Der aserbaidschanisch-türkische Eroberungskrieg gegen die vor allem von Armenier*innen bewohnte Region Arzach (Bergkarabach) tobt seit einer Woche in aller Heftigkeit. Die Türkei hat ein Söldnerheer aufgebaut, das aus Syrien und Libyen in die umkämpfte Region gebracht wurde. Der Vorsitzende der kurdischen Gemeinde in Armenien, Kinyazê Hemîd, betont, dass Arzach eine armenisch besiedelte Region ist und Aserbaidschan darauf abziele, die angestammte Bevölkerung zu vertreiben. Hemîd ist einer von zwei kurdischen Abgeordneten der armenischen Nationalversammlung in Eriwan. Mit einer Verfassungsänderung von 2015 wurden Quoten für Vertreter*innen von allen Volksgruppen in Armenien eingeräumt. In diesem Rahmen wurden mit Kinyazê Hemîd und Rostem Maxmûdyan zwei Kurden auf der Liste der regierenden Volkspartei ins Parlament entsandt.
Türkei hat die Kämpfe angefacht
„Die Bevölkerung von Arzach hat bereits vor der Unabhängigkeitserklärung von Armenien im Jahr 1991 deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht länger unter aserbaidschanischer Herrschaft stehen will“, erklärt Hemîd. Begonnen hatte dieser Konflikt 1987, als die armenische Bevölkerung der „Autonomen Oblast Bergkarabach“, wie die damals innerhalb der Grenzen der Aserbaidschanischen SSR liegende Republik Arzach hieß, den Anschluss an Armenien forderte. Begründet wurden die Forderung mit eklatanten Verletzungen der kulturellen und politischen Rechte und dem Bemühen der Regierung in Baku, die Oblast Bergkarabach von Armenien zu isolieren und durch eine massive aserbaidschanische Immigration die Armenier*innen zur Minderheit im eigenen Land zu machen. Die Forderungen aus Stepanakert fanden in Armenien ein breites Echo.
Seit 1988 herrschte mit variierender Intensität Krieg um Arzach und die Grenzregionen. Immer wieder blockierte Aserbaidschan die Versorgungswege nach Armenien. Wiederholt wurden Dörfer und Städte beschossen, Menschen wurden vertrieben oder getötet. Es kam zu Pogromen, Mitte Januar 1990 verließen rund 250.000 und damit praktisch alle in Baku lebenden Armenier*innen die aserbaidschanische Hauptstadt und flüchteten nach Russland, Georgien, Bergkarabach und Armenien. Am 30. August 1991 erklärte Aserbaidschan die Wiederherstellung seiner staatlichen Unabhängigkeit. Das bedeutete de facto den Austritt aus der UdSSR. Daraufhin optierten die Bezirksparlamente Bergkarabachs und des nördlich gelegenen Bezirks Schahumian gemäß Artikel 72 der sowjetischen Verfassung für den Austritt aus Aserbaidschan, als sie am 2. September 1991 die Republik Bergkarabach ausriefen. Die Bevölkerung dort bestätigte diesen Schritt in einem Referendum am 10. Dezember 1991. Da hatte der Krieg zwischen Aserbaidschan und den Armeniern längst begonnen. Bereits am 25. September 1991 bombardierte die aserbaidschanische Luftwaffe erstmals Stepanakert. Von Schuschi aus beschossen aserbaidschanische Truppen das 600 Meter tiefer gelegene Stepanakert mit Tausenden von Raketen, bis Schuschi im Mai 1992 von armenischen Kräften eingenommen wurde.
An den damaligen Konflikt erinnert sich Kinyazê Hemîd noch gut. „Es waren insgesamt fünf oder sechs Siedlungen, die damit an Armenien übergingen. Seither sind dreißig Jahre vergangen. In dieser Zeit haben Russland, Frankreich und die USA verschiedene Konferenzen durchgeführt und die Kämpfe wurden gestoppt. Obwohl Aserbaidschan immer wieder Angriffe startete, wurde eine Ausweitung des Konflikts jedes Mal verhindert. Das ging bis etwa vor einem Monat. Hinter den jüngsten Entwicklungen steckte wie immer die Türkei. Die Türkei spielt permanent die Rolle des Kriegstreibers. Sie hatte als vorbereitende Kriegsmaßnahme in der Region Truppen zusammengezogen und intensive Kriegshetze betrieben. Am 27. September startete sie mit ihren Söldnertruppen den Angriff. Die Kämpfe dauern nun seit Tagen an und Armenien verteidigt sich, erwidert die Attacken. Dieser Krieg bedeutet großes Leid für die Völker von Armenien und Aserbaidschan, denn der Krieg wird mit hoher Intensität geführt“, sagt Hemîd.
