Türkei geriert sich als Hinterland der Hamas

Der türkische Regimechef Erdoğan brüstete sich beim Besuch des griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis damit, dass mehr als tausend Hamas-Mitglieder in türkischen Krankenhäusern behandelt würden.

Ismail Haniyya (Hamas) und Recep Tayyip Erdoğan

Der türkische Regimechef Recep Tayyip Erdoğan steckt in der Krise. Innenpolitisch schwer angeschlagen setzt er auf die einenden Effekte von Panislamismus, antikurdischem Rassismus und Antisemitismus. Während sein Regime die kurdische Zivilbevölkerung angreift, ganze Landstriche in Rojava mit einem Terrorregime besetzt hält und Südkurdistan unter dem Einsatz verbotener Kampfstoffe zu besetzen versucht, geriert sich Erdoğan als Verteidiger der Palästinenser. Die Tatsache, dass sich am 20. September 2023 der rechtsextreme israelische Staatschef Netanjahu und sein türkisches Pendant in Ankara als ein Herz und eine Seele präsentierten, zeigt die Doppelzüngigkeit des lautstark panislamischen und propalästinensischen türkischen Regimechefs, der sich gerne als Führungsfigur der antisemitischen, salafistischen Muslimbruderschaft feiern lässt.

Unter der Regierung der AKP vervielfachte sich das türkische Handelsvolumen mit Israel. Während Erdoğan Israel als „Kindermörder“ geißelte, seine Verbrüderung mit der Hamas lautstark feierte und den sogenannten Islamischen Staat (IS) mit allen Mitteln unterstützte, versechsfachte sich das türkisch-israelische Handelsvolumen zwischen 2002 und 2022.

Pro-Palästina-Schwenk ist ein innenpolitischer Rettungsversuch

Doch das türkische Regime geriet aufgrund der gewaltigen Ausgaben für den Krieg in Kurdistan, der verfehlten Wirtschaftspolitik, der Korruption und der Repression immer mehr ins Taumeln. Die Inflation galoppiert immer rasanter und scheint nicht aufzuhalten zu sein, und auch militärische Erfolge bleiben aus. So erhielt das Regime bei den Kommunalwahlen am 31. März seine Quittung. Im Westen unterlag die AKP der staatstreuen Opposition der CHP und in Kurdistan fuhr die demokratische Opposition trotz massiver Betrugsversuche einen gewaltigen Erfolg ein und konnte ihr Ergebnis im Vergleich zu den vorherigen Wahlen weiter steigern. Die Wahlen haben gezeigt, dass der AKP die Basis wegbricht. Bereits im Vorfeld der Wahlen wurde Erdoğan wiederholt aufgrund seiner Beziehungen zu Israel angegriffen, obwohl er eine propalästinensische Rhetorik verfolgt. Auch das mag ihn Stimmen gekostet haben. Anders lässt sich kaum der ökonomische Schwenk verstehen, in dem das Regime vor wenigen Tagen offiziell einen Handelsstopp mit Israel ankündigte. Ob dem Taten folgen werden, bleibt abzuwarten.

Beziehungen des Regimes zu bewaffneten Islamisten

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob die offene Aussage Erdoğans im Rahmen des Besuchs des griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis, es würden über 1.000 Hamas-Mitglieder in türkischen Krankenhäusern gepflegt, überhaupt zu diskutieren sei, da es sich offensichtlich um ein Propagandamanöver des Regimechefs handelt, um sich als Vorkämpfer der „palästinensischen Sache“ in den Mittelpunkt zu setzen und eine gezielte Provokation Richtung Westen und NATO abzusetzen, deren Mitglied die Türkei selbst ist. Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte ist dies jedoch notwendig. Die Verbindung der türkischen Regierungen zum islamistischen Terror reicht tief. Islamismus und Dschihadismus war für die Türkei immer Mittel zum Zweck. Selbst vermeintlich säkulare Regierungen setzten auf die Schaffung einer islamistischen Terrormiliz, der Hizbullah, die für unzählige Morde in Nordkurdistan verantwortlich zeichnet. Die Nachfolgepartei der Hizbullah, die Hüda Par, sitzt nun mit dem Ticket der AKP im Parlament.

