Seit 2014 tobt in Libyen ein Stellvertreterkrieg. Auf der Seite von General Chalifa Haftars Libyscher Nationalarmee (LNA) ziehen Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate die Fäden, während die islamistische Muslimbruder-Regierung von der Türkei, Italien und Katar unterstützt wird. In den letzten Monaten wurden die Allianzen hinter den Mächten immer deutlicher. Der LNA war es Ende 2019 gelungen, die von den Muslimbrüdern angeführte „Regierung der Nationalen Einheit“ (GNA) in Tripolis und Misrata einzuschließen. Die Türkei schickte daraufhin große Mengen an Drohnen, Soldaten und dschihadistische Söldner aus Syrien nach Libyen. Die GNA konnte den Vormarsch der LNA im Mai stoppen und begann allmählich mit türkischer Unterstützung, Stellungen zurückzuerobern. Die LNA zog sich in vielen Bereichen ohne ernsthaften Widerstand zurück.
Die Haltung der NATO und der USA haben die Richtung des Krieges geändert
Der Wechsel im Verlauf des Krieges hat verschiedene Ursachen. Am 14. Mai verkündete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Nordatlantikpakt sei zur Unterstützung der GNA bereit. Die USA drückten auf verschiedenen Ebenen ihre Unzufriedenheit mit den russischen Aktivitäten in Libyen aus. Die Türkei zählt Libyen zu ihrem „osmanischen Erbe“ und schickte daher tausende Salafisten und Muslimbrüder-Milizionäre in die Region.
Ägypten ruft zum Waffenstillstand auf
Damit wurde aber wiederum Ägypten, die größte Regionalmacht in Nordafrika, in Alarmbereitschaft versetzt. Der ägyptische Präsident Abd al-Fatah al-Sisi empfing vergangene Woche den LNA-Kommandanten General Haftar und den Parlamentspräsidenten der LNA-Regierung, Akile Salih, in Kairo. Im Anschluss an das Gespräch wurde die Kairoer Erklärung veröffentlicht, mit der ein Waffenstillstand und Verhandlungen unter UN-Aufsicht gefordert werden.
Sarradsch in Ankara
Am gleichen Tag besuchte der islamistische Regierungschef der GNA, Fayyiz as-Sarradsch, den türkischen Regimechef Recep Tayyip Erdoğan in Ankara. Während international breite Unterstützung für die Erklärung von Kairo geäußert wurde, erklärten die Türkei, Katar und die GNA, sie würden die Forderung nach Verhandlungen und einem Waffenstillstand nicht akzeptieren.
„Libyen-Konflikt ist Teil des Krieges um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum“
Wir haben mit dem Ägypten-Vertreter des Demokratischen Syrienrats (MSD), Sihanok Dibo, über den Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen gesprochen. Dibo führt aus: „Die Intervention der Türkei ist nicht nur auf Libyen beschränkt. Es geht hier um eine militärische, politische, ökonomische und ideologische Intervention in ganz Nordafrika. Dies ist auch ein Teil des Krieges um die Herrschaft über das Mittelmeer.“ Vor dem Hintergrund der Aufteilung des Mittelmeers zwischen Sarradsch und Erdoğan sagt Dibo, dass der türkische Expansionismus nicht nur von Ägypten als Bedrohung wahrgenommen werde, und spielt dabei unter anderem auf Griechenland an.
„Die Kairo-Erklärung genießt breite Unterstützung“
Dibo fährt fort: „Ägypten sieht in der Intervention der Türkei in der Region und ihren Versuchen, das Projekt der Muslimbruderschaft wiederzubeleben, eine große Bedrohung. Vor wenigen Tagen gab es die Erklärung von Kairo. Das war nicht nur ein Appell an Haftar. Er ging an alle Parteien. Der Appell genoss breite internationale Unterstützung. Aber die Türkei und Katar stellten sich dagegen.“
Ägyptische Intervention nicht unmöglich
Ägypten zieht Truppen an der libyschen Grenze zusammen. Gefragt nach der Möglichkeit einer ägyptischen Intervention sagt Dibo: „Nach unseren Beobachtungen in Bezug auf die ägyptische Öffentlichkeit und aufgrund unserer Treffen mit ägyptischen Regierungsvertretern ist es noch zu früh, um von einer militärischen Intervention Ägyptens in Libyen zu sprechen. Ägypten wird weiterhin einen Schwerpunkt auf den politischen Prozess legen. Die Kairoer Erklärung hat ja ohnehin schon breite Unterstützung bei den arabischen Staaten, der EU und Russland. Ägypten wird die politischen Kanäle bemühen. Aber wenn der türkische Staat und die Muslimbruder-Regierung auf Krieg bestehen, kann das auch zu anderen Konsequenzen führen. Eine davon ist ein Krieg.“
„Türkischer Staat erinnert heute an die Endphase des Osmanischen Reiches“
Die Politik des türkischen Staates erinnere aktuellen an die Endphase des Osmanischen Reiches, so Dibo. Es lohne sich an den Jahrestag von Lausanne zu erinnern. „Welche Richtung wird der türkische Staat einschlagen? Das ist an diesem Punkt die entscheidende Frage.“
„Ägypten war der erste Schlag gegen das Muslimbruderprojekt der Türkei“
Dibo beschreibt den Sturz des Muslimbruders Mursi in Ägypten als ersten Schlag gegen die neoosmanischen Ambitionen der Türkei. Damit sei der Expansionismus der Türkei in Nordafrika gestoppt worden und das Projekt an sich wurde eigentlich obsolet. Dibo analysiert: „Aber die Türkei und ihr Partner Katar ließen nicht von ihren Ambitionen ab. Heute versuchen sie dieses Projekt in Libyen, Tunesien, dem Sudan, Somalia und im Jemen zu realisieren. Auf diese Weise wollen sie Ägypten einkreisen. Das weiß Ägypten sehr genau.“
„Ägypten betrachtet autonome Gebiete in Libyen als Lösungsansatz“
Gefragt nach dem Hintergrund der gleichzeitigen Treffen zwischen Haftar und Sisi in Ägypten und Sarradsch und Erdoğan in Ankara, sagt Dibo: „Es wird schwer sein, Libyen unter eine Regierung zu stellen. In der Erklärung von Kairo ist ein Appell an die Parteien enthalten, Autonomiezonen aufzubauen und in einem gemeinsamen Parlament zusammenzukommen. Auf diese Weise könnte eine Lösung entwickelt werden.“
„Wir sehen den Konföderalismus als Lösung für die ganze Region“
Dibo betont, dass der aufgezwungene Nationalstaat die Ursache der aktuellen Krisen in Afrika und im Mitteleren Osten sei. Er sagt, er sehe die Lösung im Modell des Demokratischen Konföderalismus auf der Grundlage der Demokratischen Nation.