Silo Dirboyan: Von den Weltmächten ist keine Lösung zu erwarten

Silo Dirboyan, Ko-Vorsitzender des Kurdistan-Komitees in Eriwan, beleuchtet den Hintergrund des Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien und sieht die Vorstellungen Öcalans als Lösungsmodell für die Probleme in der Region.

Silo Dirboyan ist Ko-Vorsitzender des Kurdistan-Komitees in Eriwan und hat sich gegenüber ANF zu dem Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien geäußert. „Mit der Auflösung der Sowjetunion haben maßgebliche Veränderungen in der Region stattgefunden“, sagt Dirboyan und hält fest:

„Zur Zeit der Sowjetunion haben unterschiedliche Völker und Glaubensgemeinschaften zusammengelebt. Ihre Rechte wurden in bestimmtem Ausmaß geschützt. Es gab keine Grenzen zwischen den Völkern. In dieser Region gab es ein gemeinsames Leben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjets sind viele Republiken gegründet und Grenzen gezogen worden. Dadurch wurde das nationalstaatliche Denken gefördert. Mit dieser Denkweise entstand Feindschaft zwischen den Völkern, die zu Konflikten zwischen den Völkern und Kriegen geführt hat.

Die Grundlage für den aktuellen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien wurde in dieser Zeit gelegt. Das Problem besteht seit über dreißig Jahren. Die Hauptursache dafür, dass es seit Jahren andauert und nicht gelöst werden kann, ist die nationalstaatliche Mentalität. Dieses Denken lebt davon, dass die Völker gegeneinander ausgespielt werden und sich bekämpfen.

Die Region Arzach (Bergkarabach), in der zurzeit Krieg herrscht, war in der Sowjet-Zeit nicht nur von Armeniern und Aserbaidschaner bewohnt. Auch eine große Anzahl Kurden lebte dort. Aufgrund ihrer hohen Anzahl sollten auch den Kurden die gleichen Rechte wie den anderen Völkern in der Sowjetunion zugesprochen werden und es gab den Versuch, das Rote Kurdistan (Kurdistana Sor) zu gründen, aber aus verschiedenen Gründen kam es nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Der Hauptgrund dafür waren die Staaten, die Kurdistan kolonialisiert haben, und das in der Region vorherrschende nationalstaatliche Denken. Bekanntlich ist in der Sowjet-Zeit in den vierziger Jahren die Mehrheit der Kurden, also die muslimischen Kurden, vertrieben worden. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den ausbrechenden Konflikten in der Region hat eine zweite Migrationsbewegung eingesetzt, so dass es heute fast keine Kurden mehr dort gibt.“

Was den aktuellen Krieg in Arzach anders macht

Die Problematik um Arzach dauere seit über dreißig Jahren an, unterstreicht Dirboyan: „Aus diesem Grund kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Der am 27. September begonnene Krieg unterscheidet sich jedoch in einem Punkt von den vorangegangenen: Er ist von der Türkei geplant und begonnen worden. Natürlich stehen noch andere Kräfte dahinter, dass die Türkei in diesen Krieg eingetreten ist, aber wesentlich ist die Vorstellung der faschistischen Regierung unter Erdoğan und Bahçeli von einer turanistischen Welt.

Bekanntlich hat die Türkei offiziell erklärt, vollständig an Aserbaidschans Seite zu stehen. Neben der militärischen Unterstützung sind dschihadistische Söldnergruppen für den Krieg nach Aserbaidschan geschickt worden. Diese Entwicklung findet in offener Form vor den Augen der Welt statt. Trotzdem schweigen die Weltmächte dazu. Hinter diesem Schweigen stehen die eigenen imperialistischen und kapitalistischen Vorstellungen und ihre Expansionspolitik. Selbstverständlich benutzen diese Mächte die Türkei bewusst zum eigenen Vorteil. Daneben versucht Erdoğan im eigenen Interesse davon zu profitieren. Dafür benutzt er seine Dschihadistengruppen und lässt sie ohne Skrupel überall angreifen.

