KON-MED fordert Bundesregierung zum Handeln gegen Ankara auf

Die Türkei bricht in Nord- und Ostsyrien abermals das Völkerrecht – und die Welt schaut zu. Der kurdische Dachverband KON-MED fordert die Bundesregierung zum Handeln auf.

Die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V. (KON-MED) fordert die Bundesregierung zum Handeln gegen die Angriffe der Türkei in Nord- und Ostsyrien auf. „Erdogans Aggression gegen die basisdemokratische Selbstverwaltung ist Teil eines ideologischen Vernichtungsversuchs und zielt auf die Vertreibung der Bevölkerung“, erklärten Ruken Akça und Kerem Gök als die beiden Ko-Vorsitzenden des Dachverband kurdischer Vereine in Deutschland am Montag in einer Mitteilung. Die vollständige Erklärung lautet:

Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien: Türkei bombardiert zivile Infrastruktur!

Seit dem 4. Oktober 2023 bombardiert das NATO-Mitglied Türkei die zivile Infrastruktur auf dem Gebiet der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES), auch bekannt als Rojava. Diese Angriffe wurden vom türkischen Außenminister Hakan Fidan vor laufenden Kameras angekündigt. Fidan ist als ehemaliger und langjähriger Chef des türkischen Geheimdienstes „MIT“ verantwortlich für zahlreiche Morde an kurdischen Frauen, Zivilist:innen und kurdischen Kämpfer:innen sowie für unzählige Kriegsverbrechen in Kurdistan. Auch gilt er als ein maßgeblicher Akteur bei den Waffenlieferungen der Türkei an die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS).

Wenige Stunden nachdem Fidan die Kriegsverbrechen live im Fernsehen verkündet hatte, folgten die schwersten Angriffe der Türkei auf Nordsyrien seit langem. Die Folgen: Tote, Zerstörung, Vertreibung, Verletzte, Kriegstraumatisierte.

Bei den Angriffen wurden allein binnen 72 Stunden 172 Ziele bombardiert, darunter 24 Infrastrukturgebäude, 87 Wohngebäude, 24 militärische Einrichtungen, sechs landwirtschaftliche Betriebe, drei Fabriken, eine Schule und ein Krankenhaus. Ein Großteil der lebenswichtigen Infrastruktur der Region wurde innerhalb weniger Stunden beschädigt oder zerstört. Die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei haben bisher mindestens 47 Menschenleben gefordert, darunter auch Kinder. Da die Angriffe andauern, ist davon auszugehen, dass diese Zahl weiter steigen wird. Durch die Angriffe auf die größte Gasförderanlage der Region und Kraftwerke sind mehrere Millionen Menschen von der Gas- und Stromversorgung abgeschnitten - auch Krankenhäuser waren von Stromausfällen betroffen. In einigen Gebieten brach auch die Wasserversorgung zusammen.

Der Anschlag in Ankara am 1. Oktober ist dabei ein fadenscheiniger Vorwand der Türkei, um ihre anhaltenden Angriffe auf Rojava zu intensivieren und zu legitimieren. Dabei ist klar: Die tödlichen Angriffe der Türkei auf Rojava haben System und terrorisieren die Region seit Jahren! Nun begeht die Türkei erneut und für die Öffentlichkeit sichtbar Hand in Hand mit ihren islamistischen Verbündeten Kriegsverbrechen in Rojava, doch auch die Tatsache, dass Angriffe auf zivile Infrastruktur nach internationalem Recht Kriegsverbrechen darstellen und nicht zu rechtfertigen sind, scheint die Erdogan-Regierung nicht aufzuhalten. Denn Erdogan weiß um die langjährige Straflosigkeit der Türkei für Kriegsverbrechen in Kurdistan.

Die türkische Luftwaffe fliegt Angriffe auf Krankenhäuser und die Bundesregierung schweigt

Als Bundeskanzler Olaf Scholz vor wenigen Monaten auf der Sommerpressekonferenz in Berlin sagte, er hoffe auf eine Annäherung zwischen Deutschland und der Türkei, haben Kurd:innen bereits vorhergesagt, welche tödlichen Ausmaße die intensivierte Annäherung der Ampelregierung an die Türkei haben wird. Die Folgen spüren nun besonders diejenigen, die noch 2014 weltweit als Held:innen im Kampf gegen den IS gefeiert wurden: Die Menschen in Rojava. Erst vor wenigen Wochen traf sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit Hakan Fidan und sprach unter anderem über die Lage im Norden und Osten Syriens. Nun herrscht tödliches Schweigen in der deutschen Politik. Ein beschämender Kniefall vor Erdogan unter dem Deckmantel der „feministischen Außenpolitik“ Deutschlands. Wer lautstark „Jin, Jiyan, Azadî“ sagt, sollte zu den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei nicht schweigen!

