Seqiz (Saqqez) ist eine der antiken Städte und jene, in der sich der Aufstand entzündet hat, welcher Iran und Rojhilat seit zweieinhalb Monaten erschüttert. Seqiz, das Zentrum des Wandels und der Veränderung, war in der Vergangenheit und Gegenwart an vielen politischen und sozialen Bewegungen beteiligt. Diese Stadt mit etwa 200.000 Einwohner:innen war die erste, in der „Jin Jiyan Azadî“ skandiert wurde, was den ganzen Iran auf eine gemeinsame Grundlage einte. Seit der Beerdigung von Jina am 17. September haben die Geschäfte jeden Samstag und Mittwoch geschlossen.
Bevor ich in die Stadt fahre, möchte ich von den Leuten, die ich kontaktiert habe, erfahren, ob es möglich ist, die Familie von Jina Amini zu treffen. Nach zwei Tagen des Wartens mache ich mich auf den Weg nach Seqiz, in der Hoffnung, mit ihren Angehörigen zu sprechen. Als ich die Stadt erreiche, mache ich zunächst eine Rundfahrt, da ich von meinen Kontakten noch keine klare Antwort erhalten habe. Wie in anderen Städten fallen auch in Seqiz durchgestrichene Graffiti auf. Der dichte Verkehr auf der Straße, auf der sich das Gerichtsgebäude und die Payam-e-Nour-Universität befinden, zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Als ich langsam fahre, sagt mir nach einer Weile ein entgegenkommender Autofahrer, dass die Straße blockiert sei und Studierende demonstrieren würden.
Versuche, Jinas Familie zu treffen
Ich spreche mit einem Einwohner, der in meinem Namen Kontakt mit der Familie von Jina aufgenommen hatte. Der Vermittler erklärt mir, dass der Druck des Regimes auf die Angehörigen vor allem nach dem Marsch von Zehntausenden am 40. Tag nach Jinas Tod zugenommen habe. „Wir können uns in einem anderen Haus treffen“, biete ich an. Nach etwa zwei Stunden Wartezeit erfahre ich, dass die Familie das Interview ablehnt, da ihr Haus von Regimekräften überwacht wird, und sie sich davor fürchtet, dass jemandem, mit dem sie spricht, etwas zustößen könnte. Der Kontakt sagt, dass die Familie auch keine Möglichkeit habe, auf einen alternativen Standort auszuweichen, da sie unter Hausarrest stehe. Ich bitte darum, Jinas Grab besuchen zu dürfen. Es kommt die Warnung: „Auf dem Friedhof sind Kameras installiert, es ist nicht sicher. Zwei Tourist:innen aus dem Ausland wurden verhaftet, weil sie Jinas Grab besuchten, deshalb sollte man den Friedhof nicht betreten.“ Trotzdem gehe ich zum Eingang außerhalb der Stadt, um mir zumindest das Bild vor Augen zu führen, wie die Menschen am 40. Tag nach Jinas Tod zu ihrem Grab gingen. Die Leute nennen diesen Friedhof, der fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt an der Straße nach Bane liegt, wegen des Namens des nahegelegenen Dorfes „Ayçî-Friedhof“. Auf dem offiziellen Schild des Friedhofs steht jedoch „Muhammadi-Friedhof“.
Da es mir nicht möglich ist, Jinas Familie zu treffen, unterhalte ich mich mit Evînar Seqiz (sie bat aus Sicherheitsgründen darum, diesen Namen anstelle ihres richtigen zu verwenden), die seit dem ersten Tag an den Protesten teilnimmt und am 40. Todestag Jinas ebenfalls dabei war. Evînar erzählt mir von der Behandlung, die sie erfuhr, als sie in Teheran lebte, sowie von den Protesten, die in den letzten zwei Monaten ganz Iran erfasst haben, und ihren Zielen.
