Bayik: Im Nahen Osten gibt es zwei grundlegende Probleme

Im Nahen Osten gibt es zwei grundlegende Probleme. Das eine ist die palästinensische Frage und das andere ist die kurdische Frage. Solange diese beiden Probleme nicht gelöst sind, wird es Krieg und Massaker geben, sagt Cemil Bayik (KCK).

Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu aktuellen politischen Entwicklungen geäußert. Wir dokumentieren einen kleinen Ausschnitt, in dem es um die Angriffe der Türkei auf Rojava und die heuchlerische Unterstützung der Erdoğan-Regierung für Palästina geht.

Am 1. Oktober verübten zwei Kämpfer der PKK, Rojhat Zîlan und Erdal Şahin, einen Anschlag in Ankara und erschütterten das Land. Der türkische Staat nutzte dies als Vorwand, um Rojava [Nordsyrien] anzugreifen. Was hat die Aktion in Ankara mit den Angriffen auf Rojava zu tun?

Zunächst einmal möchte ich den Genossen Rojhat und Erdal meine Anerkennung aussprechen. Diese Freunde haben eine historische Aufgabe für das kurdische Volk und die Menschheit erfüllt. Sie haben ein großes Opfer gebracht, indem sie sich mutig dem Feind gestellt haben. Ihre Aktion richtete sich gegen das Innenministerium, von wo aus der Völkermord an den Kurdinnen und Kurden gesteuert wird. Der Feind versucht, das kurdische Volk auszulöschen, und unsere Genossen haben mit ihrer Aktion eine Botschaft gesendet. Sie lautete im Wesentlichen: „Ihr wollt das kurdische Volk eliminieren, aber wir akzeptieren das nicht. Diejenigen, die uns eliminieren wollen, sollen wissen, dass wir sie zuerst eliminieren werden." Mit dieser Aktion haben die Freunde das wahre Gesicht des türkischen Staates gezeigt. Der Staat behauptet ständig: „Wir haben die PKK vernichtet. Die PKK existiert nicht mehr, sie kann nichts mehr tun, wir haben den Frieden in der Türkei gesichert, wir töten jeden Tag viele Guerillakämpfer." Diese schmutzige Propaganda wurde zunichte gemacht.

Obwohl es einen so großen Krieg gibt, wird er von der AKP/MHP-Regierung geleugnet. Sie versucht sogar immer noch, die Existenz der kurdischen Frage zu leugnen. Sie will den laufenden Krieg verbergen und die toten Soldaten vor der Gesellschaft verstecken. Sie propagiert immer das Ende der PKK, aber diese Aktion hat gezeigt, dass das eine Lüge ist. Der Feind war schockiert, weil die Aktion die ganze Realität des türkischen Staates enthüllte, weil sie seine Propaganda zunichte machte, weil sie die Realität dieses intensiven Krieges mitten in sein Land brachte. Deshalb wussten sie nicht, was sie tun sollten. Sie wollten die Wirkung dieser Aktion mit Gegenangriffen brechen.

In Wirklichkeit war es schon vorher ihr Ziel, einen neuen Angriff auf Rojava zu starten. Erdoğan sagte diesbezüglich offen: „Wir haben eine Entscheidung getroffen und warten auf den richtigen Zeitpunkt." Sie haben Rojava unter dem Vorwand des Anschlags in Ankara angegriffen. Sie sagten: „Die Angreifer kamen aus Rojava. Rojava ist für uns gefährlich, also werden wir uns rächen." Auf diese Weise setzten sie die Entscheidung in die Tat um, die sie bereits zuvor getroffen hatten. Sie selbst und die ganze Welt wissen, dass diese Freunde nicht aus Rojava kamen. Aber der türkische Staat hat Rojava angegriffen, weil er ein Feind von allem Kurdischen ist. Bevor sie angriffen, sagten sie, dass Kraftwerke, Fabriken, die gesamte Infrastruktur ihr Ziel ist, ihre Armee und ihr Geheimdienst werden alles angreifen. Sie haben gedroht, dass sich alle Dritten zurückziehen müssen, dass sich ihnen niemand in den Weg stellen darf. Sie behaupteten: „Wer sich gegen uns stellt, den werden wir auch angreifen."

Tatsache ist, dass die Türkei allein nicht die Macht hat, diese brutalen Angriffe auf Rojava auszuführen. Es war die Entscheidung der NATO und der USA, all diese Orte anzugreifen, weil die Türkei ein NATO-Mitgliedstaat ist. Wenn die NATO keine Genehmigung erteilt, kann die Türkei diese Angriffe gegen Rojava nicht durchführen und Menschen töten. Hätten sie die Angriffsentscheidungen des türkischen Staates nicht gebilligt, hätte der türkische Staat diese Angriffe nicht durchführen können, und wenn sie es getan hätten, hätten sie sich dagegen gestellt. Der türkische Staat hält sich weder an Gesetze noch an die Moral des Krieges. Er tut, was ihm gefällt. Weil er die Kurdinnen und Kurden vernichten will, bombardiert er überall. Er zerstört Lebensräume, Kraftwerke, Wasserreservoirs, Getreidelager, Ölanlagen, Krankenhäuser, Fabriken. Wie sollen die Menschen dort leben, wenn alles zerstört wird? Die Angriffe sind unmoralisch und große Kriegsverbrechen. Diejenigen, die sie zulassen, kollaborieren mit dem türkischen Staat.