Es ist nicht zu übersehen, dass die Türkei bei ihren Verbrechen durch das internationale Schweigen, politischen Beistand und durch schmutzige Waffendeals entscheidend unterstützt wird. Die große Ignoranz der internationalen Gemeinschaft und der Medien gegenüber den aktuellen Angriffen widerspricht jedoch faktisch jedem Ansatz, die Region politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren und nachhaltige und umfassende Sicherheit vor dem IS-Terror zu gewährleisten. Denn Fakt ist: Die Angriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien untergraben den Kampf gegen die Terrormiliz IS und begünstigen deren Reorganisation. Die Risiken einer Invasion durch die Türkei sind enorm und haben nicht nur lokale, sondern auch internationale Folgen.

Erdogans Aggression gegen die basisdemokratische Selbstverwaltung ist Teil eines ideologischen Vernichtungsversuchs und zielt auf die Vertreibung der Bevölkerung. Der Aufbau eines demokratischen, multireligiösen und multiethnischen Gesellschaftssystems ist eine permanente Provokation für die autoritäre türkische Regierung. Das pluralistische Modell in Nord- und Ostsyrien wird vom türkischen Staatspräsidenten letztlich als Hindernis für die lang ersehnte Errichtung eines neoosmanischen Reiches betrachtet. Aus Sicht Erdogans muss die Region daher mitsamt ihren fortschrittlichen Ideen zerstört, „ethnisch gesäubert“ und anschließend annektiert werden.

Betroffen von der türkischen Angriffswelle sind insbesondere folgende Regionen: Hesekê, Qamişlo, Amûdê, Til Temir, Dêrik, Kobanê, Tirbespiyê, Dirbêsiyê, Efrîn, Mişêrfa, Waşokanî, Girkê Legê, Çelebiyê und Şera. Die türkische Angriffswelle traf auch das kurdische UN-Geflüchtetenlager Mexmûr im Nordirak/Südkurdistan. Rund 13.000 Menschen, die dort seit den 1990er Jahren Zuflucht vor dem Staatsterror der Türkei in Nordkurdistan sowie dem IS-Terror gefunden haben, werden nun erneut vom NATO-Mitglied Türkei bombardiert. Die Kriegsverbrechen des türkischen Staates finden vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Die Augen davor zu verschließen, zu schweigen und nicht Stellung zu beziehen, ist Zustimmung für den Krieg. Die Öffnung des Luftraums für den türkischen Staat und die Duldung der Angriffe bedeutet, sich an den Angriffen zu beteiligen.

Solidarität in die Praxis umsetzen!

Weltweit gehen Menschen auf die Straße und protestieren in Solidarität mit den Menschen in Nord- und Ostsyrien. Auch die Bevölkerung vor Ort ist auf den Straßen und wehrt sich gegen den Terror der Türkei. Mit ihren Angriffen auf zivile Ziele bricht die Türkei abermals das Völkerrecht. Angesichts dieser Kriegsverbrechen muss die Bundesregierung sofort intervenieren, um weitere Angriffe zu verhindern. Wir betonen die Dringlichkeit der Solidarität mit den Menschen in der Region, die den abscheulichen Luftangriffen der Türkei ausgeliefert sind. Als kurdischer Dachverband KON-MED rufen wir dazu auf, die Angriffe der Türkei nicht unkommentiert zu lassen und aktiv Solidarität mit den Menschen in Rojava zu zeigen. Wir fordern ein sofortiges Ende der Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien sowie rechtliche Konsequenzen für die Türkei und internationale Unterstützung zur Durchsetzung der Schutzrechte der Menschen in der Region. Wir fordern eine klare Verurteilung dieser Verbrechen durch die Bundesregierung und ein Ende des Kuschelkurses mit dem türkischen Regime!


Titelbild zeigt das erstmals am 5. Oktober 2023 von der türkischen Luftwaffe bombardierte Umspannwerk im Industriegebiet von Qamişlo am nördlichen Stadtrand nahe des Bezirks Miselûn (ar. Maysalun) | Bildrechte: Rojava Information Center