Lesbos: Hölle für geflüchtete Menschen auf europäischem Boden

Der Sozialmediziner Gerhard Trabert setzt sich seit Jahren für Menschen in Not ein. Zuletzt war er auf der griechischen Insel Lesbos, um sich dort um Geflüchtete zu kümmern. Insbesondere um einen Querschnittsgelähmten, der im Rollstuhl sitzt: Abdulkarim.

Es fällt mir schwer, einen Artikel zu den Ereignissen der letzten Wochen auf Lesbos zu schreiben. Noch immer habe ich die Bilder vor meinem inneren Auge von den Menschen, denen ich auf Lesbos begegnen durfte. Kinder, Schwangere, Alte, chronisch Kranke, Gehandicapte, die durch die Flucht, das zum Teil jahrelange Leben in dem katastrophalen Moria-Camp, den Brand, die desolate Situation danach zum wiederholten Male traumatisiert wurden. In diesem Jahr war ich im März, im August und drei Tage nach dem Brand im Moria-Camp auf Lesbos. Ich habe Menschen kennenlernen dürfen, die aufgrund so vieler Schicksalsschläge total erschöpft sind. Ich möchte diesen Menschen ein Gesicht geben, deshalb schildere ich die Situation von dem jungen Syrer Abdulkarim, der exemplarisch für das Leid und die Not so vieler geflüchteter Menschen auf Lesbos steht. Zudem werde ich, um nah an den unmittelbaren Eindrücken meines medizinischen Hilfseinsatzes im September zu bleiben, einige meiner Tagebucheintragungen wiedergeben. Abschließen möchte ich mit dem Hinweis auf den Personenkreis der körperlich und seelisch gehandicapten Menschen in den Flüchtlingslagern auf Lesbos, aber auch auf der gesamten Erde.

Es ist mir wichtig hervorzuheben, dass Moria und jetzt das neue Kara-Tepe-Camp exemplarisch für die Situation so vieler geflüchteter Menschen in all den Flüchtlingslagern auf dieser Erde steht. Wir dürfen die Situation der Menschen in Libyen, im Libanon, in Jordanien, aber besonders auch in Syrien nicht vergessen. Gerade die Situation der Menschen in den Flüchtlingslagern in Nordsyrien, in der Rojava-Region, in Ain Issa, in al-Hol, in der Efriî-Region ist katastrophal, und niemand spricht über die Menschen, die dort leben müssen. Die besonders auch durch die türkische Aggression, durch den völkerrechtswidrigen militärischen Angriff der Erdogan-Administration, hervorgerufen und verschlimmert wurde.

Zurück nach Lesbos. Das Moria-Camp ist abgebrannt. Aber zuvor ein Wort zum überall präsenten Thema Corona- Pandemie. Um es deutlich und klar zu formulieren: Es war keine Frage ob, es war immer eine Frage, wann der erste geflüchtete Mensch sich im Moria-Camp infiziert. Seehofer und andere Politiker wussten durch die zahlreichen Berichte verschiedener Hilfsorganisationen um die katastrophale Situation im Lager. Auch wir (Verein Armut und Gesundheit e.V.) haben immer wieder zum Handeln aufgefordert. Die Menschen wurden im Moria-Camp in Massenquarantäne genommen, zusammengepfercht bei katastrophalen hygienischen Verhältnissen isoliert, mit einer damit deutlich erhöhten Ansteckungsgefahr. Beim Nachweis der ersten positiv auf Covid-19 getesteten Camp-Insassen musste davon ausgegangen werden, dass sich schon hunderte, wenn nicht noch mehr, im Camp infiziert haben. Die einzige sinnvolle Maßnahme wäre eine sofortige Auflösung des Camps und Evakuierung der Menschen gewesen.  Als erstes hätten alte Menschen, chronisch Kranke, Schwangere, Kinder und behinderte Menschen evakuiert und in Europa aufgenommen werden müssen. Sie hätten medizinisch versorgt und getestet werden und in dem jeweiligen Zielland in Quarantäne kommen müssen. Dies geschah nicht, damit war klar, dass sich sehr viele Menschen mit Covid-19 infizieren werden. Derzeit sind es wohl deutlich über 300 Menschen, die positiv im neuen Kara-Tepe-Camp getestet wurden. Dies bedeutete und bedeutet auch immer, dass Menschen daran versterben werden.

