Sebahat Tuncel: Wir sind wütend!

Nach teils langen Jahren im Gefängnis auf Grundlage des „Kobanê-Verfahrens“ sind Gültan Kışanak, Ayla Akat Ata, Meryem Adıbelli, Ayşe Yağcı und Sebahat Tuncel wieder frei. Wirklich in Freiheit fühlen sie sich aber nicht.

Inhaftierte Frauen freigelassen

Nach teils langen Jahren im Gefängnis sind Gültan Kışanak, Sebahat Tuncel, Ayla Akat Ata, Meryem Adıbelli und Ayşe Yağcı wieder frei – zumindest vorerst. Die kurdischen Politikerinnen wurden am Donnerstag in dem als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess gegen den ehemaligen HDP-Vorstand und weitere Oppositionelle zu verschieden hohen Haftstrafen verurteilt, jedoch unter Anrechnung ihrer langen Untersuchungshaft freigelassen. Kışanak, die bis zu ihrer Verhaftung im Oktober 2016 Oberbürgermeisterin von Amed (tr. Diyarbakır) war, konnte am Abend das Hochsicherheitsgefängnis in Kocaeli verlassen. Ihre vier Parteigängerinnen wurden vor dem Frauengefängnis Sincan in Empfang genommen.

Tuncel: Bestraft wurde die Solidarität mit Kobanê

„Wir sind wütend“, sagte Tuncel in einer Ansprache, nachdem sich der Applaus, das Trillern und die „Jin Jiyan Azadî“-Rufe der Menschenmenge, die sich vor der Vollzugsanstalt versammelt hatte, darunter zahlreiche Persönlichkeiten politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen und der Frauenbewegung, wieder legte. „Denn verurteilt wurden nicht wir, sondern die Solidarität. Bestraft wurde die Verbundenheit mit Kobanê und dem kurdischen Volk. Die Botschaft dahinter ist eindeutig: In der kurdischen Frage gilt nach wie vor keine Lösungsperspektive, sondern das Beharren auf Krieg und Konflikt.“

Sebahat Tuncel (l.) ist die erste Abgeordnete in der Geschichte der Türkei, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann. Das war bei der Parlamentswahl im Jahr 2007 

Zwischen 2013 und 2015 hatte es Gespräche zwischen der PKK und dem türkischen Staat gegeben, die das Ziel verfolgten, eine demokratische Lösung der kurdischen Frage zu erarbeiten. Die HDP war Vermittlerin in diesem Prozess. Am 24. Juli 2015 wurde die Phase des Dialogs zwischen Ankara und der kurdischen Befreiungsbewegung mit der Bombardierung der Qendîl-Berge in Südkurdistan durch die türkische Luftwaffe offiziell für beendet erklärt. Mit dem einseitigen Abbruch des Dialogprozesses begann ein Vernichtungskrieg gegen das kurdische Volk.

Putsch-Mechanismus statt Judikative in Kraft

„Seither ist die Gewaltenteilung in der Türkei praktisch aufgehoben und die Justiz ist der Exekutive unterworfen. Ich sage Justiz, gemeint ist aber eine Art Putsch-Mechanismus, der anstelle der Judikative in Kraft ist“, erklärte Tuncel. Die Politikerin warnte davor, dass dieses Gebilde nicht nur Kurdinnen und Kurden, sondern die gesamte Gesellschaft der Türkei in einen dauerhaften Klammergriff nehmen werde, aus dem man nur schwerlich entkommen könne. „Es sind nur leere Worte, wenn die Regierung von ‚Normalisierung‘ spricht, jedoch im selben Atemzug Kurd:innen und Sozialist:innen, die gegen Krieg sind, bestraft. Aus diesem Grund werden wir unseren Kampf für Freiheit, Frieden und Demokratie weiter stärken. Wir werden unsere Wut in den Widerstand kanalisieren und unsere Organisierung vorantreiben, damit wir erfolgreich sind. Erstrangiges Ziel sollte sein, die Isolation in den Gefängnissen zu durchbrechen, gerade in Imrali. Denn dort wird der Schlüssel zur Lösung für Frieden und damit die Hoffnung von Millionen Menschen auf Freiheit festgehalten.“

Gültan Kışanak wurde ebenfalls von zahlreichen Menschen in Freiheit begrüßt

Kışanak: Kobanê-Verfahren ist ein Komplott

Auch Gültan Kışanak zeigte sich betrübt über ihre Freilassung. „Solange meine Freundinnen und Freunde nicht frei sind, bin auch ich nicht frei“, sagte die 62-Jährige, die etwa zeitgleich mit Tuncel verhaftet worden war, und bezeichnete das Kobanê-Verfahren als Komplott. „Es ist ohnehin unwichtig, ob man im Gefängnis ist oder nicht. Wenn Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit abwesend sind, schmeckt selbst die Luft außerhalb der Gefängnismauern nicht. Wir wünschen uns ein Land, in dem alle Frauen, Identitäten, Glaubensgemeinschaften und Sprachen frei sind. Und dafür kämpfen wir.“