierbaren sozialen Spannungen führen. Es bleibt festzustellen: Es wird in einem Gebiet des militärischen Konflikts zwischen türkischer Armee und der kurdischen PKK-Guerilla gebaut, das Prjekt würde diesen Konflikt nur intensivieren. Auch würde es die seit Republiksgründung gegen die Kurd*innen (und alle Nicht-Türk*innen) durchgeführte Assimilationspolitik verschärfen.
Arabische Nomaden im Tigris
Zerstörung von Kultur
Das Ilisu-Projekt liegt im Oberen Mesopotamien, der „Wiege der Zivilisation“, wo die ersten menschlichen Siedlungen entstanden. Dieses Projekt würde neben Hasankeyf rund 400 archäologische Stätten überfluten. Bis heute wurden nur in 15 Stätten Ausgrabungen durchgeführt. Das seit 12.000 Jahren ununterbrochen bewohnte Hasankeyf stellt ein unvergleichbares Schauspiel an Geschichte, Kultur und Natur dar. So lag Hasankeyf jahrhundertelang an der Seidenstraße und war eine der größeren Städte der Region im Mittelalter. In der Stadt finden sich Spuren von über 20 östlichen und westlichen Kulturen, mehrere hunderte Monumente und bis zu 5500 von Menschen gemachte Höhlen. Ausgrabungen der letzten Jahren sagen aus, dass die Stadt als der Zwilling von Göbeklitepe – die älteste Tempelanlage der Menschheit 225 km westwärts - betrachtet werden sollte und einen außergewöhnlichen Wert hat. Hasankeyf muss mit seinem umliegenden Gebiet betrachtet und mehrere Jahrzehnte lang sorgfältig ausgegraben werden. Hasankeyf und das umgebende Tigris-Tal erfüllt nach unabhängigen Expertenuntersuchungen neun von zehn UNESCO-Kriterien für einen Welterbestatus. Aber weder durch die UNESCO noch die türkische Regierung gab es je einen dementsprechenden Vorstoß. Angesichts des universellen Wertes würde die Zerstörung von Hasankeyf im Wesen der Zerstörung der Buddha-Tempel durch die Taliban in Afghanistan und der Zerstörung von Palmyra in Syrien durch den IS entsprechen.
Zu einem großen Aufschrei infolge von Felsensprengungen in Hasankeyf kam es im August 2017 durch schnell verbreitete Videobilder über diesen Akt der Zerstörung. So mussten selbst die DSI und der zuständige Minister Stellung mit ihren Lügen beziehen. Die Zerstörung der Felsenstücke ist eine neue Stufe der „physischen Intervention“ in Hasankeyf. Der irreparable Schaden hat aber schon im Herbst 2014 begonnen, als angefangen wurde, die drei Pfeiler der mehr als 1000 Jahre alten historischen Brücke mit Natursteinen zu bedecken und sie angeblich so unter Wasser zu konservieren. Sie sollte ursprünglich wie andere Monumente versetzt werden, was sich später als nicht realisierbar herausgestellt hat. Der zweite Schritt in der Zerstörung des Kulturerbes von Hasankeyf war die Versetzung des 550-jährigen Mausoleums Zeynel Bey im Mai 2017 in den zwei Kilometer nördlich gelegenen „Kulturpark“ bei Neu-Hasankeyf. Mit dem Know-How der holländischen Firma Bresser konnte das türkische Unternehmen Er-Bu Insaat diese äußerst risikohafte Versetzung durchführen.