„Russland hat noch keine Position bezogen“
Zur Position Russlands sagt der kurdische Politiker: „In der Machtbalance der Region spielt Russland eine wichtige Rolle. Länder wie Georgien, Aserbaidschan, Armenien, Kirgisien und Kasachstan haben enge Bindungen an Russland. Wenn es innerhalb oder außerhalb dieser Länder Konflikte gibt, muss Moskau etwas unternehmen. Der Krieg hier dauert nun schon seit Tagen an, aber abgesehen von einer einzigen Erklärung, in der der russische Außenminister ein Ende des Krieges forderte, ist rein gar nichts geschehen. Der armenische Staatschef hat mit Putin telefoniert und über die Probleme angesichts des Krieges gesprochen, aber es wird offensichtlich nichts unternommen. Wir werden in den vor uns liegenden Tagen sehen, welchen Ansatz Russland für eine Lösung verfolgt, oder ob Russland überhaupt über einen solchen verfügt.“
Die Erklärungen Russlands, Frankreichs und anderer Staaten, der Konflikt um Arzach könne nicht durch Krieg gelöst werden, kommentiert Hemîd mit den Worten: „Wir sehen das genauso. Die Arzach-Frage kann nicht durch Krieg gelöst werden, aber es ist auch eine Tatsache, dass Worte hier allein keine Lösung bringen. Ich kann sagen, wir haben noch nichts von Russland gesehen. Moskau verhält sich vollkommen passiv.“
„Das Rote Kurdistan soll besetzt werden“
Hemîd erinnert daran, dass zur Zeit Lenins das Gebiet zwischen Arzach, Bergkarabach und dem armenischen Sjunik als das „Rote Kurdistan“ bezeichnet wurde. Sechs Jahre lang, von 1923 bis 1929, konnte die autonome Provinz in der ehemaligen UdSSR bestehen. Durch einen Beschluss des aserbaidschanischen Sowjetkongresses wurde Kurdistana Sor aufgelöst. „So wurden Städte und Dörfer unter die Herrschaft Aserbaidschans gebracht und blieben es auch. Wir können aber nicht sagen, dass es heute viele Kurden in Aserbaidschan gibt, denn sie wurden von der aserbaidschanischen Regierung assimiliert. Eventuell können einige von ihnen auf Aserbaidschanisch Men Kürdüm („Ich bin Kurde/Kurdin“) sagen, aber ihre Identität ist weder in ihren Ausweisen noch in sonst irgendeinem offiziellen Kontext anerkannt. Sie werden alle als Azeri bezeichnet. Die Mehrheit hat ihre Sprache vergessen und ist assimiliert.
In Armenien geschieht genau das Gegenteil, denn hier wird die kurdische Sprache und Kultur geschützt. Sogar zu Sowjetzeiten gab es in Armenien etliche kurdische Institutionen, die bis heute fortdauern. Die kurdischen Kinder erhalten ihre gesamte Bildung in ihrer eigenen Muttersprache. Kurden ziehen auch als Soldaten in den aktuellen Krieg. Das tun sie auf eigenen Wunsch, weil sie Armenien als ihr Land betrachten. In Aserbaidschan ziehen die assimilierten Kurden vielleicht ebenfalls in den gleichen Krieg, vielleicht töten sie sich sogar gegenseitig, ohne sich zu kennen. Sowohl die armenische als auch die aserbaidschanische Regierung dürfen das nicht zu lassen. Aber es sieht so aus, als sei es beiden Seiten recht, wenn Kurden auf ihrer Seite in den Krieg ziehen“, sagt Kinyazê Hemîd.
„Die Türkei will ihre turanistische Ideologie verbreiten“
Jedes Mal, wenn Erdoğan nach Aserbaidschan komme, sage er: „Wir sind eine Nation, ein Vaterland, haben eine Sprache und einen Glauben.“ So wolle er den Turanismus weiterverbreiten, glaubt der kurdische Abgeordnete. „In jedem Land, in dem eine Turksprache gesprochen wird, verbreitet Erdoğan Turanismus. Er hat dies insbesondere in den letzten Jahren immer stärker betrieben. Er will es überall wie in Syrien und dem Irak machen. Der türkische Staatschef hat Efrin besetzen lassen und Kurden ermordet. Die Ideologie dazu ist der Turanismus und der Neoosmanismus. Jetzt stellt er sich selbst als Aserbaidschaner dar, oder genauer, er sagt, es gibt keine Aserbaidschaner, sie seien eigentlich Türken. Und so will er Arzach besetzen. Aber Arzach gehört nicht zu Aserbaidschan, sondern ist ein Teil Armeniens. Seit 30 Tagen wird die Region Arzach in jeder Hinsicht von Armenien versorgt. Alles in Arzach kommt aus Armenien. Es gibt keinen Unterschied zwischen Armenien und Arzach. Daher sehen sich alle Menschen in Arzach als Armenier und bringen immer wieder zur Sprache, wie zufrieden sie damit sind.“