Musa Piroğlu: Revolutionärer Kampf erfordert Konsequenz
Der HDP-Politiker Musa Piroğlu ist seit einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle auf einen Rollstuhl angewiesen. Er ist einer der Abgeordneten, die bei allen Straßenprotesten dabei sind.
Der HDP-Politiker Musa Piroğlu ist seit einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle auf einen Rollstuhl angewiesen. Er ist einer der Abgeordneten, die bei allen Straßenprotesten dabei sind.
Musa Piroğlu ist am 24. Juni 2018 in Istanbul zum Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in das Parlament der Türkei gewählt worden. Er ist einer der Abgeordneten, die bei allen Straßenprotesten dabei sind. Oft gerät er dabei in Konfrontation mit der Polizei. Es ist sogar schon vorgekommen, dass er aus seinem Rollstuhl gestoßen wurde.
Vor seiner Wahl zum Abgeordneten war Piroğlu Vorsitzender der Revolutionären Partei (tr. Devrimci Parti). Er ist 1968 im Dorf Irfanli in Kirşehir geboren. Neben türkischen und turkmenischen Menschen lebte in dem Dorf auch ein großer kurdischer Bevölkerungsanteil. Musa Piroğlu selbst ist alevitischer Kurde. Die Grund- und Mittelschule hat er in Kirşehir absolviert, danach zog die Familie nach Izmir.
Mit „linkem Gedankengut“ habe er bereits in der Mittelschule Kontakt gehabt, erzählt Piroğlu: „Mein Vater war bei der CHP, mein großer Bruder am Gymnasium. Den linken Kampf habe ich durch die revolutionären Romane kennengelernt, die mein Bruder damals gelesen hat. Als ich die Mittelschule abgeschlossen habe, hatte ich bereits viele Romane über den Widerstand in Vietnam oder Albanien gelesen. Es war noch vor dem Militärputsch vom 12. September 1980, an der Schule gab es ständige Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten. Auch ich habe mich für eine Seite entschieden.“
Protest gegen die Verhaftung von Leyla Güven, Istanbul, Dezember 2020
Simit-Verkäufer und Schuhputzer
Als der Vater Rentner wurde, ließ sich die Familie 1983 in Izmir nieder. Dort besuchte Musa Piroğlu das Gymnasium. Wie alle seine Brüder arbeitete er neben der Schule, zuerst bei einem Möbeltischler, dann als Schuhputzer und Simit-Verkäufer: „Wir fünf Brüder standen morgen um fünf Uhr auf und reihten uns auf wie ein Tespih [Gebetskette]: Ganz vorne der Aufgeweckteste von uns, in der Mitte ich und zuletzt der Müdeste. Ich hatte erst mittags Unterrichts, morgens verkaufte ich Simit [Sesamkringel], danach ging ich zur Schule. Ich hatte zumindest in Kirşehir so etwas wie eine Kindheit. Die anderen waren noch klein, als wir nach Izmir zogen. Sie haben immer gearbeitet, aber sie hatten auch keine Wahl. Wir haben nicht für unser Taschengeld gearbeitet, sondern für den Unterhalt der Familie. Taschengeld hatten wir sowieso nie.“
Das Gymnasium besorgte ihm einen Kurs zur Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung an der Universität, aber er konnte ihn kaum besuchen, weil er immer arbeiten musste. Nach dem Simit-Verkauf arbeitete er auf dem Bau. 1986 bekam er einen Studienplatz für Geschichte auf Lehramt. Er begann mit dem Studium und war am Wochenende weiter auf Baustellen.