Eine im Juli 2017 gestartete OECD-Klage gegen Bresser in den Niederlanden führte zu erheblicher Kritik an der Vorgehensweise, vor allem in Bezug auf die Beteiligung der Bevölkerung und Information der Öffentlichkeit. Doch dies hielt Bresser nicht davon ab, sich an drei weiteren Versetzungen zu beteiligen und dabei noch undurchsichtiger vorzugehen. In der Zeit bis zum Frühjahr 2019 wurden sechs weitere Monument in den „Kulturpark“ versetzt. Diese sind der Artuklu-Hamam, das Imam-Abdullah-Mausoleum, das mittlere Tor zur Felsenburg, die Kizlar-Moschee, die Sultan-Süleyman-Koç-Moschee und die im Landschaftsbild hervorstechende El-Rizk-Moschee mit ihrem Minarett. Inwieweit Zerstörungen an diesen Monumenten vorgekommen ist, ist unklar, auch weil es keine unabhängige Untersuchungen gibt. Die Versetzung von diesen Monumenten bildet einen wichtigen Teil der Propaganda des türkischen Staates zur angeblichen „Rettung von Hasankeyf“. Die Versetzung von sieben Monumenten hat kulturell keinen Wert, weil es in Hasankeyf mehr als 300 feststellte Monumente gibt und die Denkmäler ihre Bedeutung an einem zusammenhangslosen Ort verlieren.
Versetzung des Zeynel-Bey-Mausoleums
Die Sprengung von Felsenstücken in Hasankeyf war der Auftakt einer Reihe von Zerstörungen und einer großen physischen Intervention. Weitere ähnliche Sprengungen folgten in den anschließenden Monaten. Der Schutt wurde dafür genutzt, für den geplanten „antiken Hafen“ (es soll eine wichtige Anlaufstelle für den geplanten Tourismus sein) am Burgfelsen aufzuschütten. Zur angeblichen Stützung des Burgfelsens wurden mehr als 200 Höhlen zugeschüttet und eine riesiger Damm errichtet. Dieser sticht hervor beim Blick auf Hasankeyf. Auch am Tigris in Hasankeyf wurde erheblich eingegriffen, indem er kanalisiert und eine neue temporäre Brücke für Bauarbeiten und die Versetzung der Monumente errichtet wurde. Dies hat zur Zerstörung von Habitat von Tieren und Pflanzen auf zwei Kilometern Länge geführt. Heute gleicht ganz Hasankeyf einer großen Baustelle.
Dynamitsprengung in Hasankeyf
Zerstörung von Natur
Der Stausee des Ilisu-Projekts würde insgesamt 400 Kilometer Flussökosystem (davon 136 km vom Tigris) überfluten, das die Heimat von tausenden Pflanzen und Tieren darstellt, darunter bedrohte Tierarten wie die berühmte Euphrat-Weichschildkröte. Alleine 123 Vogelarten wurden bei Hasankeyf festgestellt. Der Tigris ist einer der letzten halbwegs frei fließenden Großflüsse in Kurdistan und im Mittleren Osten.
Da jedoch die ökologische Vielfalt bisher wenig erforscht wurde, können wir nicht wirklich sagen, was verloren gehen würde. Das regionale Klima würde sich ebenso spürbar verändern, wie dies am Euphrat mit mehreren Stauseen bereits geschehen ist. So erfuhr zum Beispiel die traditionelle Landwirtschaft dort schwerwiegende negative Auswirkungen. Es wird erwartet, dass die zukünftige Wasserqualität des Stausees so niedrig sein wird, dass es zu einem massiven Fischsterben kommt und die Gesundheit der Anwohner*innen gefährdet wird. Weiter abwärts wird der Fluss wegen verringerter Wasserqualität und -quantität ökologisch erheblich beeinträchtigt. Am meisten werden die Sümpfe Mesopotamiens im Südirak - das größte Feuchtgebiet im Mittleren Osten und seit 2016 als UNESCO-Welterbe aufgelistet – betroffen werden.