Aber nicht nur im Inland unterstützte die Türkei islamistische Mörderbanden. Insbesondere die Verbindung zum IS geht sehr tief. Der türkische Staat nutzte den IS als Mittel seiner eigenen Expansionsbestrebungen und als Werkzeug zur Vernichtung von Rojava. Hochgerüstet mit unzähligen unter der Regie des türkischen Geheimdienstes MIT gelieferten Waffen, Zehntausenden durch die Türkei nach Syrien geschleusten Dschihadisten verübte der IS den Genozid an der ezidischen Bevölkerung von Şengal und errichtete ein Terrorregime, das auf Femizid und Versklavung basiert. Doch der IS scheiterte am kurdischen Widerstand. Unter den Augen der türkischen Behörden verübte der IS Bombenanschläge auf Friedenskundgebungen und auf Menschen, die humanitäre Unterstützung für Rojava leisten wollten. So wurde der IS auch als Mittel genutzt, um die innere Opposition auf türkischem Staatsgebiet anzugreifen. Unzählige verwundete IS-Söldner wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt und anschließend nach Syrien zurückgeschickt.

Muslimbruderschaft als Vehikel des türkischen Imperialismus

Neben dem IS ist auch die Muslimbruderschaft ein wichtiges Vehikel des AKP-Regimes. Seit Beginn des sogenannten arabischen Frühlings setzte die Türkei auf die Muslimbruderschaft. Als die Muslimbrüder in Ägypten die Macht errangen und ebenfalls ein repressives islamistisches Regime zu installieren begannen, ließ sich Erdoğan dort de facto als neuer Kalif feiern. Einen schweren Schlag erhielt er mit dem Sturz der Islamisten und der diktatorischen Militärs in Ägypten. Doch damit nicht genug, die Türkei setzte neben dem IS stark auf Muslimbrudergruppen wie Ahrar al-Sham in Syrien und Rojava, die insbesondere in Efrîn und anderen besetzten Regionen schwerste Kriegsverbrechen verübten. Das gleiche galt für den Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra, heute Hayat Tahrir al-Sham, der große Teile der Region Idlib unter türkischer Regie weiter kontrolliert.

Hamas ist Ableger der Muslimbruderschaft

Die Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft. Insofern kommt die enge Verbindung des türkischen Regimechefs Erdoğan nicht von ungefähr. Die Hamas setzte sich als islamistisches Gegenprojekt zur eher säkular und teilweise links orientierten PLO durch. Auch wenn die Behauptung, die Hamas sei eine Gründung Israels und der USA, allein schon aufgrund der Verwurzelung der Hamas in der Muslimbruderschaft nicht haltbar ist, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Hamas zunächst unterstützt wurde, um die PLO zu schwächen. Das räumen auch ehemalige Agenten des Mossad ein. Der legitime Freiheitskampf der Palästinenser:innen wurde so noch mehr zu einem Spielball der Regionalmächte. Insbesondere der Iran, Syrien aber auch die Türkei nutzten den Konflikt, um geopolitische Stärke zu gewinnen. Während Gaza von Israel durch den Mauerbau zu einem Freiluftgefängnis gemacht wurde, installierte die Hamas nach ihrer Wahl eine Diktatur im Gaza-Streifen. So liegen unzählige Berichte von extralegalen Hinrichtungen, Folterungen und Repressalien gegen vermeintliche und reale Dissident:innen vor, denen schnell die „Kollaboration mit Israel“ untergeschoben wurde. Queere Menschen litten unter massiver Verfolgung durch die Hamas. Bei ihrem Angriff vom 7. Oktober zeigte die Hamas ihr misogynes Gesicht deutlich. Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigungen, Morde und Verschleppungen von Zivilist:innen schockierten die Welt. Es folgten die völkerrechtswidrigen Vernichtungsangriffe der israelischen Armee auf den Gazastreifen mit Zehntausenden von Toten, und auch die Grausamkeit der Hamas darf nicht als Rechtfertigung für dieses Vorgehen herhalten.