„Wenn uns etwas zustößt, können wir eine Stimme sein“
Evînar Seqiz nahm kurz nach der Gründung der Gascht-e Erschad [Sittenpolizei] einen Job in Teheran an. Dadurch habe sie viele Dinge miterlebt, sagt sie. „An meinem Arbeitsplatz sprachen meine Kolleginnen oft über die Gascht-e Erschad. Einmal war eine Frau aufgrund der Gewalt, der sie ausgesetzt war, kurz davor zu sterben. Eine andere Frau war durch die Schläge auf den Kopf verrückt geworden, und man sagt, dass sie nach einiger Zeit verschwunden sei. Meine Arbeitskolleginnen kannten sie und sprachen darüber, dass selbst ihre Familie sich nicht zu dieser Situation äußern konnte. Natürlich waren das für mich schreckliche Dinge. Jahre vergingen und eine kurdische Frau wurde zu Tode geprügelt. Aber die Familie hat es nicht vertuscht, sondern sich für ihre Tochter eingesetzt. Ja, die Kurd:innen stehen unter großem Druck, aber wenn uns etwas zustößt, können wir eine Stimme sein. Die Menschen ließen diese Familie nicht allein und setzten sich für Jina ein. Als kurdische Frau kann ich diesen Angriff nicht akzeptieren, deshalb habe ich vom ersten Tag an versucht, der Familie beizustehen.“
„Was heute mit Ihrer Tochter geschehen ist, wird morgen mit uns geschehen“
Evînar erzählt, dass sie sowohl zu Jinas Beileidsbekundung als auch zu der Gedenkfeier zu ihrem 40. Todestag ging. „Natürlich leistete der Vater Widerstand. Er stand auch sehr lange unter Beobachtung. Deshalb hielt der Vater eine Rede und sagte, nachdem er sich bei allen bedankt hatte, dass er nicht wolle, dass sich die Situation verschlimmert. Die Leute dort sagten dem Vater: ,Was könnte schlimmer sein als das hier? Was heute mit Ihrer Tochter geschehen ist, wird morgen mit uns geschehen.' Ich fragte mich selbst: ,Gibt es eine Garantie, dass das, was Jina passiert ist, nicht auch mir als Frau passieren wird?' Ja, ich bin heute für Jina hier, aber ich bin auch für mich selbst hier, damit sich dieser Protest weiter ausbreitet. Dann kam Jinas Tante, bedankte sich bei allen und hielt eine Rede: ,Wir standen in Teheran unter großem Druck, aber wir haben Widerstand geleistet. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir dreifach unterdrückt werden: als einfache Menschen, als Kurd:innen und als kurdische Frauen. Deshalb ist unser Widerspruch so groß.“
Die Macht von Jin Jiyan Azadî
Nach „Jin Jiyan Azadî“ gefragt, sagt Evînar: „Jin Jiyan Azadî ist nicht nur eine Parole mit einem wohlklingenden Rhythmus. Dahinter steckt zweifelsohne eine starke Philosophie. Und damit sich diese Philosophie verbreitet, leistet das kurdische Volk seit vielen Jahren unter dieser Losung Widerstand, gründet Akademien und versucht, dieses Bewusstsein in der Gesellschaft durch Workshops zu verbreiten. In Rojhilat musste diese Parole am Grab von Jina in einer sehr wichtigen und notwendigen Umgebung gerufen werden. Es war die richtige Zeit für diesen Slogan, und deshalb fand er eine breite Resonanz. Wir müssen uns bemühen, ihn weiter zu verbreiten.“
„Sie ist die Jina jeder Familie geworden“