Die Euphrat-Weichschildkröte
Internationale Auswirkungen
Syrien und insbesondere Irak sind auf das Wasser des Tigris angewiesen, welches eine unersetzliche Quelle für die Landwirtschaft und die Wasserversorgung der Haushalte ist. Die Türkei hat die UN-Konvention über die nichtschifffahrtliche Nutzung internationaler Wasserläufe von 1997 nicht unterschrieben und setzt statt einer umfassenden gegenseitigen Übereinkünft mit Irak und Syrien nur bilaterale Abkommen an, die sie selbst diktieren kann. Damit ist dem Abgraben von Wasser aus Sicht des internationalen Rechts keine Grenzen gesetzt. Dass der türkische Staat es nicht gut meint, zeigt das aktuelle Verhalten gegenüber des befreiten Rojava/Nordsyrien, welches es bekämpft. Seit 2016 lässt die Türkei im Frühling und Sommer nur die Hälfte der im bilateralen Abkommen mit Syrien von 1987 zugesagten Fließmenge des Euphrat passieren. Dies reduziert dementsprechend die Bewässerung, Stromerzeugung und Trinkwasserversorgung für eine halbe Millionen Menschen. Leider verhandelt der Irak zurzeit mit der Türkei hinter verschlossenen Türen ohne die Rechte der Menschen im eigenen Land wirklich im Blick zu haben. Der Irak könnte den UN-Sicherheitsrat anrufen, wofür er mit einem bilateralem Abkommen aus dem Jahr 1947 eine gesetzliche Grundlage hat. Doch zurzeit liegt ein Gesetzesentwurf zur „Wassernutzung zwischen der Türkei und dem Irak“ im türkischen Parlament vor, welches sich auf technische Belange begrenzt und ökologische Belange überhaupt nicht beachtet.
Fertiggestellter Damm in Hasankeyf
Seit 1999 haben Aktivist*innen und Betroffene vor türkischen Gerichten eine Reihe von Klagen gegen das Ilisu-Projekt mit verschiedenen Argumenten eingereicht. Eine wichtige Klage wurde 2010 wegen angeblichem höhergestellten öffentlichen Interesse seitens türkischer Gerichte abgewiesen. Viele kleinere Klagen von Betroffenen gegen Enteignung wurden in allen Fällen abgelehnt und oft die Entschädigungssumme weiter heruntergesetzt. 2006 wurde ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) von fünf Personen aus der West-Türkei eingeleitet mit der Forderung nach Zugang zum kulturellen Erbe als Menschenrecht. Im Februar 2019 wurde die Klage abgewiesen, weil sich der EGMR aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht dazu fähig befand, zu entscheiden. Nach 13 Jahren wurde gesagt: „Sorry, darüber können wir gar nicht entscheiden.“ Die Straßburger Richter entzogen sich damit jeder Verantwortung, parallel zum Verhalten der EU zur Türkei. Zurzeit laufen Diskussionen durch die HYG für weitere Verfahren vor türkischen Gerichten. Auch wenn die Rechtsstaatlichkeit kaum noch vorhanden ist, soll jede Möglichkeit ausgenutzt werden.
Entwicklungen der letzten Jahre
Ab Anfang 2015 nahmen die Aktivitäten der Kampagne gegen das Ilisu-Projekt wieder zu. Dieses Mal war auch die neugegründete und sich in ganz Nordkurdistan ausbreitende Ökologiebewegung Mesopotamiens (MEM) mit dabei. Eine Reihe von Demonstrationen, Konferenzen, Justizverfahren und der 1. Globale Aktionstag für Hasankeyf waren unter anderem die Resultate. Nach drei Jahren der Stille der Proteste wurde wieder Hoffnung geschöpft. Im Mai 2016 folgte eine internationale Konferenz in Batman (Êlih) für die Rettung Hasankeyfs. Doch wurde diese Entwicklung durch den wieder losgetretenen Krieg durch die AKP-Regierung im Sommer 2015 gegen die Kurd*innen und den Ausnahmezustand ab Juli 2016 erheblich eingeschränkt. So erlaubte der Krieg der türkischen Regierung, den Streik der Arbeiter von der Ilisu-Baustelle, der im Juni 2015 begann, im November 2015 zu unterdrücken. Es handelte sich um einen umfassenden Streik der Arbeiter*innen wegen Verletzung ihrer Rechte und tätlichen Angriffen der Bauunternehmen. Seitdem kommt die große Mehrheit der Arbeiter*innen aus nichtkurdischen Provinzen. Diese leben auf der Baustelle, wo sie vom Militär geschützt werden, und haben kaum Kontakt zur Bevölkerung.
