Sassoli: Tötungen von Zivilisten sind Kriegsverbrechen
Marco Sassoli, ein Experte für humanitäres Völkerrecht, erklärt im ANF-Interview, dass die Türkei in Nord- und Ostsyrien völkerrechtswidrig handelt.
Marco Sassoli, ein Experte für humanitäres Völkerrecht, erklärt im ANF-Interview, dass die Türkei in Nord- und Ostsyrien völkerrechtswidrig handelt.
Während die Besatzungsangriffe des türkischen Staates auf Nordostsyrien andauern, weisen verschiedene Institutionen, insbesondere die Autonomieverwaltung, darauf hin, dass der türkische Staat und seine Söldnertruppen für Kriegsverbrechen verantwortlich sind.
Marco Sassòli ist Direktor der Genfer Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte und Professor für Völkerrecht an der Rechtsfakultät der Universität Genf. Er ist Kommissar der Internationalen Kommission der Juristen (IGH) und Sonderberater bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs. Im ANF-Interview hat sich Marco Sassoli über das Vorgehen des türkischen Staates und die Verletzung des Völkerrechts in Nordostsyrien geäußert.
Die Türkei führt seit über einem Monat militärische Angriffe gegen Nordostsyrien durch. Glauben Sie, dass die Türkei gegen das Völkerrecht verstoßen hat?
Ja, darüber besteht bereits ein allgemeiner Konsens. Die Türkei handelt völkerrechtswidrig. So haben beispielsweise die Schweiz und die Europäische Union erklärt, dass die Türkei diese militärischen Operationen in einer Weise durchführt, die mit dem Recht auf legitime Gewaltanwendung unvereinbar ist.
Die Türkei sagte, dass diese Operationen ein Akt der Selbstverteidigung (légitime défense) sind, aber nicht beweisen konnten, dass es eine Verletzung oder Angriffe kurdischer Gruppen von der nordostsyrischen Grenze aus gegeben hat. Natürlich ist das Völkerrecht staatszentriert (Schutz des Staates), und bisher hat der syrische Staat diesen Angriff nicht genehmigt und lehnt ihn sogar ab. Das Überschreiten der Grenzen eines anderen Landes ist eine klare Verletzung des Völkerrechts.
Viele Zivilisten wurden getötet und Hunderttausende von Menschen wurden vertrieben. Amnesty International und weitere internationale Institutionen haben in ihren Berichten auf Kriegsverbrechen hingewiesen. Wie kann man diese Situation einschätzen?
Ich weiß nicht viel über die Geschehnisse vor Ort, und wenn es zivile Massaker und Vertreibungen gab, dann ist das ein schwerer Verstoß gegen die Genfer Konventionen. Die Pflicht liegt bei allen Staaten, denn alle Staaten sind verpflichtet, diese Konventionen zu schützen und sich denen zu widersetzen, die sie verletzen.
Werden diese Verbrechen identifiziert und nachgewiesen, sind die Staaten verpflichtet, den Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Wenn beispielsweise ein türkischer General, der für diese Verbrechen verantwortlich ist, aus irgendeinem Grund in die Schweiz kommt, hat der Schweizer Staatsanwalt die Verantwortung, Ermittlungen gegen diese Person einzuleiten.
In der Praxis ist dies leider nicht der Fall. Befindet sich der Verdächtige jedoch in der Schweiz oder in Deutschland, können die zuständigen Staatsanwälte dieser Länder ihn verhaften lassen, wenn sie über ausreichende Informationen und Beweise verfügen.
Die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Carla Del Ponte, sagte, der türkische Staat und Präsident Erdoğan hätten Kriegsverbrechen in Nordostsyrien begangen und sollten vor Gericht gestellt werden. Wie bewerten Sie das, gibt es eine Möglichkeit für einen solchen Schritt?