Als ich Evînar auf die Zehntausenden von Menschen anspreche, die zum 40. Todestag von Jina vom Stadtzentrum auf den Friedhof strömten, und sie nach der Atmosphäre frage, sagt Evînar: „Ich arbeite seit vielen Jahren mit Frauen. Ich habe bis heute unzählige Frauen getroffen und mit ihnen gesprochen. Nach Jina kann ich sagen, dass die Frauen das Ausmaß ihrer Verfolgung besser verstanden haben. Wir haben in diesen zwei Monaten sehr wichtige Dinge erlebt. Ich möchte eine kleine Erinnerung erzählen: Ich habe eine Kundin und sie hat zwei Töchter im Alter von etwa zehn Jahren. Sie fragten ihre Mutter: ,Mama, hast du jemals daran gedacht, dass uns in zehn Jahren, wenn wir so alt sind wie Jina, dasselbe passieren könnte, was ihr passiert ist?' Dies wurde von Mädchen im Alter von zehn Jahren gesagt. An Jinas 40. Todestag strömten alle zum Grab, um zu verhindern, dass ihren Kindern dasselbe passiert. Alle hatten die Frage, die die zehnjährigen Mädchen beschäftigte, im Kopf. Während dieser 40 Tage wurden viele andere Frauen, die für Jina auf die Straße gingen, getötet. Deshalb glauben die Menschen, dass wir die Stimme von Jina sein sollten, die Stimme ihrer Familie. Jina ist über ihre Familie hinausgewachsen, sie ist die Jina jeder Familie geworden. Deshalb hat sich eine riesige Menschenmenge versammelt. Dies war ein gutes Beispiel dafür, was Kurd:innen tun können, wenn sie sich zusammenschließen.“
Evînar Seqiz erinnerte auch an die Doktorandin Nasrin Qadri, die am 4. November in Teheran durch einen Schlagstock am Kopf schwer verletzt und nach ihrem Tod am 6. November vom Regime verschleppt und in Merîwan zwangsbegraben wurde. Sie sagt, dass jede Frau eine Revolutionärin wie Nesrîn Qadiri sein sollte.
„Wir müssen uns mehr zusammentun“
Evînar betont auch, dass es organisierte Lehrer:innen gibt und die meisten von ihnen in den vergangenen zwei Monaten verhaftet wurden: „Ich appelliere an alle, insbesondere an die Frauen. Wir müssen uns mehr zusammentun, um organisierter zu handeln. Diese Philosophie steht auch hinter Jin Jiyan Azadî in Rojhilat. Ich möchte, dass die Frauen ihre Ängste ablegen und aus den Häusern, in denen sie eingesperrt sind, herauskommen. Wir müssen Widerstand leisten. Wenn wir Frauen die nächste Generation erziehen, können wir die von Männern dominierte Mentalität ändern. Diese zweimonatige Erfahrung hat auch gezeigt, dass wir eine ernsthafte Veränderung herbeiführen können, insbesondere zwischen Kindern und Männern. Deshalb müssen wir uns noch mehr anstrengen.“
Vorreiter:innen der Proteste erzählen
Nach meinem Interview mit Evînar treffe ich mich mit Hêvî Renc Seqiz, einer der Vorreiterinnen der Proteste in der Stadt. Ich frage sie nach der Stimmung des Aufstandes und sie beginnt ihre Worte wie folgt: „Es gibt viele Gründe, die zum Entstehen dieser Proteste geführt haben. Während des 43-jährigen Bestehens des Regimes haben sich die politische und sicherheitspolitische Verfolgung des Volkes und die Wirtschaftskrise immer mehr verschärft. Die Tatsache, dass es unerträglich wurde, dass selbst die Mittelschicht Mühe hatte, über die Runden zu kommen, kann als einer der Hauptgründe für den Aufstand der Bevölkerung angesehen werden. Als dann noch die Ermordung von Jina Amini durch die Sittenpolizei hinzukam, glaubten die Menschen, keine andere Wahl zu haben, als zu rebellieren. Mit anderen Worten, es geht um die Verfolgung, die seit 43 Jahren ununterbrochen andauert. Aber der Knackpunkt war die Ermordung von Jina.“
Als ich sie frage, ob der Mord an Jina eine neue Etappe der Proteste in anderen Städten des Irans sei, obwohl sie Kurdin war, sagte Hêvî: „Die iranische Bevölkerung hat tatsächlich kaum auf die Angriffe und Massaker reagiert, denen die Kurd:innen ausgesetzt waren. Die Angriffe auf die Kurd:innen wurden mit dem Argument der ,Sicherheit' bewertet. Auch wenn die Menschen diese Angriffe nicht direkt gutheißen, schweigen sie. Aber mit Jina begannen zum ersten Mal alle in Iran lebenden Völker zu denken, dass die eigenen Kinder nicht sicher sind. Mit anderen Worten: Es gibt einen Unterschied zwischen dem kurdischen Volk und der restlichen iranischen Bevölkerung, die für Jina auf die Straße geht. Aber wir können sagen, dass beide auf dasselbe Ziel hinauslaufen.“