Demonstration in Hasankeyf beim 2. Globalen Aktionstag 2015
Die Regierung hat ab 2015 hunderte zusätzliche Menschen als sogenannte „Dorfschützer“ angeworben und diese für die „Sicherheit“ der Ilisu-Baustelle bewaffnet. Tatsächlich richtet sie sich gegen mögliche Proteste an der Baustelle, aber auch gegen die in der Nähe agierende PKK-Guerilla. Tausende von Soldaten sind um die Baustelle herum stationiert, die für laufende Militäroperationen gegen die Guerilla abgezogen werden. Die Militarisierung hat so ein hohes Level erreicht, das es unmöglich geworden ist, die Baustelle als unabhängiger Journalist oder Forscher zu besuchen. Hinzu kommt, dass seit Kriegsbeginn permanent viele betroffene Gebiete des Tigristals durch die Regierung zu militärischen Zonen erklärt wurden und sie somit nicht zugänglich sind.
Die Kampagne gegen Ilisu ging natürlich weiter, jedoch war es fast nicht mehr möglich, Menschen auf die Straßen zu bringen, wozu auch die physische Zerstörung in Hasankeyf beitrug. Doch beim 2. Globalen Aktionstag am 23. September 2017 konnte sich eine Gruppe von 50 Menschen – zumeist aus Istanbul – in Hasankeyf vor der Presse versammeln. Auch dank der anwesenden Presse und guten Taktierens in Hasankeyf in Zusammenarbeit mit der HYG, war das möglich. Das große Interesse der Medien durch die Sprengung der Felsenstücke einen Monat zuvor erleichterte dies außerdem. An diesem Aktionstag nahmen Menschen in Europa und erfreulicherweise in Silêmanî (Südkurdistan), Bagdat und Nedschef teil.
Im Frühjahr 2017 wurde eine Petition von mehreren iranischen Zivilorganisationen gestartet, die von 150.000 Menschen unterzeichnet wurde. Sie richtet sich an den UN-Generalsekretär und kritisierte, dass das Ilisu-Projekt zur Austrocknung der mesopotamischen Sümpfe im Südirak führe und dies wiederum zu erhöhten Sandstürmen im Süden Irans führt. Dies ist auch ein Ausdruck eines gestiegenen ökologischen Bewusstseins im Iran.
Im März 2018 wurden die Geschäftsinhaber der Tourismusstraße im Zentrum Hasankeyfs aufgefordert, in die neuen Geschäfte Neu-Hasankeyfs umzusiedeln, obwohl noch kein Mensch aus Hasankeyf in die Geisterstadt gezogen war. Dies löste am 22. März 2018 eine Demonstration von hunderten Menschen aus, die von der Polizei angegriffen wurde - ein Novum bei Protesten gegen das Ilisu-Projekt. Wegen verbreiteter öffentlicher Kritik hat die Wasserbehörde DSI daraufhin zugesagt, dass sie erst mit der Bevölkerung ihre Geschäfte räumen können.
2. Globaler Hasankeyf-Aktionstag, 2017
Am 28. April 2018 wurde ein internationaler Aktionstag für Hasankeyf und Sur, die halb zerstörte Altstadt von Diyarbakir (Amed), durchgeführt. In fünf Orten innerhalb der Türkei und in 13 internationalen Orten fanden Aktionen gegen die laufende Zerstörung von Kulturerbe und Siedlungen in Nordkurdistan statt.
Am 1. Juni 2018 ging ein Aufschrei durch die irakische Gesellschaft, als der Tigris in Bagdad kaum Wasser führte. Das Ilisu-Projekt wurde verantwortlich gemacht, doch die wahren Gründe sind der ausbleibende Schneefall in den Bergen Kurdistans im Winter zuvor und der seit 20 Jahren abnehmende Niederschlag durch die Klimakrise. Auch die zerstörerische und zentralistische Wasserpolitik der Türkei und des Iraks waren und sind verantwortlich. Auch wenn sich Anfang 2019 Rekordniederschläge ereigneten, wird sich die Wasserkrise im Mittleren Osten verschärfen.