Mensaboykott als erste politische Aktion
An der Universität wurde er erstmalig politisch aktiv. Seine „erste unvergessliche Aktion“ war ein Mensaboykott gegen den Hochschulrat (YÖK). „Wir waren alle unerfahren und verhielten uns wie vorher auf dem Gymnasium. Wir machten alles zusammen, gingen zusammen in den Hörsaal, in die Mensa oder nach draußen ins Café. Als wir einmal gemeinsam in die Mensa gingen, fand dort eine Aktion statt. Ich drehte mich zu meinen Freunden um und sagte: Ich beteilige mich an dem Boykott. Das Komische daran war, dass ich ohnehin kein Geld für Essen hatte. Ich war jung und enthusiastisch. Als ich die Mensa verließ, sprach mich jemand an. Durch diesen Freund lernte ich die Kurtuluş-Bewegung kennen. Im zweiten Semester wurde ich Mitglied im Studentenverein. Die Studierendenvereine waren zu jener Zeit sehr weit entwickelt, weil alle, die in den achtziger Jahren von der Uni geflogen waren, inzwischen zurückgekehrt waren.“
Protest gegen Polizeiangriff in Istanbul, Dezember 2020
Arbeitsunfall auf dem Bau
Theoretisch sei er schwach gewesen, erzählt Piroğlu: „Das einzige Buch, das ich gelesen habe, war die Zivilisationsgeschichte von Server Tanilli.“ Um in den Vorstand des Studentenvereins zu kommen, wollte er sich im Studium mehr anstrengen und sich mit Philosophie beschäftigen. Dann erlitt er im August 1988 einen Arbeitsunfall und stürzte aus der vierten Etage einer Baustelle. Er lag drei Tage im Koma und konnte wegen inneren Blutungen nicht operiert werden. Die Ärzte gaben ihm kaum noch eine Überlebenschance. Als seine Mutter von dem Unfall erfuhr, erlitt sie einen Herzinfarkt und starb. Das erfuhr er erst viel später, er lag sechs Monate in Ankara im Krankenhaus.
Piroğlu sagt, dass die meisten Menschen sich in einer solchen Situation dem Leben verschließen. Ihm habe geholfen, dass er sich von Anfang an keine Hoffnung auf Genesung machen konnte: „Ich erfuhr sofort, dass es keine Behandlung gibt. Viele Menschen verwenden nach Unfällen viel Zeit auf eine medizinische Behandlung und das macht ihnen zu schaffen. Ich habe meine Zustand sofort akzeptiert.“
Solidaritätskultur statt staatlicher Unterstützung
Nach dem Unfall wurde er von seiner Familie und von Freunden unterstützt, damit er weiter zur Universität gehen konnte. Als er von dieser Solidarität erzählt, muss er an seine Mutter denken: „In Izmir-Buca haben viele Menschen aus unserem Dorf gelebt, deshalb waren alle solidarisch miteinander. Meine Mutter machte immer etwas mehr Essen, weil sie wusste, dass es bestimmt Nachbarn gibt, die keine Mahlzeit auf dem Tisch haben. Ich bin in einer solchen Solidaritätskultur aufgewachsen. Es war unvermeidbar, dass wir Linke wurden. Auch mein Studium konnte ich nach dem Unfall durch diese Solidarität fortsetzen.“
Im Krankenhaus wurde Piroğlu nicht ausreichend auf ein Leben mit körperlichen Einschränkungen vorbereitet. Er sieht das als großes Manko und verweist auf die Reha-Maßnahmen im Westen, bei denen Menschen lernen, mit ihrer Behinderung umzugehen. Einen Rollstuhl bekam er als Spende, der Staat stellte ihm erst ein Jahr später einen Rollstuhl zur Verfügung. Piroğlu sagt dazu: „Einen Rollstuhl bekommst du nur, wenn du Geld hast oder es Solidarität gibt. Der Staat kümmert sich nicht darum. Mich hat die Solidarität getragen.“
Unterstützung für hungerstreikende Rechtsanwält*innen, Istanbul, August 2020
„Theoretisches Unwissen behoben“
Nach acht Jahren schloss Musa Piroğlu sein Studium ab. Ein Jahr ging durch den Unfall flöten, um zwei Jahre hat er seine Studienzeit selbst verlängert. Nach dem Unfall verbrachte er die meiste Zeit zu Hause mit Lesen und hat damit nach eigenen Worten sein „theoretisches Unwissen behoben“. Mit steigendem Bewusstsein wurde er als Student politisch immer aktiver. Er wurde Vorsitzender des Studentenvereins und übernahm viele weitere Aufgaben. Dass er nicht laufen konnte, hielt ihn nicht davon ab. Problematischer waren die finanziellen Schwierigkeiten, weil er nicht mehr zum Lebensunterhalt beitragen konnte: „Ich konnte nicht arbeiten und meine Geschwister gingen trotz meines Unfalls weiter auf den Bau. Es gab keine Alternative. Es waren schwierige Jahre, aber wir haben sie durch Solidarität irgendwie überwunden. Ich habe immer noch dasselbe Umfeld wie 1983, daran hat sich nichts geändert. Wir alle mussten damals arbeiten und viele sind auch heute noch Arbeiter und arm. Dass ich in die Politik gegangen bin, war so gesehen keine Gewissensfrage, es war eine Entscheidung im Leben.“
Als Vertreter der revolutionären Bewegung in der HDP
Musa Piroğlu arbeitete 15 Jahre als Lehrer. Dann ging er nach Istanbul und gründete zusammen mit anderen die ÖDP. Er war politisch in der Sozialistischen Demokratiepartei aktiv und wurde nach Gründung der Revolutionären Partei zum Vorsitzenden gewählt. Jetzt ist er HDP-Abgeordneter. Zuletzt frage ich ihn nach seinem politischen Kampf in der HDP. In diesem Zusammenhang kritisiert er die politische Opposition insgesamt. Er spricht davon, dass die HDP gerade erst begonnen hat, bestimmte Mauern einzureißen:
Protest gegen Angriff auf kurdische Saisonarbeiter*innen, Istanbul, September 2020
„Ich bin als einer der Sprecher der revolutionären Bewegung der Türkei in der HDP. Wir haben bereits früher die Rechnung dafür gezahlt, dass wir uns für die kurdische Frage eingesetzt und sie als Grundproblem in diesem Land bezeichnet haben. Die ÖDP haben wir als Bewegung verlassen. Der Grund dafür war der Konflikt zu diesem Thema. Neulich ist in einer Talkshow gefragt worden, warum es der HDP nicht gelingt, ein breites Bündnis zu gründen. In der sozialistischen und gesellschaftlichen Bewegung in der Türkei gibt es immer noch eine Spur von Chauvinismus. Wer sich an die Seite der HDP stellt, muss mit politischer Repression kämpfen. Aus diesem Grund distanziert sich ein Teil der Linken in der Türkei von der HDP oder stellt sich nur so weit an ihre Seite, dass es ihnen nicht schadet. Manche machen das aus chauvinistischen Gefühlen, andere fürchten um ihre Partei. Zuallererst muss das überwunden werden. Ich möchte ein Beispiel aus dem Kampf der Menschen mit Behinderungen geben. Wenn ich zu einer Aktion der Behindertenbewegung gehe, entsteht Unruhe, weil jemand von der HDP kommt. Es kommt aber auch vor, dass jemand sagt: Von euren Abgeordneten ist niemand da, aber von der HDP schon. Man muss eine Parallele hinkriegen zwischen Wort und Tat.“
Istanbul, Juni 2018
Wer für Veränderung kämpft, kann die kurdische Frage nicht ignorieren
„Ich gehe auch möglichst zu allen Arbeiteraktionen, denn ich habe selbst einen Arbeitsunfall erlebt und es gibt immer mehr Tote bei Arbeitsunfällen. Demgegenüber kann man nicht gleichgültig sein. Das gilt auch für die kurdische Frage. Wenn ich für gesellschaftliche Veränderungen kämpfe, kann ich die kurdische Frage nicht ignorieren. Ein revolutionärer Kampf erfordert Konsequenz und ein klare Positionierung für die Unterdrückten. Vor unseren Augen wird eine riesige Nation massakriert und unterdrückt, das kann man nicht von sich fernhalten. Die Hauptursache der Repression in der Türkei ist die staatliche Unterdrückung der Kurden in Kurdistan. Deshalb muss man sich auf die Seite der HDP stellen. Angesichts der heftigen Repression haben auch wir Defizite und es gibt Stellen, die wir nicht erreichen, aber Ömer Faruk Gergerlioğlu hat jetzt zum Beispiel eine Mauer eingerissen. Auch mit unserer Teilnahme an den Arbeiteraktionen wollen wir Mauern einreißen. Wenn man die Rechte der Menschen verteidigt und dorthin geht, wo niemand sonst hinkommt, werden dadurch Vorurteile aufgehoben.“