Vom Regime ist keine Lösung zu erwarten
Auf die Frage nach dem Unterschied sagt Hêvî: „Die Menschen begannen zu erkennen, dass sich die Unterdrückung, der das kurdische Volk ausgesetzt ist, langsam auch gegen sie wendet. Für die meisten von ihnen war das Hauptproblem im Land bis heute die Wirtschaft, aber bei Jina geht es wirklich um die Würde jeder Iranerin und jedes Iraners. Die Menschen erkennen, dass weder der reformistische noch der islamistische Flügel des Regimes die Lösung sind. So kommt es von Zeit zu Zeit zu Widersprüchen zwischen diesen beiden. Eigentlich wollen beide Flügel das bestehende Regime aufrechterhalten. Aber als der islamistische Flügel die Präsidentschaft gewann, wurden einige Gesetzesänderungen gegen den reformistischen Flügel vorgenommen, und als der reformistischen Flügel in der Präsidentschaft saß, versuchten sie das genauso. Dies führte zu einer Verschärfung der Widersprüche zwischen ihnen. Beide Flügel wollen die Regierung übernehmen. Während beide Flügel versuchten, die Macht an sich zu reißen, wurde das Volk unterdrückt und verbrannt. Diese Einwände wurden immer lauter, aber es gab keine Möglichkeit, sie auf die Straße zu tragen. Die Ermordung von Jina und das Auftreten des kurdischen Volkes auf der Straße wiesen den Weg für andere iranische Völker, und sie vereinigten sich unter der Parole Jin Jiyan Azadî.“
Männer haben die Realität erkannt und kämpfen mit den Frauen
Wie konnte Jin Jiyan Azadî in so kurzer Zeit so wirksam werden und Grenzen überschreiten, sodass es zu einer Parole wurde, die sich sogar Iraner:innen in der Diaspora zu eigen machen? Ich leite diese Frage an Hêvî weiter und sie sagt: „Die Basis dieser Idee und die Bemühungen der kurdischen Freiheitsbewegung, sie bis zum heutigen Tag zu verwirklichen, können nicht geleugnet werden. Es gab auch ein konkretes Beispiel, bei dem diese Philosophie zum Leben erweckt wurde, das alle sehen und erleben konnten – Rojava. Die kurdische Freiheitsbewegung hat in Rojava ein Modell geschaffen, das zum Vorbild und zur Inspiration für alle Völker und sogar für feministische Bewegungen auf der ganzen Welt wurde. Iran gilt als isoliert von der Welt und es gibt die Hoffnung, dass dieses konkrete Beispiel auch hier verwirklicht werden kann. Frauen leisten die Vorarbeit für einen Wandel und verkörpern die Kraft zur Veränderung. Sie sind sich bewusst, dass sie die Hälfte der Gesellschaft ausmachen und bis heute als Sklavinnen betrachtet werden. Dagegen kämpfen sie. Allerdings hat sich hier noch etwas gezeigt. Auch die Männer haben diese Realität erkannt und beginnen, mit den Frauen für das gleiche Ziel zu kämpfen. Diese Hoffnung ermöglicht es allen iranischen Völkern, Männern und Frauen, sich unter der Parole Jin Jiyan Azadî zu vereinen.“
Die Menschen haben die Angst vor Khamenei verloren
Als ich Hêvî Renc Seqiz darauf anspreche, dass die Parole „Tod dem Diktator“ zusammen mit „Jin Jiyan Azadî“ erhoben wird, antwortet sie: „Mit jedem Aufstand sehen wir, dass eine neue Schwelle überschritten wird. Vor 2009 gab es bei den Protesten keine Parolen gegen Chamenei. Es herrschte Angst. Bei den Protesten in den Jahren 2009 und 2019 tauchte Chamenei jedoch in den Slogans auf, wenn auch in geringerem Maße. In den Protesten der letzten zwei Monate wurde diese Angst völlig überwunden. Die Menschen rufen jetzt überall Anti-Chamenei-Parolen. Das allein zeigt schon den Unterschied dieses Aufstandes zu den anderen. Ja, das Regime erhöht die Dosis der Angriffe gegen diese Proteste. Aber das bestärkt uns alle in der Überzeugung, dass wir uns noch mehr für unsere Rechte einsetzen müssen.“