Türkei versucht neue Druckpotentiale zu schaffen

Die Türkei gießt mit ihrer Unterstützung für die Hamas Öl ins Feuer und versucht als vermeintlicher Vermittler, eine neue Machtposition im Nahen Osten zu erlangen. Es ist immer wieder das gleiche Spiel mit anderen Beteiligten. Mal versucht die Türkei, Schutzsuchende als Druckmittel gegen die EU einzusetzen, mal ihr Verhältnis zu Russland als Mittel gegen die NATO oder den Beitritt Schwedens in die NATO, um kurdenfeindliche Konzessionen durchzusetzen. Dass die Türkei jetzt mit dem Pfund der Hamas wuchern will, ist daher nur logisch. Die Behandlung von Hamas-Mitgliedern steht in der Tradition der Versorgung der IS-Mörderbanden in türkischen Krankenhäusern; das darf nicht vergessen werden. Es gibt auch Berichte, dass die Türkei Hamas-Anhänger in den besetzten Gebieten in Nordsyrien ansiedelt. Gemäß einer geheimen Vereinbarung zwischen dem türkischen Staat, Katar und der Hamas ist von bis zu 250.000 Menschen, die aus dem Gazastreifen nach Nordkurdistan, in die besetzten Gebiete in Nordsyrien sowie in den von der Türkei kontrollierten Teil Zyperns umgesiedelt werden sollen die Rede. Auch das ist ein Mittel, um in kritischen Regionen die Herrschaft der AKP zu stabilisieren oder durchzusetzen. Der palästinensische Kampf ist in diesem Sinne wieder nur Werkzeug in den Händen eines Diktators.

Demokratische Lösung und Dritter Weg statt Krieg

Währenddessen hält die kurdische Freiheitsbewegung an ihrer humanistischen Positionierung auch in Hinsicht auf den Palästina-Israel-Konflikt fest. Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK, analysierte treffend, dass der israelische Staat versuche, den Angriff der Hamas als Waffe gegen die Friedensbewegung zu nutzen: „Der israelische Staat und die Netanjahu-Regierung versuchen, die Aktionen der Hamas, die auf Zivilpersonen abzielten und Reaktionen provozieren, zu nutzen, um diese Haltung der Bevölkerung zu ändern. Aber trotzdem und inmitten dieses Krieges und der Kriegshetze ist es sehr wichtig, dass die Menschen ihre Haltung nicht ändern und ihre Position zugunsten einer demokratischen Lösung beibehalten.“ Während der türkische Staat vordergründig auf die Hamas setzt und die übrige NATO auf Israel, vertritt die kurdische Freiheitsbewegung auch hier eine am Frieden orientierte Haltung des Dritten Wegs.

Die Pressekonferenz im türkischen Präsidentenpalast schien eigentlich schon vorbei zu sein, als Präsident Recep Tayyip Erdoğan sich am Montag noch einmal zu Wort meldete, um dem griechischen Ministerpräsidenten vehement zu widersprechen. Er sei überhaupt nicht der Meinung von Kyriakos Mitsotakis, dass die Hamas eine Terrororganisation sei. „Sie ist im Gegenteil eine Widerstandsorganisation, die ihr Territorium seit 1947 schützt.“

Das hatte Erdoğan in der Vergangenheit schon einmal gesagt. Doch was dann folgte, war neu: „In meinem Land werden derzeit mehr als tausend Mitglieder der Hamas in unseren Krankenhäusern behandelt.” Es blieb nicht das einzige Thema, bei dem sich beide uneins waren.

Mitsotakis: „Erschütternde Entwicklung“

Mitsotakis war am Nachmittag zu seinem ersten Türkei-Besuch seit fünf Jahren eingetroffen. Es war außerdem das erste Treffen, seit beide Seiten sich im Dezember in Athen auf einen Annäherungsprozess verständigt hatten. Nach Jahren der Spannungen, die zwischenzeitlich einen militärischen Konflikt denkbar erscheinen ließen, hatten sie sich auf eine „Positivagenda“ geeinigt, die die Streitfragen zu Hoheitsgebieten, Gasvorkommen und Zypern ausklammert.

Nach dem Gespräch in Ankara sagte Mitsotakis: „Trotz unserer Uneinigkeiten sind wir offen für Kooperation.“ Auch Erdoğan äußerte: „Die Gesprächskanäle werden offen gehalten.“ Jenseits der Gründung eines „Gemeinsamen Wirtschaftsrats“ wurden allerdings keine weiteren vertrauensbildenden Maßnahmen verkündet. Es wurden lediglich Absichtserklärungen in den Bereichen Katastrophenschutz, Handel und Gesundheit unterzeichnet.

Titelbild: Recep Tayyip Erdoğan mit Hamas-Auslandschef Ismail Haniyya in Istanbul