Nicht nur der türkische Staat hat Kriegsverbrechen begangen, auch der IS und das syrische Regime sind für Kriegsverbrechen verantwortlich. Aber es ist eine Tatsache, dass wir es in dieser letzten Phase hier sehen. Die Türkei ist dort für Kriegsverbrechen verantwortlich. Aber das Wichtigste ist nicht nur die Feststellung, ob die Türkei Kriegsverbrechen begangen hat oder nicht, sondern es ist wichtig, die Türkei dafür zur Rechenschaft zu ziehen.
In einem solchen internationalen Konflikt sollte die Türkei das Rote Kreuz in das Gebiet einreisen lassen und überprüfen, was in der Region passiert ist, Informationen über Verbrechen sammeln und Inspektionen durchführen. Aber soweit ich weiß, gewährt die Türkei dem Roten Kreuz keinen Zugang zu diesem Gebiet.
Inwieweit ist es also notwendig, sich mit Zwangsvertreibung und zivilen Massakern auseinanderzusetzen, und kommt hier nicht das Besatzungsrecht ins Spiel?
Zwangsvertreibung ist verboten, auch im Besatzungsrecht. Wir können jedoch bei allen, die migriert sind, von gewaltsamer Vertreibung sprechen, weil einige dieser Menschen beschlossen haben, zu gehen, um nicht unter türkischer Besatzung zu leben oder Angst vor bewaffneten Auseinandersetzungen haben. Wichtig ist dabei, ob die Menschen zur Migration gezwungen wurden. Letztendlich stehen einige Gebiete heute unter der Kontrolle der Türkei oder verbündeter Gruppen und das zeigt, dass es sich um eine Besatzung handelt. Die Türkei müsste dann das Besatzungsrecht anwenden. Es ist strengstens verboten, Zivilisten, Kriegsgefangene, aus welchem Grund auch immer, zu töten; all dies verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht und ist ein Kriegsverbrechen.
Sie haben die Genfer Konventionen erwähnt. Ist der Krieg der Türkei auf dem Territorium Syriens nicht durch diese Konventionen verboten?
Die Genfer Konventionen gelten während der Zeit der bewaffneten Konflikte, verbieten aber keine bewaffneten Konflikte. Die UN-Charta verbietet bewaffnete Konflikte, weil die UNO verpflichtet ist, den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu schützen.
Die UN-Charta erkennt auch das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung an. Ich denke, dass das kurdische Volk heute das größte Volk ist, das an der Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung gehindert wird. Die UN-Charta betrifft auch das Recht auf Gewaltanwendung. Aber die Genfer Konventionen befassen sich mit den Kräften, die in Konfliktzonen eingesetzt werden, und der Frage, ob diese legal sind.
Das Völkerrecht definiert es als Besatzung, wenn ein Land das Gebiet eines anderen Landes gewaltsam kontrolliert. Obwohl die Besatzung nicht durch das humanitäre Recht verboten ist, muss die Besatzungsmacht die 4. Genfer Konvention respektieren und anwenden. Diese Konventionen verbieten beispielsweise die Vertreibung von Menschen aus den besetzten Gebieten. Die Rechte der Menschen in Besatzungszonen sind gesetzlich garantiert.
Nach dem Besatzungsrecht kann die Türkei keine Menschen aus dem eigenen Land in der besetzten Region ansiedeln. Um sich an das Völkerrecht zu halten, argumentiert die Türkei damit, dass sie syrische Flüchtlinge dort unterbringen will.
Wie sollte also mit dem demografischen Wandel in der eingedrungenen Region umgegangen werden?
Ist dies der Fall, ist es verboten und stellt eine Straftat dar. Ich habe keine Kenntnis von einem solchen Projekt der Türkei. Das Völkerrecht verbietet die Ansiedelung von Nicht-Staatsangehörigen in einem Land, in diesem Fall Syrien. Wenn zum Beispiel Araber in dieser Region angesiedelt werden sollen, sollte man sich den Grund ansehen, warum diese Menschen dorthin gebracht werden. Wenn es darum geht, Menschen aus anderen Teilen Syriens anzusiedeln, dann kommt nicht das Völkerrecht, sondern das innerstaatliche Recht Syriens ins Spiel.