Während Erdoğan diese Angriffe auf Rojava durchführt, verteidigt er auf der anderen Seite angeblich den Gazastreifen. Wie bewerten Sie diese Situation?

Erdoğan, die Regierung und die Opposition in der Türkei verhalten sich heuchlerisch. Sie halten sich für schlau und meinen, sie könnten ihr Tun vor aller Augen verbergen, ohne dass es jemand verstehen würde. Angeblich verteidigen sie Gaza und Palästina, aber wer den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden als Grundlage seiner Politik nimmt, kann niemals ein Freund des palästinensischen Volkes sein. Im Nahen Osten gibt es zwei grundlegende Probleme. Das eine ist die palästinensische Frage und das andere ist die kurdische Frage. Solange diese beiden Probleme nicht gelöst sind, wird es Krieg und Massaker geben, und es wird keinen Raum für Freiheit und Demokratie im Nahen Osten geben. Wenn diese beiden Probleme gelöst sind, wird im Nahen Osten Frieden herrschen, wird sich ein Wandel vollziehen, werden sich Demokratie und Freiheit entwickeln. Die Hegemonialmächte wollen niemals, dass diese Probleme gelöst werden, denn sie haben ihr System darauf aufgebaut. Das System der kapitalistischen Moderne will nie, dass Probleme gelöst werden. Deshalb schaffen sie stattdessen immer neue Probleme.

Unser Volk, das palästinensische Volk und die Menschen in der Region müssen diese Situation gut verstehen. Wir wollen ein kurdisch-arabisches Bündnis aufbauen. Denn es sind diese Völker im Nahen Osten, die auseinandergerissen werden, die vor großen Problemen stehen, die Ungerechtigkeit ausgesetzt sind, die ständig Krieg und Völkermord erleben. So wie alle, die diese Probleme verursachen, zusammen sind, müssen sich das kurdische und das palästinensische Volk gemeinsam dagegen stellen. Deshalb sprechen wir von einer kurdisch-arabischen Allianz. Die Araber wurden in 22 Staaten aufgeteilt und die Kurden in vier Teile geteilt. Deshalb müssen das kurdische und das arabische Volk ihr Bündnis ausbauen. Wenn ein solches Bündnis zustande kommt, kann es ein großer Schritt zur Befreiung sein.

Das Problem des palästinensischen Volkes ist nicht erst heute entstanden. Es ist eine soziale und historische Frage. Deshalb hat unsere Bewegung in ihren Anfangsjahren das palästinensische Volk und seinen Kampf als Grundlage genommen. Sie fand diesen Kampf richtig, beteiligte sich daran und zahlte einen Preis dafür. Einer der Gründe für das internationale Komplott gegen unsere Bewegung ist die Beziehung, die wir zu den Palästinensern und Arabern aufgebaut haben. Das war seit dem Tag ihrer Gründung ein zentrales Anliegen unserer Bewegung. Wir haben uns mit ihrem Kampf einverstanden erklärt.

Ich möchte an dieser Stelle jedoch einige Punkte ansprechen. Die Methoden der Hamas sind nicht richtig, und sie sollten kritisiert werden. Aber das rechtfertigt nicht, die falschen Methoden der Hamas als Vorwand für Angriffe auf das palästinensische Volk zu benutzen. So falsch die Methoden der Hamas auch sind, so falsch sind auch die Angriffe auf das palästinensische Volk. Auf diese Weise wird die Situation niemals gelöst, sondern eher noch verschärft. Es wird neue Probleme in der Region verursachen. Das ist sehr gefährlich. Deshalb sollten das palästinensische und das jüdische Volk überlegen, wie sie als Geschwister leben können. Sie sollten nicht auf einem Nationalstaat bestehen, denn der Nationalstaat wird ihre Probleme niemals lösen. Im Gegenteil, er verschlimmert die Probleme von Tag zu Tag. Manche Leute sagen, die Lösung für Palästina sei ein Nationalstaat. Das ist nicht wahr. Auch diejenigen, die in der Region einen Nationalstaat haben, haben Probleme und werden aus ihrem Land vertrieben. Das ist also nicht die Lösung.

Die Lösung liegt im Paradigma von Rêber Apo [Abdullah Öcalan]. Die Entwicklung einer „demokratischen Nation" ist die Lösung und sollte als Grundlage genommen werden. Dann können sie ihre Probleme lösen. Das jüngste Beispiel dafür, dass der Nationalstaat keine Lösung ist, ist der armenisch-aserbaidschanische Krieg. Sie haben beide einen Staat, aber es gibt große Kriege und sogar Völkermord in ihren Gebieten. Das ist also keine Lösung. Die Lösung ist die Philosophie von Rêber Apo, das Paradigma, das er für die Menschheit entwickelt hat. Alle sollten es als Grundlage nehmen. Das ist der einzige Weg, die Probleme zu lösen.