Es handelt sich also nicht nur um einen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Bekanntlich findet zwischen den imperialistischen Weltmächten ein Aufteilungskrieg statt, der von den USA und Russland angeführt wird. Bekannt ist auch, dass beide Mächte die Türkei benutzen wollen. Wir wissen jedoch, dass die Türkei ein NATO-Staat ist und sich eher nach den Plänen der USA richtet. Die Intervention der Türkei im Kaukasus beruht zwar auf dem Turanismus, dient jedoch gleichzeitig dafür, dass die USA den Einfluss Russlands in der Region untergraben und selbst an Einfluss gewinnen. Das türkische Engagement ist das Ergebnis dieses Plans.

Auf der anderen Seite ist auch die Iran-Politik der USA bekannt. Wenn sich die Türkei als ein NATO-Staat mit sunnitischen Dschihadistengruppen im Kaukasus festsetzt, stellt das für den Iran eine Bedrohung dar. Der iranische Staat gerät dadurch in Bedrängnis. Bei einer möglichen Intervention gegen den Iran soll das Ausgangslage benutzt werden.“

Nicht umgesetzter Waffenstillstand

Zum russischen Engagement für einen Waffenstillstand in Arzach erklärt Silo Dirboyan: „Russland hat Vertreter beider Seiten in Moskau zusammengebracht und als Ergebnis ist eine begrenzte Waffenruhe vereinbart worden. Diese Vereinbarung ist jedoch nicht in die Praxis umgesetzt worden. Der Hauptgrund dafür ist die Haltung des türkischen Staats. Die Türkei wollte mit am Verhandlungstisch sitzen und als das nicht klappte, hat sie die Vereinbarung ins Leere laufen und den Krieg fortsetzen lassen. Im Moment sieht es so aus, als ob sich das Problem und der Krieg noch lange hinziehen werden.“

Zusammenhang mit den Angriffen auf die HDP

Dirboyan verweist auch auf die Repression gegen die HDP in der Türkei: „Der Angriff auf die HDP und die Intervention des türkischen Staates im Kaukasus können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Die HDP ist die einzige Kraft, die gegen das faschistische Regime von Erdoğan und Bahçeli und die türkische Expansionspolitik kämpft. Der türkische Staat sieht die HDP als Hindernis für seine Politik im In- und Ausland und will ihren Einfluss mit seinen Angriffen brechen.“

Probleme im Mittleren Osten können mit Öcalan gelöst werden

Zu einer möglichen Lösung sagt der Ko-Vorsitzende des Kurdistan-Komitees: „Der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien und damit zusammenhängend die Arzach-Frage können nicht losgelöst von den Problemen im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt behandelt werden, es besteht ein Zusammenhang. Die imperialistisch-kapitalistischen Kräfte können diese Probleme nicht lösen. Ohnehin sind die bestehenden Probleme von diesen Kräften geplant entfacht worden, damit sie ihre Expansionspolitik umsetzen können. Der Expansionismus erfordert es, dass die Völker gegeneinander aufgehetzt werden und sich bekämpfen. Es müssen immer Konflikte unter den Völkern herrschen. Daher ist von diesen Kräften keine Lösung zu erwarten.

Für einen dauerhaften Frieden und ein demokratisches Zusammenleben der Völker gibt es nur einen Lösungsweg. Diesen Lösungsvorschlag hat Abdullah Öcalan aufgezeigt. Mit seinem Projekt einer demokratischen Gesellschaft kann die brutale Politik des imperialistisch-kapitalistischen Systems unterlaufen werden und es kann eine Welt der Völker entstehen. Die Frage, warum ein internationales Komplott gegen Öcalan geschmiedet wurde, muss unter diesem Gesichtspunkt angegangen werden. Also müssen sich das kurdische Volk und die Völker der Region auf der Grundlage von Abdullah Öcalans Paradigma vereinen und sie müssen aktiv für seine Freiheit kämpfen.“

Gemeinsamer Feind Türkei

Abschließend sagt Silo Dirboyan: „Der aktuelle Krieg hat gezeigt, dass der faschistische türkische Staat der gemeinsame Feind des armenischen und des kurdischen Volkes ist. In diesem Bewusstsein müssen sich die beiden Völker die Hand reichen und ihre Freundschaft weiterentwickeln. Der momentane Krieg ist nicht im Interesse der Völker. Er dient den Mächten, die die Völker für ihre imperialistische Politik benutzen, und der turanistischen Politik des türkischen Staates. Als kurdische Organisation in Armenien sind wir der Meinung, dass dieser Krieg gestoppt und die Probleme über einen Dialog gelöst werden müssen.“