Einheit wächst mit zunehmender Gewalt
Hêvî erklärt, dass die Proteste bisher von der Bevölkerung angeführt wurden. „Es gibt organisierte Strukturen in Rojhilat und von Zeit zu Zeit haben diese Strukturen nach Komitees gesucht, um gemeinsam zu handeln, aber bisher wurde kein Ergebnis erzielt. Aus diesem Grund beginnen die Menschen langsam, untereinander Ausschüsse zu bilden. Auch in Seqiz sind wir in diesem Bestreben. Wir erörtern die Bedeutung dieses Themas in allen unseren Sitzungen. Die Menschen können auch ohne Komitees gemeinsam handeln, und es freut uns, dass selbst diejenigen, die sich bisher in keiner Organisation engagiert haben, so handeln, als seien sie organisiert“, sagt sie und betont, dass die Zunahme der Gewalt die Menschen näher zusammengebracht habe.
„Die Menschen sind zuversichtlich, dass sie dieses System ändern werden“
Hêvî Renc Seqiz erinnert mich daran, dass von Zeit zu Zeit kommentiert werde, dass die Aktionen ein Ablaufdatum hätten und ihre Ziele nicht erreichen könnten: „Ich denke, dass diejenigen, die diese Kommentare abgeben, das iranische Volk und die Kurd:innen nicht kennen. Von Zeit zu Zeit ziehen sie vielleicht solche Schlüsse, weil sich die Straßen beruhigt haben, aber wie auch immer. Das liegt in der Natur der Sache. Die Menschen können sich manchmal von der Straße zurückziehen, um zu verschnaufen und einen noch stärkeren Protest zu erheben. Aber diese zwei Monate haben uns gezeigt, dass es sich definitiv nicht um einen Rückzug handelt. Die Menschen sind zuversichtlich, dass sie dieses System ändern werden. Wenn wir uns an den Prozess erinnern, der zur Revolution von 1979 führte: Die Menschen begannen 1974 auf die Straße zu gehen und setzten ihre Proteste bis 1979 fort. Manchmal wurden sie für drei Monate aus dem Verkehr gezogen, aber dann gingen sie gestärkt auf die Straße und erzielten Ergebnisse.“
Was soll anstelle des Regimes kommen?
Die Menschen wollen das bestehende System nicht und fordern eine Änderung. Aber was wollen sie anstelle dieses Regimes? Hêvî gibt die folgende Antwort: „In Iran gibt es keine echte Opposition, von der wir wissen. Ja, es gibt Monarchisten, Republikaner, Volksmudschaheddin. Aber niemand von ihnen hat ein starkes Programm und sie haben sehr wenige Anhänger:innen und Unterstützer:innen. Daher werden sie von den Menschen nicht als Alternative wahrgenommen. All dies führt auch dazu, dass sich ein Teil des Irans, insbesondere die Bourgeoisie, von den seit zwei Monaten stattfindenden Protesten distanziert. Denn sie können nicht in die Zukunft sehen, und ihre Angst macht es schwierig, sich für eine Seite zu entscheiden. Dieser Aufstand könnte jedoch einen neuen Weg eröffnen. Als beispielsweise der Schah gestürzt wurde, wurde eine vorläufige Schura gebildet. Nun strebt die Opposition, vor allem außerhalb des Irans, ein ähnliches Ziel an, nämlich die Einrichtung eines Parlaments. Faschistische und besitzwahrende Interessen schaffen in dieser Hinsicht Probleme. Monarchist:innen versuchen, wieder an die Macht zu kommen, aber die Mehrheit des Volkes will sie nicht. Denn dieses Volk hat auch unter dem Schah sehr gelitten. Insbesondere das kurdische Volk will ihn definitiv nicht. Als Iranerin möchte ich keine Regierung, die sich mir von oben nähert. Die Tatsache, dass jede Gruppe ihre eigenen Interessen über die Interessen des Volkes stellt, verhindert auch die Bildung einer gemeinsamen Bewegung. Die Menschen wollen, dass alle Gruppen gleichberechtigt zusammenkommen und auf der Grundlage der Interessen der Völker handeln.“