Wenn die Menschen, die in der eingedrungenen Region angesiedelt werden sollen, nicht freiwillig kommen, oder wenn die Türkei die Häuser der einheimischen Bevölkerung beschlagnahmt und die Menschen, die sie an ihrer Stelle haben will, ansiedelt, ist dies ein strenger Verstoß, der die Ausweisung der lokalen Bevölkerung aus ihrem Land bedeutet.
Auch hier bedeutet die Zerstörung oder Beschlagnahme von Wohnhäusern in den Einzugsgebieten und die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung einen klaren Verstoß der Türkei gegen die Genfer Konventionen, die die Türkei bewahren und respektieren muss. An dieser Stelle kommt die Verantwortung aller Staaten wieder zur Sprache.
Die Kurden sprechen von einer ethnischen Säuberung durch den türkischen Staat. Hat ethnische Säuberung eine rechtliche Definition?
Das Völkerrecht hat keinen Artikel mit dem Titel ethnische Säuberung, aber die nach dem humanitären Recht verbotenen Verbrechen könnten in diesem Bereich bewertet werden. So werden beispielsweise Verbrechen wie die Zerstörung von Häusern, die Vertreibung von Menschen, Hinrichtungen und Vergewaltigungen unter dem Begriff der ethnischen Säuberung behandelt. Es gibt keinen besonderen Artikel über ethnische Säuberungen, da ein solcher Fall nicht vorliegt.
Warum schweigt die internationale Gemeinschaft, die für die Einhaltung des humanitären Rechts und der Genfer Konventionen verantwortlich ist, über die genannten Verstöße?
Dies ist ein Problem des Völkerrechts, dessen Umsetzung vom Wunsch der Staaten abhängt. Ich kann sagen, dass es kein Schweigen, sondern nur Heuchelei gibt. Viele Staaten kritisieren die Türkei wegen ihrer Verletzung des Völkerrechts, aber sie setzen schließlich ihre Beziehungen zur Türkei fort. So empfangen beispielsweise die USA, die die Offensive der Türkei kritisiert haben, Erdoğan im Weißen Haus.
Ebenso kritisierten auch Deutschland und Frankreich die Türkei, sprachen aber weder eine Verwarnung aus noch leiteten sie ein juristisches Verfahren wegen der Verletzung der Genfer Konventionen ein. In Anbetracht der Verpflichtung jedes Staates, die Genfer Konventionen zu respektieren und einzuhalten, muss jeder Staat die Türkei zwingen, das Völkerrecht in den Ländern zu respektieren, in die er eingedrungen ist. Kein Staat nimmt jedoch aus politischen Gründen und der Drohung von Erdoğan, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, seine Verantwortung in dieser Hinsicht wahr.
Welche Verantwortung trägt der UN-Sicherheitsrat im Hinblick auf diese Invasion?
Der UN-Sicherheitsrat ist verpflichtet, die internationale Sicherheit und die Erreichung des Friedens zu wahren. Aus diesem Grund ist er verpflichtet, die Türkei aus Syrien zu vertreiben. An dieser Stelle gibt es noch ein weiteres Problem. Durch ihre Doppelpolitik erhält die Türkei sowohl von Russland als auch von den USA Unterstützung und erlaubt es daher nicht, gegen sich selbst eine Resolution zu verabschieden. Was auch immer die Folgen sein mögen, der UN-Sicherheitsrat ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sich die Türkei aus syrischem Gebiet zurückzieht.
Zu den von Ihnen erwähnten Kriegsverbrechen: Wie und von wem könnten die Täter vor Gericht gestellt werden oder welche Behörden könnten dafür angeklagt werden?
Es kommt darauf an, eine Unterscheidung zwischen den Administratoren von Erdoğan vorzunehmen. So darf beispielsweise ein Minister als Staatsbeamter während der Teilnahme an einer Konferenz in Genf nicht verhaftet werden. Aber es gibt unter den Verantwortlichen für die Verbrechen auch Personen ohne hohen Rang und sie könnten Gegenstand von Ermittlungen sein und bei ihrer Ankunft hier verhaftet werden. Die Staatsanwälte, die bei den Vereinten Nationen zu Syrien arbeiten, verfügen über Dokumente und Beweise über die an Verbrechen beteiligten Personen. Diese Staatsanwälte können eine solche Maßnahme über irgendeinen Staat ergreifen.
Die Staatsanwälte des Internationalen Strafgerichtshofs sind dazu nicht befugt, da weder die Türkei noch Syrien die Übereinkommen zur Anerkennung der Bedingungen des Strafgerichtshofs unterzeichnet haben. Aus diesem Grund könnte der UN-Sicherheitsrat vor einem internationalen Gerichtshof, der gemäß seinem eigenen Beschluss einzurichten ist, Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher einleiten.
Abgesehen davon hat jedoch jeder Staat die Befugnis, diejenigen vor Gericht zu stellen, die gegen die Genfer Konventionen verstoßen. Dies hängt von der Politik der Staaten und dem Vorhandensein ausreichender Beweise und Dokumente über die Vorfälle ab. Wenn Sie beispielsweise einen Kriegsverbrecher hier durch einen Staatsanwalt aus der Schweiz verhaften lassen wollen, muss dieser Staatsanwalt Zeugen und handfeste Beweise haben, die belegen, dass diese Person die betreffende Straftat begangen hat.
Es ist nicht allgemein bekannt, aber der von der UNO eingerichtete „International Impartial and Independent Mechanism" zur Untersuchung der Kriegsverbrechen in Syrien verfügt über Dokumente über diejenigen, die an Verbrechen beteiligt sind. Sie geben die Unterlagen, die sie haben, nur an den Staatsanwalt eines Landes oder an die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs weiter. Das Mandat dieses Mechanismus besteht nicht nur darin, die Kriegsverbrechen des syrischen Regimes und von Organisationen wie dem IS zu dokumentieren, sondern auch, die Kriegsverbrechen der Türkei oder verbündeter Gruppen in Nordostsyrien zu untersuchen.
Andererseits sollten sich die Verbrechen der Türkei gegen die Kurden nicht nur auf Syrien beschränken. Der türkische Staat führt seit vielen Jahren innerhalb seiner Grenzen einen bewaffneten Konflikt gegen die Kurden. Dafür gibt es keinen internationalen Mechanismus, denn die Vorfälle ereignen sich innerhalb der Grenzen der Türkei. Was jedoch geschieht, ist in der Tat eine schwere Verletzung der Menschenrechte.
Es könnte ein Antrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestellt werden, da die Türkei Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention ist. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hat der Gerichtshof England und die Niederlande wegen der während der Invasion im Irak im Jahr 2003 begangenen Verbrechen verurteilt. Der Gerichtshof stellte damit klar, dass die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht gegen Übereinkommen verstoßen können, obwohl der Irak nicht Vertragspartei der Konvention ist. Wenn das Territorium zu einem Nicht-Vertragsstaat gehört, aber unter der Kontrolle eines Vertragsstaates steht, können die Übereinkommen nach Ansicht des Gerichtshofs dennoch umgesetzt werden.
Syrien ist nicht Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber die Türkei ist es. So können Familien der in Nordostsyrien hingerichteten Personen oder die Familien der dort gefangen genommenen Kämpfer sich durchaus an den EGMR wenden. Diese Anträge sollten nicht von kurdischen Institutionen, sondern von Einzelpersonen gestellt werden. Diese Personen können sich jedoch nicht an den Internationalen Strafgerichtshof wenden, weil weder die Türkei noch Syrien ihm angehören.
Zur Frage, ob Erdoğan vor Gericht gestellt werden könnte: Es könnten Ermittlungen gegen ihn eingeleitet werden, sobald seine Amtszeit als Präsident beendet ist.