Nächtliche Brandwundenbehandlung in Moria | Fotografin: Alea Horst

Als ich drei Tage nach dem Brand auf Lesbos ankam, schrieb ich folgenden Eintrag in mein Tagebuch:

13. September 2020 (22.30 Uhr)

Wir stehen jetzt, gemeinsam mit geflüchteten Menschen, seit circa zwei Stunden vor einer Polizeiabsperrung, vor dem Zugang zu dem Kara-Tepe-Camp (I) und dem Moria-Areal. Unter anderem ist eine hochschwangere Frau dabei, geflohen aus Afghanistan, um in Freiheit und Sicherheit leben zu können. Gestern hat eine geflüchtete Schwangere im Park in Mytilene ihr Baby zur Welt gebracht. Die Ambulanz hat sie ohne den Beweis eines negativen Covid-19-Tests nicht ins Krankenhaus gebracht. Europa im Jahre 2020!

14. September 2020 (00.50 Uhr)

Es ist unglaublich, mir fehlen die Worte. Wir waren jetzt circa zwei Stunden in dem abgesperrten Areal, Richtung Moria. Tausende Menschen schlafen, leben, vegetieren am Straßenrand. Ich kenne diese Bilder aus Mumbai in Indien oder Dhaka in Bangladesch, aber nicht aus Europa. Wir haben zahlreiche Patienten, besonders Kinder mit superinfizierten Wunden, oft Brandverletzungen, behandelt. Ich bin geschockt, und da wird in Deutschland, in Europa ernsthaft noch diskutiert, ob man einige unbegleitete Kinder mehr evakuieren soll. Alle müssen evakuiert werden. Sonst wird es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Menschen am Straßenrand sterben. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ich das Leid dieser Menschen im Fernsehen sehe als eine Meldung unter vielen, oder live vor Ort erfühle, mit allen Sinnen.

14. September 2020

Ich könnte und werde noch mehr über den heutigen Tag berichten, aber ich möchte die Situation von Abdulkarim nochmals in den Mittelpunkt stellen. Ich war sehr froh, ihn sehen und mit ihm reden zu können. Ich bin sehr traurig über seinen psychischen Zustand. Er wirkt total erschöpft, hoffnungslos, er wirkt depressiv und ich habe Angst, dass er seinem Leben selbst ein Ende macht. Und dann erhalte ich von Fabiola die Nachricht von Abdulkarims Rechtsanwälten, dass der Europäische Gerichtshof bei der griechischen Regierung sich über den Versorgungszustand von ihm informiert hat. Die griechischen Behörden haben daraufhin mit dem Statement geantwortet, dass es ihm sehr gut ginge, er habe ein Zelt, genügend Wasser und Lebensmittel sowie eine gute medizinische Versorgung. Ich bin fassungslos über diese Lügen. Die Anwälte benötigen jetzt dringend einen Medical Report, der die wahre Situation beschreibt. Diesen Report werde ich jetzt schreiben. Unterstützt bitte alle Abdulkarims Evakuierung nach Deutschland.

Zerstörtes Moria-Camp | Fotografin: Alea Horst

Die Geschichte Abdulkarims aus Syrien

Abdulkarim ist ein 25-jähriger Mann aus Syrien. Da er in der Nähe von Damaskus lebte und weder zur syrischen Armee (Assad-Armee) noch von einer anderen Miliz zum Kämpfen gezwungen werden wollte, versuchte er aus Syrien in die Türkei zu fliehen. Auf diesem Fluchtweg half er einem körperbehinderten Freund, der ebenfalls diesen Ort des Schreckens verlassen wollte. Als sie bei Nacht die syrisch-türkische Grenze überquerten, schoss ein türkischer Soldat Abdulkarim in den Rücken. Diese Schussverletzung war so schwer, dass er sich nicht mehr bewegen konnte und starke innere Blutungen hatte. Die türkischen Soldaten schickten ihn trotz dieser schweren Verletzung zurück nach Syrien. Dort wurde er in ein Krankenhaus gebracht, das ihm aber sofort vermittelte, dass so eine Verwundung dort nicht behandelt und operiert werden könne. Daraufhin versuchte er, weiterhin stark blutend und mit starken Schmerzen, unterstützt von Freunden, nochmals in die Türkei zu kommen. Er wurde schließlich in einem türkischen Krankenhaus in der Nähe von Reyhanli operiert. Man konnte zwar sein Leben retten, er war aber von Bauchnabelhöhe abwärts querschnittsgelähmt. Er kann seitdem weder die Beine benutzen und bewegen, auch die Harnblasen- und Darmfunktion sind ohne Hilfe, auf normalem Wege nicht mehr möglich.

Er floh weiter mit Freunden von der Türkei nach Griechenland und lebt jetzt auf Lesbos. Er zeigte uns im August die Eintrittswunde der Schussverletzung am Rücken. Die Kugel wurde von der Wirbelsäule abgelenkt und trat an der rechten Schlüsselbein-Schulterregion wieder aus. Zudem zeigte er uns Narben, die auf einen sogenannten Pneumo-Thorax hinweisen. Eine lebensgefährliche Verletzung, bei der die Lunge kollabiert. Er berichtete uns, dass er im Moria-Camp in einer kleinen Behausung mit zwei anderen körperbehinderten jungen Syrern leben müsse. Alle seine Bemühungen, aus diesem Camp in eine Übernachtungsstelle verlegt zu werden, in der er als stark behinderter Mensch sich selbst versorgen und auch versorgt werden könnte, wurden abgelehnt. Gemeinsam mit Fabiola, der chilenischen Physiotherapeutin, die die einzige ist, die sich um ein Mobilisierungstraining von querschnittsgelähmten Menschen auf Lesbos kümmert, versuchten wir beim UNHCR (UN-Flüchtlingshilfswerk) und der Lagerleitung eine Verlegung Abdulkarims in ein anderes Lager beziehungsweise in eine behindertengerechte Unterkunft zu erreichen.

Dann besuchten wir Abdulkarim im Moria-Camp. Auf dem Weg durch dieses Camp sahen wir, unter welch katastrophalen hygienischen Bedingungen die Menschen dort leben mussten. Die kleine Kammer, in der sich Abdulkarim aufhielt, war circa drei mal zwei Meter groß. Es befanden sich zwei Stockbetten mit vier Schlafmöglichkeiten in dieser Behausung. Sein Rollstuhl stand zusammengeklappt an der Seite. Ein Ventilator erzeugte ein wenig Frischluft. Dort lebte er mit Samir und Wael, zwei Syrer, die ebenfalls durch Schuss- und Bombenverletzungen körperbehindert sind. Samir hat eine hohe Oberschenkelamputation, da er vor zwei Jahren bei einem Bombenangriff in Syrien so schwer verletzt wurde, dass diese Notamputation notwendig war. Bei dieser Bombenattacke starben sein Vater und sein Bruder. Wael hat eine Lähmung im Fußbereich, da er ebenfalls durch einen Granatsplitter so stark verletzt wurde, dass er den Fuß nicht mehr normal bewegen kann. Ohne Wael und Samir hätte Abdulkarim dort überhaupt nicht überleben können.

Es war erschütternd, diese Enge und diese hygienischen Verhältnisse zu sehen und zu spüren. Nachts kamen Ratten in diese Notunterkunft. Abdulkarim zeigte uns während des Gesprächs zahlreiche Kakerlaken, die an der Wand hinauf und dann wieder herunterliefen. Wie kann es sein, dass ein junger Mensch trotz UN-Behindertenrechtskonvention, trotz EU-Aufnahmerichtlinien, die eindeutig Menschen wie Abdulkarim als besonders schutzbedürftige Person deklarieren, im Moria-Camp dahinvegetieren musste. Zudem muss Abdulkarim mindestens fünfmal täglich durch einen Urinkatheter den Urin selbst ablassen. Er berichtete uns, dass er bisher von den Hilfsorganisationen nur sehr wenige dieser Katheter, er benötigt pro Tag fünf davon, kostenlos zur Verfügung gestellt bekam. Deshalb musste er sich auch selbst Katheter besorgen, das heißt kaufen. Des Weiteren berichtete er uns davon, welch große Angst er jedes Mal hatte, wenn er zur Toilette gefahren werden musste. Es gab nur eine Toilette, zu der ihn Wael bringen konnte, auf die er gehoben werden musste.

Kind in der Sprechstunde | Fotografin: Alea Horst

Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass ein Patient mit einer derartigen Querschnittslähmung nicht selbstständig dafür sorgen kann, dass der Stuhl auf normalem Wege ausgeschieden wird. Und das musste Abdulkarim alles hier bei fast 40 Grad unter diesen hygienischen Bedingungen aushalten. Hier versagt Griechenland, es versagt Europa und es versagt das reichste europäische Land, es versagt Deutschland. Es ist bewundernswert, wie fürsorglich Wael und auch Samir sich um Abdulkarim auch jetzt noch kümmern. Ohne deren Hilfe wäre ein Leben in diesem Horror-Flüchtlingslager überhaupt nicht möglich gewesen. Wir hofften sehr, dass die UN, dass die Behörden endlich es Abdulkarim erlauben würden, aus diesem Camp in eine andere Unterkunft gebracht zu werden. Ein Zimmer, in dessen Nähe sich eine Toilette befindet und wo er regelmäßig physiotherapeutische Übungen machen kann beziehungsweise entsprechend angeleitet wird. Es gibt so viele menschliche Schicksale, die ein solches Leid erfahren müssen. Es sind eben keine Einzelschicksale mehr, es ist ein strukturelles und systemisches Versagen.

Nach dem Lockdown aufgrund der ersten Covid-19-Fälle im Moria-Camp war Abdulkarim von einer physiotherapeutischen und medizinischen Versorgung fast vollkommen abgeschnitten. Er wurde von zahlreichen Ratten in beide Füße gebissen und litt mehrere Tage unter heftigen Fieberschüben. Aufgrund seiner Querschnittslähmung spürt er die Bisse von Ratten und Kakerlaken nicht an den unteren Extremitäten. Mit Fabiola führten wir eine telemedizinische Beratung durch und erklärten, welche therapeutischen Maßnahmen dringend notwendig waren. Wir hatten dann große Angst, ob er den Brand im Camp überlebt hatte. Er wurde von Wael gerettet und lebte dann am Straßenrand. Danach wurde er in einem provisorischen Lager untergebracht. Das neue Camp Kara Tepe II ist noch weniger behindertengerecht als es Moria war. Schotterwege, unzureichende sanitäre Anlagen, zu wenig Trinkwasser und Nahrung und, und, und… Schließlich konnte es Fabiola erreichen, dass er in einer Wohnung außerhalb untergebracht werden durfte. Und wir bemühen uns seit Wochen um eine Aufnahme in Deutschland. Denn nur in einem europäischen Land mit guter medizinischer und physiotherapeutischer Versorgung hat Abdulkarim eine Chance auf ein größtmögliches selbstbestimmtes Leben.

Abdulkarim in seinem Rollstuhl am Straßenrand | Fotografin: Alea Horst

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet staatliche Stellen dazu, auch die Rechte von geflüchteten Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. Von zentraler Bedeutung sind unter anderem das Recht auf eine bedarfsgerechte und barrierefreie Unterbringung (Art. 28 in Verbindung mit Art. 9 UN-BRK), das Recht auf ein erreichbares Höchstmaß an Gesundheit (Art. 25 UN-BRK) sowie das Recht auf Rehabilitationsleistungen (Art. 26 UN-BRK). Auch die EU-Aufnahmerichtlinie bekräftigt diese Anforderungen, indem sie den EU-Staaten vorschreibt, in der Flüchtlingsaufnahme die spezielle Situation besonders Schutzbedürftiger, darunter Menschen mit Behinderungen, zu berücksichtigen.

Rassismus und Unterdrückung

Tagtäglich sind die geflüchteten Menschen auf Lesbos Rassismus und Unterdrückung ausgesetzt. Ja, der griechischen Zivilbevölkerung geht es auch nicht gut und die europäischen Sparforderungen haben zu einer Zunahme von Armut geführt. Die Säuglingssterblichkeit hat zugenommen und viele Griechen haben keinen Zugang zu einer qualifizierten gesundheitlichen Versorgung. Das sind aber alles keine Rechtfertigungsgründe, was man auf Lesbos, in den verschiedenen Flüchtlingslagern, insbesondere im ehemaligen Moria-Camp, und auch in den Krankenhäusern in Mytilene, der größten Stadt auf Lesbos, den geflüchteten Menschen angetan hat und immer noch tut. Die folgenden Schilderungen und Erfahrungen beruhen auf den Aussagen betroffener geflüchteter Menschen, deren Kontaktdaten ich besitze, und von Helfern, unter anderem einer Schweizer Dolmetscherin, die im größten Krankenhaus auf Lesbos arbeitete. Es ist eine Aufzählung von Realitäten, die ignoriert, verharmlost, verleugnet und verdrängt werden. So werden geflüchtete Menschen offen rassistisch von Ärzten im Krankenhaus behandelt. Sie müssen Stunden ohne Grund warten, werden nach zehn Stunden Wartezeit unbehandelt zurück ins Camp geschickt, sie sollen am nächsten Tag wiederkommen. Untersuchungen verletzter Gliedmaßen geschehen ohne Betäubung, es wird eine Erstbehandlung durchgeführt, dann wird den Patienten deutlich gesagt, sie müssten zurück ins Camp (ein Fußmarsch, der über eine Stunde beträgt). Es werden bei schweren Beinverletzungen keine Hilfsmittel zur Verfügung gestellt (Krücken), es wird kein Fahrdienst (Ambulanz) beauftragt, die Menschen ins Camp zu bringen, es werden keine Schmerzmittel mitgegeben. Beim Tod von Angehörigen wird dies in der Regel auf dem Gang lapidar vermittelt, ein Abschiednehmen von der verstorbenen Person wird selten ermöglicht.

Kind bei ärztlicher Untersuchung | Fotografin: Alea Horst

Es sterben ständig geflüchtete Menschen auf Lesbos. Auch bei dem Brand sind mindestens drei Kinder und zwei Mütter verbrannt. Dies wird von den Behörden verheimlicht. Die Angehörigen werden schnell auf das Festland gebracht, damit sie nicht über das Sterben ihrer Angehörigen vor Ort berichten können. Bei den Bränden im Moria-Camp waren rechtsradikale Gruppen beteiligt. Kurz vor dem zweiten Brand kam die griechische Polizei um Mitternacht und befahl den Bewohnern, die Container sofort zu verlassen. Dreißig Minuten danach brannten die Container. Es kommt immer wieder zu rechtsradikalen gewalttätigen Übergriffen. Die Hilfsorganisation Eurorelief, hauptsächlich für die Organisation zuständig, verbindet Hilfe häufig mit einer christlich fundamentalistischen Missionierungsarbeit (Die Mutter-Hilfsorganisation ist in den USA und wird von den Amischen, einer täuferisch-protestantischen Glaubensgemeinschaft, geleitet). Medizinische Hilfsorganisationen stellen Rezepte und Verordnungen aus, die Menschen wissen nicht, wo sie dies holen können, wie sie dort hinkommen und wie sie das Medikament dann bezahlen sollen. Im neuen Moria-Camp, dem Kara-Tepe-II-Camp, fehlt es an Trinkwasser, Nahrung, sanitären Einrichtungen, genügend medizinischer Versorgung und an einem würdevollen und rezeptvollen Umgang mit den betroffenen Menschen. Ich beende jetzt diese Liste, obwohl ich sie noch weiterführen könnte, vielleicht sogar müsste. Das ist die Realität, die von griechischen Behörden vertuscht und verleugnet wird, und die ganz Europa nicht hören, sehen und wahrhaben möchte.

Meine Tagebucheintragung kurz vor dem Rückflug in eine andere Welt:

Es sollen jetzt schon 9000 Menschen im neuen Camp sein. Es fehlt aber noch an Trinkwasser, Essen, genügend Toiletten… Die medizinische Nothilfe auf den Straßen ist beendet. Ich werde wieder in die andere, privilegierte Welt, als Privilegierter fliegen. In der Hölle von Lesbos muss Abdulkarim bleiben. Der große Angst hat, denn im neuen Camp gibt es nur Schotterwege und auch keine Toilette, die er menschenwürdig benutzen kann. Dort bleibt Fatima mit ihrem autistischen, völlig überforderten Sohn Aliresa. Die junge Mutter, die vor zwei Tagen erfahren hat, dass ihr Bruder von den Taliban getötet wurde, genauso wie ihr Ehemann. Und die überlegt, ihr Leben im Meer zu beenden. Der junge Vater, der mir mit traurigen Augen berichtet, dass er seinen kleinen Sohn schlagen würde, weil er selbst so wütend und hilflos wäre. Er will dies nicht, denn er liebt seinen Sohn. Ob ich ihm irgendeine Tablette geben kann, dass er dies nicht mehr tut. Die im siebten Monat Schwangere, die seit dem Brand keine Kindsbewegungen mehr spürt. Das zehn Tage alte Baby, das eine Lungenentzündung hat. Der ältere Mann, dem die Polizei den linken Fuß durch einen Stockschlag gebrochen hat und der nicht ins Krankenhaus gebracht wurde. Die zahlreichen Kinder, die Skabies, Läuse und viele Wunden am Körper tragen. „Meine” Patienten, die mir vermitteln wenn ich ihnen sage, sie sollen dreimal täglich nach dem Essen eine Tablette einnehmen, dass sie höchstens einmal am Tag etwas zu essen bekommen. Die vielen erschöpften, irritierten, hoffnungslosen, suizidal gefährdeten Menschen. Die alte Dame, die ihre Blutdruck- und Blutzucker-Tabletten im Feuer verloren hat. Die junge Frau, die Angst vor den faschistisch-rassistischen gewalttätigen Übergriffen durch rechte Gruppen hat. Der kleine Junge, der schon lange kein Wort mehr spricht. Und mein zwölfjähriger afghanischer Dolmetscher, der schon sehr gut Englisch kann, mit dem Messi-Trikot vom FC Barcelona, der auf meine Frage, was er denn später einmal sein wolle, mit einem breiten Lächeln im Gesicht „Fußballprofi" sagt. Kinder sind unsere Hoffnung auf eine bessere Welt. Ich könnte diese menschlichen Schicksale noch hundertfach aus persönlichen Begegnungen erweitern, denn es geht um Menschen, nicht um Zahlen.

Fazit

Es waren so viele Kinder, die ich sah. Kinder mit inneren und äußeren Wunden. Verstört, irritiert, verängstigt und dann wieder hoffend und spielend. Eltern, die unter dem Leid ihrer Kinder hilflos selbst leidend und ohnmächtig in Trauer und Melancholie versinken. Schwangere, die aufgrund all der Ereignisse auf Lesbos plötzlich die Kindsbewegungen der noch Ungeborenen nicht mehr spürten. Neugeborene, die in eine Welt der Ignoranz durch die Wohlhabenden gelangt sind. Mütter, die mich mit fragenden Augen anschauten, wie lange dieses Leiden ihrer Kinder noch andauern werde. Väter, die in Scham versinken, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder beschützen können. Und nach all dem Erlebten muss ich heute die Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik zur Kenntnis nehmen. Geprägt von europäischem Nationalismus, geprägt von Rassismus, verhüllt durch nichtsagende angeblich staatspolitische Notwendigkeiten, und geprägt von der endgültigen Verabschiedung von dem Fundament der europäischen Identität, nämlich den Menschenrechten. Ich kann nicht verstehen, was Menschen mit so viel Macht an Ungerechtigkeiten beschließen. Ich kann nicht verstehen, weshalb angebotene Hilfe zur Aufnahme von geflüchteten Menschen verhindert wird. Ich sehe immer wieder die Augen, die Blicke der Kinder in all den Flüchtlingslagern, die Fragen: Warum lasst ihr das zu? Warum hilft uns niemand?

Gerhard Trabert ist vom Deutschen Hochschulverband (DHV) zum „Hochschullehrer des Jahres” ernannt worden

Wer ist Gerhard Trabert?

Der Mainzer Sozialmediziner Prof. Dr. Gerhard Trabert setzt sich seit mehr als drei Jahrzehnten für Menschen ein, die in Not geraten sind. Er ist Gründer der Vereine Armut und Gesundheit in Deutschland und Flüsterpost. Regelmäßig reist er als Arzt in Krisen- und Kriegsgebiete und hilft dort bei der Versorgung der Opfer und Leidenden, so auch in den Grenzregionen Türkei/Syrien, Rojava und Nordsyrien. Mit seinem „Arztmobil“, einer rollenden Ambulanz, behandelt er seit mittlerweile 26 Jahren wohnungslose Menschen auf den Straßen von Mainz. Für sein humanitäres Engagement hat Trabert zahlreiche Ehrungen erhalten, darunter das Bundesverdienstkreuz und die Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft. Sein unermüdlicher Einsatz gilt auch dem Ende der „Zwei-Klassen-Medizin“, Trabert macht sich für eine Bürgerversicherung stark und prangert Misstände in der Gesundheitspolitik sowie gesellschaftliche Unrechtsstrukturen an. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Fachartikel und Bücher rund um das Thema Armut und Gesundheit sowie von Kinderbüchern über Krebs. Seit 2009 hat er eine Professur für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden inne. Seine Erfahrungen beschreibt Trabert in Büchern wie „Gratwanderungen” und „Der Straßen-Doc”.