Die DSI und andere türkische Regierungsleute lassen seit 2016 immer wieder verkünden, dass das Ilisu-Projekt zu 97 oder gar 99 Prozent fertiggestellt sei und der Aufstau sehr bald beginne. Bei der angeblichen Fertigstellung des Projekts ist weiterhin zu beachten, dass in die Prozentsätze die Umsiedlungsmaßnahmen nicht einberechnet sind. Ob am 10. Juni der Aufstau tatsächlich beginnt, ist unklar, denn viele Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen. So ist es unklar, ob das Wasserkraftwerk wirklich betriebsbereit ist und alle drei Umleitungstunnel bei Ilisu geschlossen wurden. Die neue große Brücke bei Hasankeyf ist zu zweidritteln fertiggestellt und wird frühestens im nächsten Jahr betriebsbereit sein. Eine Reihe von Klagen von Bewohnern von Hasankeyf, die sich gegen das Ilisu-Projekt richten, sind noch anhängig. Die Umsiedlung von bis zu 20.000 Menschen (das ist die offizielle Zahl der Umzusiedelnden) wird bestimmt eine Reihe von Problemen und Verzögerungen mit sich bringen. Der Bau von zwei geplanten Dörfern bei Hasankeyf hat noch nicht begonnen. Hinzu kommt, dass es im Sommer aus wasserwirtschaftlicher Sicht keinen Sinn macht, mit dem Aufstau zu beginnen. Denn der Durchfluss ist im März und April am größten, im Sommer deutlich niedriger. Die vielen Niederschläge von 2019 werden daran auch nichts Essentielles ändern. So können wir folgern, dass mit dem Beginn des Aufstaus bis Ende 2019 nicht viel passieren wird. D.h. es würde sehr langsam aufgestaut. Das Ziel des türkischen Staates dabei wäre es, der Bevölkerung und den Anrainerstaaten zu vermitteln, dass Widerstand zwecklos ist. Es geht hier also um eine psychologische Überlegenheit in einer Phase der politischen und wirtschaftlichen Krise im Staate Türkei.
Wie geht es weiter?
Perspektivisch gesehen ist der Kampf gegen das Ilisu-Projekt noch nicht gelaufen. Bis zum letzten Moment wird der Widerstand weitergehen. Weltweit gibt es eine Reihe von Investitionsprojekten, die baulich fertig gestellt sind, aber nicht in Betrieb genommen wurden. Das beste Beispiel sind Atomkraftwerke in Österreich und der Bundesrepublik Auch sind mehrere Talsperren wie Pak Mun in Thailand darunter. Eine Gesellschaft kann sich gegen besonders zerstörerische fertiggestellte Projekte stellen und sie sogar rückbauen. Im Falle der Türkei kann es aber schon vorher passieren, dass Veränderungen der nicht stabilen politischen und ökonomischen Verhältnisse dieses Projekt zum Stoppen bringen könnten. Schließlich ist der Kampf gegen das Ilisu-Projekt eine Gewissensfrage. Ilisu und vor allem Hasankeyf sind nicht nur in Nordkurdistan, sondern in der ganzen Türkei ein Symbol des Widerstandes gegen sozial- kulturell-ökologische Zerstörung durch Mega-Infrastrukturprojekte. Das „Freilichtmuseum“ Hasankeyf und das umliegende Tigristal sind im globalen Rahmen ein außergewöhnliches Erbe. Einer sich anbahnenden großen sozial-kulturell-ökologischen Zerstörung gegenüber dürfen kritische Menschen und Gesellschaften nicht schweigen. Es ist wichtig, bis zum letzten Moment zu kämpfen. Hasankeyf könnte unter gewissen Umständen sogar eine wichtige Rolle beim gesellschaftlichen Protest in Nordkurdistan und sogar der Türkei spielen – vielleicht in Kombination mit anderen Orten, die durch Investitionsprojekte bedroht sind. Auch deshalb müssen auf internationaler Ebene Kampagnen weitergehen und stärker werden. Es ist nie zu spät.