60 Prozent der Demonstrierenden sind jung
Als ich Hêvî nach dem Ausmaß der Beteiligung von Jugendlichen und Schüler:innen an den Protesten frage, sagt sie: „Die meisten Teilnehmer:innen sind junge Leute. Sie haben mehr Kraft und Willen. Diese jungen Menschen haben nicht die Angst, die Menschen mittleren Alters haben, weil sie der Verfolgung und Folter dieses Regimes schon einmal unmittelbar ausgesetzt waren. Wenn wir eine Klassifizierung vornehmen wollen, sind fast 60 Prozent der Teilnehmer:innen an diesen Protesten furchtlose junge Menschen. Weitere 20 Prozent sind Menschen, deren Herzen brennen und deren Seelen verwundet sind. Das sind Menschen, die ihr ganzes Leben lang den schweren Druck des Staates gespürt haben. Mit anderen Worten: Menschen, die wir als organisiert bezeichnen können. Die restlichen 20 Prozent sind diejenigen, die versuchen, sich der Mehrheit anzupassen.“
Internetsperren sind ein großes Problem
Hêvî sagt, dass sich die Entwicklungen aufgrund von Internetabschaltungen im Land nicht in dem gewünschten Maße verbreiten konnten: „Das ist ein großes Problem für uns. Das Wi-Fi ist etwas besser als das mobile Internet, aber es wird von Zeit zu Zeit komplett abgeschaltet. VPNs sind nicht sehr nützlich. Es ist bereits ein großes Problem, diese VPNs herunterzuladen. Deshalb tauschen die Leute VPNs über Bluetooth oder Sharing-Programme untereinander aus. Aber auch diese wirken nur für eine sehr kurze Zeit. Auch wenn es nicht sicher ist, stehen die Menschen jedoch über Mobiltelefone miteinander in Kontakt und sind über die Entwicklungen informiert.“
Verschiedene Augenfarben machen keinen Unterschied
Hêvî Renc Seqiz ruft die gesamte iranische Bevölkerung und die vier Teile Kurdistans zur Solidarität mit den Menschen auf, die ihre Würde einfordern, und sagt abschließend: „Wir spüren die Unterstützung der Menschen in Rojava durch ihre Demonstrationen. Auch unser Volk in Bakur hat eine Stimme, wenn auch nur eine kleine, aber wir wollen, dass es mehr wird. Wir brauchen auch die Unterstützung von Başûr. Ich hoffe, dass Bakur und Başûr die notwendige Unterstützung leisten werden. Ich wünsche mir, dass alle Völker der Welt verstehen, dass es keinen Unterschied zwischen den helläugigen Ukrainer:innen und uns Dunkeläugigen gibt, und dass sie uns entsprechend unterstützen.“
Abdurrahman Gök ist Fotoreporter und auch international für seine journalistische Arbeit bekannt, unter anderem für seiner Bilder der im August 2014 vor dem Genozid des selbsternannten IS ins Şengal-Gebirge geflohenen ezidischen Bevölkerung. Außerdem erfuhr die Öffentlichkeit nur dank seines Einsatzes, dass es sich beim Tod des jungen Kunststudenten Kemal Kurkut, der im März 2017 am Rande der Newroz-Feierlichkeiten in Amed von einem Polizisten erschossen worden war, in Wahrheit um vorsätzlichen Mord handelte. Gök hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und dokumentiert, dass die offizielle Version, wonach Kurkut ein „Selbstmordattentäter“ gewesen sei, von der Polizei nur erfunden wurde.
Im Original erschien der siebte Teil der Reportage über die Reise in den Iran am 1. Dezember. Die deutschsprachigen Übersetzungen der ersten sechs Teile sind unter nachfolgenden Links zu lesen: